Die Juden und der Islam
von Frederek Musall

Die Juden zur Zeit Muhammads

Über das süd-arabische Judentum zur Zeit Muhammads liegen uns kaum gesicherte Kenntnisse vor. Als die wichtigsten jüdischen Siedlungszentren sind Taima, Medina und Haybar belegt. Ob aber beispielsweise in Mekka eine jüdische Gemeinde existiert hat, gilt zwar als wahrscheinlich, lässt sich in erster Linie jedoch nur der islamischen Traditionsliteratur entnehmen. Man geht im Allgemeinen davon aus, dass sich das Judentum auf der arabischen Halbinsel den Lebensgewohnheiten seiner Umwelt, soweit dies religiös zulässig war, weitgehend angeglichen hatte. Ob es sich dabei etwa um ein talmudisches (d. h. an den Autoritäten in Palästina oder Babylonien orientiertes) Judentum handelte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Dennoch ist anzunehmen, dass die jüdischen Gemeinden Süd-Arabiens die hebräische Bibel und die Mischna im vollen Umfang kannten. Zudem geht aus der islamischen Überlieferung hervor, dass die Gemeinden von Rabbinern geleitet wurden. Die Präsenz des Judentums spielte zweifelsohne eine wichtige Rolle bei der Verbreitung monotheistischen Gedankengutes in Arabien und damit in der Entstehung des Islams.

In Medina war zudem seit alters her eine zahlenmäßig große jüdische Gemeinschaft ansässig. Sie war - für die Region typisch - in mehrere Stämme gegliedert, von denen drei in der Frühphase des Islams eine besondere Rolle spielten. Diese jüdischen Stämme von Medina sind unter den Namen Banu Qainuqa', Banu Nadir und Banu Qurayza bekannt. Alle drei sollten später mit Muhammad in Konflikt geraten.

Denn Muhammad betrachtete sich als Prophet in der Nachfolge der Offenbarungsempfänger der Tora und des Evangeliums, wodurch folglich der Koran in der Kontinuität mit den früheren Offenbarungsschriften steht (Sure 6:92). Sein Hauptanliegen war anfangs weniger die Gründung einer neuen Religion als die Schaffung eines Buches, welches der Schrift der Juden und Christen entspricht und den Arabern in ihrer Sprache die ihnen bislang vorenthaltene Offenbarung nahe bringt. So war Muhammad auch davon vollkommen überzeugt, das gleiche zu predigen, was auch Juden und Christen lehrten. In seiner Heimatstadt Mekka warf man ihm sogar vor, von den Christen und Juden der Stadt bestochen worden zu sein.

Entsprechend erkennt der Islam große Teile jüdisch-christlichen Schriftgutes als Offenbarungen Allahs an: al-taurât (die Tora), al-zabûr (die Psalmen Davids) und al-indjîl (das Evangelium). Wie vergleichsweise für das rabbinische Judentum steht hierbei das Ideal der religiösen Einheit im Vordergrund, womit der Glaube an einen Gott, eine Urschrift, von der alle Offenbarungsschriften abstammen, sowie an einen Propheten, der als Verkünder dieser Botschaft gemeint ist. Die Einheit der Offenbarungen sieht der Islam durch die Vielheit der Offenbarungsschriften (d. h. Tora, Evangelium und Koran) nicht etwa gefährdet, sondern vielmehr aufgrund der inhaltlichen Identität nachdrücklich bestätigt. Nach der koranischen Erzählung existiert nur eine ewige Urschrift1 bei Allah, die sogenannten "wohlbewahrten Tafeln" (arab. al-lauh al-mahfuz) (Sure 85:22), die auch umm al-kitâb (deut. "Mutter des Buches") genannt werden (Sure 3:7; 13:39; 43:4). Auszüge dieser Urschrift wurden den verschiedenen Völkern (also den Schriftbesitzern) in ihren jeweiligen Sprachen als qur'ân adjami, d. h. als "fremdsprachige Rezitation" offenbart (Sure 41:44). Daraus lässt sich schließen, dass sich Muhammad durchaus bewusst gewesen sein muss, dass die heiligen Schriften der Juden und Christen in fremden Sprachen abgefasst waren. Beim Koran handelt es sich um die "arabische Rezitation", den qur'ân al-arabi, dieses himmlischen Originals (Sure 12:2; 20:113; 39:28; 41:3; 42:7; 43:3). An anderer Stelle wird in diesem Zusammenhang von hukm arabi (deut. "arabischer Entscheidung") gesprochen (Sure 13:37). So betont Muhammad, er habe den Koran in "deutlicher arabischer2 Sprache" erhalten und in der gleichen verkündet (Sure 16:103; 26:195; 46:12). Im Koran werden daher die Anhänger der älteren Offenbarungsreligionen mit dem Sammelnamen ahl al-kitâb (deut. "Völker des Buches") bezeichnet.

