Die Wege der Gnade Gottes
von Naamah Kelman
"In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt"
ist ein Gebet, das im Grunde genommen die Sehnsucht von Menschen verschiedener
Religionen zum Ausdruck bringen könnte. Im folgenden Artikel denkt
Rabbinerin Naamah Kelman aus Jerusalem aus Sicht der jüdischen Tradition
über das Thema der bevorstehenden Neunten Vollversammlung des Ökumenischen
Rates der Kirchen im Februar 2006 in Porto Allegre nach.
Wir verlassen uns auf Gott, dass er uns die Kraft, die
Weisheit und den Mut schenkt, die Welt zu verändern. Wir bitten Gott,
dass er unsere Hoffnung erneuern und unseren Geist stärken möge,
damit wir seine Partner bei der Verwandlung der Welt sein können.
Wir suchen bei Gott Liebe und Trost, damit wir es noch einmal versuchen
können, wenn wir darin gescheitert sind, die Welt zu verändern.
Die drei monotheistischen Religionen - Judentum, Christentum,
Islam - glauben gemeinsam an einen Gott der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit.
Diese beiden Komponenten gehören zusammen. Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit
kann den Einzelnen heilen, aber sie stellt keine Beziehungen wieder her
und führt uns auch nicht dorthin, wo wir hingelangen müssen.
Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit kann vielleicht Unrecht wiedergutmachen,
gibt uns aber nicht die Kraft, füreinander einzustehen. Wir dienen
einem Gott, der uns antreiben, heilen, inspirieren und in die Pflicht
nehmen kann.
In der jüdischen Tradition werden wir von zwei zentralen
Pfeilern unseres Glaubens getragen: Schöpfung und Erlösung.
Schöpfung ist sowohl der anfängliche Akt der Erschaffung der
Welt als auch der fortwährende Gedanke der Erneuerung: Erneuerung
der Seele und Erneuerung der Welt. Erlösung ist der ursprüngliche
Akt des Exodus, der Befreiung aus der Sklaverei, und die fortwährende
Hoffnung auf eine erlöste Welt.
Gott ist die Quelle dieser verwandelnden Kräfte,
aber wir müssen Gottes Partner werden, um dafür zu sorgen, dass
die Kräfte der Erneuerung und der Erlösung in der Welt wirken.
Jede Woche am Sabbat werden diese beiden Kräfte zusammengebracht.
Gott hat uns das Gebot gegeben, zu ruhen - nicht zu entspannen -, damit
wir die nötige Energie sammeln können, um eine neue Woche zu
beginnen und die Kraft der Schöpfung und Erlösung in die Welt
zu tragen. Vielleicht können wir in dieser neuen Woche unsere Familie,
unsere Gemeinschaft und unsere nachbarschaftlichen Beziehungen heilen.
Oder besser noch, vielleicht können wir über diese familiären
Bezüge hinausgehen und uns dem Anderen zuwenden.
Hat es in der menschlichen Geschichte jemals eine Zeit
gegeben, in der die Menschen sich nicht nach Gottes Gnade gesehnt haben?
Sind wir auf diese Gnade heute noch genauso angewiesen wie eh und je?
Ja, das sind wir!
Die Ausmaße, die Ereignisse in der heutigen Welt
annehmen, sind zutiefst erschreckend. Globale Verbindungen haben die Welt
zu einem Dorf werden lassen. Die Technologie hat jedoch in noch nie da
gewesenem Maße Kräfte der Heilung wie auch der Zerstörung
freigesetzt. Es gelingt uns nicht, mit all den schrecklichen Katastrophen
fertig zu werden, mit denen die Menschheit konfrontiert ist. Wir sind
starr vor Angst. Zudem fühlen wir uns hilflos angesichts von Armut,
Krankheit, Gewalt und Korruption. Gottes Gnade aber kämpft gegen
die Verzweiflung!
Das Thema der Neunten Vollversammlung des Ökumenischen
Rates der Kirchen erinnert mich an jenes wunderbare jüdische Gleichnis,
in dem es heißt, dass wir es Gott gleichtun müssen. Sobald
die Rabbis das sagen, verschlägt ihr eigener Mut ihnen die Sprache.
Wie können wir Menschen wie Gott sein?
Ihre Antwort lautet: Genau wie Gott die Kranken besucht,
müssen auch wir die Kranken besuchen. Dies lernen wir aus 1. Mose
18, wo Gott "Abraham erscheint", kurz nachdem dieser beschnitten
worden ist. Daraus leiten die Rabbis ab, dass Gott Abraham, der sich von
der Beschneidung erholte, einen "Krankenbesuch" macht.
Die Rabbis suchen Beweise in der Schrift, dass Gott die
Hungrigen speist, die Nackten kleidet (Adam und Eva im Garten), die Trauernden
tröstet usw. und daher müssen wir Gottes Wege gehen. Dies sind
die Wege der Gnade Gottes.
Natürlich finden wir den machtvollsten Schriftbeweis
in 1. Mose 1,27. Dieser Text bringt ganz klar zum Ausdruck, dass wir zum
Bilde Gottes geschaffen sind, wir alle. Ich muss meinen Mitmenschen wie
Gottes Ebenbild auf Erden behandeln. Doch niemand kann das Monopol des
Leidens für sich beanspruchen, genauso wenig wie das Monopol der
Heiligkeit. Als Gottes Stellvertreter und Stellvertreterinnen auf dieser
herrlichen Erde reichen wir einander die Hand.
So wollen wir uns also denen zuwenden, die um uns herum
Schmerz und Leid tragen, und unsere Arbeit dann weiter ausdehnen. Gemäß
den Propheten gehört auch die Gerechtigkeit zu unserem Auftrag; ebenso
die Sorge für die Waisen, die Witwen und die Schwächsten in
unseren Gesellschaften. Lasst uns eine gerechte Welt aufbauen.
Unser Beten und Handeln ist auf Gott gerichtet, um die
Welt mit Gottes Gnade zu erfüllen. Lasst uns jeden Tag die Schöpfung
erneuern und die Erlösung jeden Tag ein Stück näher bringen.
(*) Naamah Kelman ist die erste Rabbinerin Israels. Sie
ist Leiterin der Abteilung für Bildungsinitiativen am Hebrew Union
College in Jerusalem und Ausschussmitglied der "Rabbiner für
Menschenrechte". Sie engagiert sich auch für religiösen
Pluralismus, jüdischen Feminismus, Frieden und interreligiöse
Arbeit.
Quelle: www.wcc-assembly.info
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