So enthält gemäß dem Koran die taurât auch eine Voraussage des Erscheinens des nabi al-ummi, eines 'heidnischen', d.h. in diesem Falle nicht-jüdischen Propheten, mit dem natürlich Muhammad gemeint sei (Sure 7:157).3 Dies soll die Einheit der Überlieferungskette der Offenbarung verdeutlichen, die mit Muhammad als "Siegel der Propheten" für abgeschlossen erklärt wird.

Zu Beginn seiner mekkanischen Phase (von etwa 610 bis 622) trat Muhammad als Vertreter des Eingottglaubens Abrahams, der Juden und der Christen auf. "Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift, es sei denn auf eine möglichst gute Art - mit der Ausnahme derer von ihnen, die Frevler sind! Und sagt: Wir glauben an das, was zu uns und was zu euch herabgesandt wurde. Unser und euer Gott ist einer, ihm sind wir ergeben." (Sure 29:45) D. h., dass Allah, der Gott der Juden und der Gott der Christen ein und dieselbe Gottheit sind. Folglich richtete Muhammad ein eindeutiges Einigungsangebot an Juden und Christen: "Oh, Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch: dass wir keinen anbeten als Allah und dass wir Ihm nichts zur Seite stellen und dass nicht die einen unter uns die anderen zu Herren nehmen statt Allah." (Sure 3:64) Auch betont er an anderer Stelle: "Euch euer Glaube und mir mein Glaube." (Sure 109:6) Es solle niemand gezwungen werden zu glauben: "In der Religion gibt es keinen Zwang." (Sure 2:256; d.h., man kann niemanden zum [rechten] Glauben zwingen.) Jeder Mensch ist also frei zu entscheiden, welcher Religion er angehören will: "Für jeden von euch haben wir ein (eigenes) Brauchtum und einen (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er wollte euch in dem, was er euch (d. h. das, was er jeder der verschiedenen Gruppen von der Offenbarung gegeben hat) gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten Dingen."(Sure 5:48)

Die drei Offenbarungsreligionen sind demnach gleichzustellen. Mögliche Streitpunkte zwischen ihnen solle man ruhen lassen. Denn Gott werde darüber am Jüngsten Tag entscheiden: "Diejenigen, die glauben (d. h. die Muslime), und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Säbier - die, die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu, und sie brauchen keine Angst zu haben, und sie werden nicht traurig sein." (Sure 2:62)

Erst nach der hidjra4 änderte sich Muhammads Einstellung gegenüber Juden und Christen. Aufgrund der für ihn deprimierenden Erfahrung, dass sich vor allem die Juden und Christen seiner Botschaft verschlossen und ihn nicht als Propheten akzeptieren wollten, vertrat er nun die Ansicht, dass die Schriftbesitzer - vor allem die Juden - ihre ursprünglich mit dem Koran übereinstimmenden Schriften in wesentlichen Teilen (welche im Falle der Christen die Klarheit des Monotheismus betrafen [Sure 5:17; 5:116-117]) gefälscht hätten (Sure 2:75; 4:46; 5:13-14; 5:41).

Dabei wird weniger die Gottesvorstellung Mohammeds der Grund gewesen sein, dass v. a. die Juden Medinas den Islam so entschieden ablehnten, sondern vielmehr ihr traditioneller Glaube, dass die biblische Offenbarung schon seit Jahrhunderten abgeschlossen sei. Es kam in der Folgezeit in Medina zu einer Reihe von Konflikten, die theologische5, aber wohl auch andere Ursachen hatten, und schließlich damit endeten, dass ein Teil der Juden aus der Stadt vertrieben wurde, während ein anderer Teil einem Massaker zum Opfer fiel, das Muhammad zwar nicht ausdrücklich anordnete, wohl aber billigte.

Der Glaube Abrahams

Muhammad bekannte sich zum Glauben Abrahams (Sure 3:68; vgl. auch Sure 16:123). Nach dem Koran ist Abraham das Vorbild aller Gläubigen (Sure 60:4; 2:124.). Er spricht sogar von den "Blättern Abrahams", nach denen offensichtlich bereits Abraham eine Offenbarungsschrift von Gott erhalten haben muss (Sure 87:18). Bewusst werden deshalb Parallelen zwischen dem Erzvater und dem Propheten Muhammad gezogen. Wie Abraham das Land seiner Vorfahren verließ und der Stammvater des jüdischen Volkes wurde, so verließ Muhammad die Stadt seiner Väter und seiner Familie und zog nach Medina. Mit der Berufung auf Abraham griff Muhammad auf eine Autorität zurück, die zeitlich vor Moses steht. Zugleich unterlief er dadurch die Argumente der Juden, für die Moses der Empfänger der taurât (Tora) und der Verkünder des jüdischen Religionsgesetzes ist (siehe Sure 7:142-145; vgl. dazu Exodus 19, 10 - 24, 18).

Daher kommt der Figur Abrahams eine besondere Rolle im Glauben der Muslime zu. Diese Rolle ändert sich im Verlaufe von Muhammads Verkündigungen. Denn in den früheren Suren des Korans, welche vorwiegend aus der zweiten mekkanischen Phase der Verkündigung stammen, gilt Abraham als der Gesandte Gottes, welcher den Auftrag erhalten hat, das Volk der Juden zu ermahnen und es an die Notwendigkeit der Verehrung des einen und einzigen Gottes zu erinnern. Doch später, in der medinischen Periode seiner Verkündigung, nachdem sich Muhammad von den Juden abgesetzt hatte, wird Abraham als der erste Muslim bezeichnet, welcher zusammen mit seinem Sohn Ismael das Heiligtum der Ka'aba in Mekka gegründet habe.

In diesem Zusammenhang schlug auch die anfängliche Anlehnung an jüdische Traditionen wie Gebetspraxis und Gebetsrichtung nach der Auswanderung nach Medina in ihr Gegenteil um. Interessant ist so zum Beispiel Muhammads Haltung in Bezug auf den Status von Jerusalem, was nicht zuletzt mit der bereits oben erwähnten Veränderung seiner Beziehung zu den Juden von Medina im Zusammenhang stehen mag. Zwar wird Jerusalem im Koran nicht ausdrücklich erwähnt; nach der islamischen Tradition wird aber die sogenannte masdjid al-aqsa (deut. "die fernste Moschee") auf Jerusalem bezogen (Sure 17:1). An die Stelle Jerusalems, das in Medina zunächst als Geste für die Juden zur Gebetsrichtung deklariert worden war, trat nun Mekka, wodurch die Stadt mit ihrem Heiligtum, der Ka'aba, zum Zentrum des Islams wurde (Sure 2:142-145). Mit der Erhebung Mekkas zur qibla (deut. "Gebetsrichtung") war die Trennung vom Judentum endgültig vollzogen.

Da die Gründung des sich in Mekka befindlichen Heiligtums der Ka'aba auf Abraham zurückgeführt wird (Sure 2:127-128; 3:95-97; 14: 35-41), beruft sich Muhammad damit auch auf den Glauben des Erzvaters. Dennoch hielten die Muslime auch nach der Änderung der Gebetsrichtung an dem besonderen Status Jerusalems fest. So gilt Jerusalem nach Mekka und Medina als das dritte große Heiligtum des Islams.

Der yaum al-djum'a (deut. "Tag der Versammlung")6 wurde ebenfalls erst nach der hidjra eingeführt, auch wenn die Muslime sich schon in Mekka zum gemeinsamen Gebet zusammenfanden. Er ist deutlich als Gegenstück zum jüdischen Schabbat und zum christlichen Sonntag zu verstehen. Denn wie sich die Christen von ihren jüdischen Vorläufern durch Verschiebung des Schabbats von Samstag auf den Sonntag distanzierten, so distanzierten sich die Muslime von beiden dadurch, indem sie den Freitag als "heiligen Tag" festsetzten. Interessanterweise wurde der Freitag in Medina nicht zuletzt deshalb als Versammlungstag gewählt, weil an diesem Tag auch der zentrale Markttag war. Ein weiterer Grund mag mit dem Umstand zusammenhängen, dass sich die große jüdische Gemeinde von Medina an diesem Tag mit den Notwendigkeiten für den Schabbat versorgte.

In den gleichen Zeitraum - und wohl auch aus denselben Gründen, nämlich der Abspaltung von den Juden - fällt wohl auch der Wandel der muslimischen Fastengewohnheiten. Diesen wurde ihr ursprünglich jüdischer Sinn genommen und ihnen eine islamische Motivation und Neuordnung gegeben (siehe hierzu Sure 2:185). Der 24-stündige Fastentag (nach dem Vorbild von Jom Kippur) wurde vom zehnten Tag des ersten Monats Muharram in ein tägliches Fasten, das von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang dauert und sich über den ganzen Monat Ramadan erstreckt, geändert. Auch erinnert der Gedanke, dass der Koran im Monat Ramadan offenbart wurde, an vergleichbare jüdische Vorstellungen über die Offenbarung der Gesetzestafeln.

Muslimische Polemiken im Mittelalter

In späteren Zeiten, während des Mittelalters, bestimmten andere Fragestellungen den theologischen Diskurs. Der mittelalterliche Islam war - wie die meisten historisch dominanten Kulturen auch - von seiner Überlegenheit und Autonomie überzeugt. Schließlich bot das prophetische Geschichtsbild des Islams, welchem zufolge die Sendung Muhammads das letzte Glied einer Kette von Offenbarungen darstellt, die Möglichkeit, sowohl Juden als auch Christen als Empfänger älterer und unvollendeter Versionen einer göttlichen Verkündigung zu betrachten, die allein die Muslime in letzter Vollkommenheit erhalten hatten. Folglich führten Kontakte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen nicht selten zu polemischen Kontroversen, welche für die junge, sich formierende islamische Theologie einen Stimulus zum rationalen Denken darstellte.

Diesbezüglich ist es nicht weiter verwunderlich, dass die muslimischen Polemiker den Juden nur wenig Aufmerksamkeit schenkten, stellten diese doch keine wirkliche Bedrohung für den Islam dar - weder politisch noch theologisch. So waren die Juden im Gegensatz zu den Christen nicht bestrebt zu missionieren und Proselyten zu machen. Auch sind trotz der harschen Kritik Muhammads und seiner Verdammungen der Juden in Koran und Hadîth antijüdische Polemiken vergleichsweise selten geblieben. Meistens sind es die zum Islam konvertierten Juden, welche polemische Schriften gegen ihre ehemaligen Glaubensbrüder verfassten, teils als Rechtfertigung ihrer Konversion gegenüber ihren neuen als auch ihren ehemaligen Glaubensgenossen, teils um Argumente zur Verwendung gegen die Juden zu liefern. Oft werden Juden in den polemischen Schriften der Muslime als warnendes Beispiel für die Gläubigen porträtiert, als eine Gruppe von Menschen, die von Gott für ihren Unglauben sowohl im Diesseits als auch im Jenseits bestraft werden.7

Im Zentrum der theologischen Auseinandersetzung mit dem Judentum findet sich das Problem der Abrogation (arab. naskh) der früheren göttlichen Offenbarung, welcher nach muslimischer Meinung nicht etwa eine Änderung des göttlichen Willens (arab. badâ') zu Grunde liegt.8

Mittelalterliche muslimische Polemiken zeichnen sich oft durch rudimentäre, wenn auch nicht immer genaue, historische, theologische und liturgische Kenntnisse ihrer Autoren aus. So auch bei dem aus Córdoba stammenden Theologen Ibn Hazm (993-1064), dessen Kitâb al-Fisal (deut. "Buch der Unterscheidungen"), eine der grundlegenden islamischen Häresiographien, sich ausführlich mit den religiösen Ideen der Juden und der Christen beschäftigt. Ibn Hazm bemühte sich, die religiösen Standpunkte der von ihm behandelten muslimischen und nicht-muslimischen Glaubensgruppen zunächst objektiv darzustellen, bevor er seine eigenen, kritischen Anmerkungen hinzufügte.

Dass die islamischen Gelehrten durchaus mit der jüdischen Offenbarungslehre vertraut waren, geht aus den zahlreichen Werken hervor, in denen die Gelehrten die taurât zu verschiedenen Zwecken heranzogen. Ibn Ishâk (gest. 767) hat in seinem Werk Maghâzi (deut. "Eroberungen", in Bezug auf die Eroberungszüge Muhammads) genealogische und chronologische Angaben über die biblische Zeit aufgenommen. In seinem Kitâb al-tidjân fi muluk Himyâr (deut. "Buch der gekrönten Könige von Himyar") gibt Ibn Hishâm (gest. 828) die biblischen Namen sowohl in ihrer hebräischen als auch in ihrer syrischen Form wieder. Ibn Kutaiba (gest. 889) hat - laut seinen eigenen Angaben - in seinem Kitâb al-Ma'ârif (deut. "Buch des Wissens") die islamische Überlieferung anhand des biblischen Textes kontrolliert. Er führt hier zahlreiche wörtliche Zitate aus dem Buch Genesis an, während in seinen anderen Werken diese Zitate nicht immer dem biblischen Wortlaut entsprechen. Andere wörtliche Zitate finden sich u.a. in den Werken von Ibn Kutaibas Zeitgenossen, dem zum Islam konvertierten Juden 'Ali ben Rabban al-Tabarî, oder in den Risâla (deut. "Sendschreiben") des 'Abd al-Masîh ben Ishâk al-Kindî.

Während der biblische Text Konvertiten wie 'Ali ben Rabban frei zugänglich war, so mussten Muslime diesen entweder mündlich von Juden oder Christen lernen oder auf eine arabische Übersetzung der Bibel zurückgreifen. Es gilt als unwahrscheinlich, dass muslimische Gelehrte des Hebräischen kundig waren.

Eine der frühesten bekannten Übersetzungen der taurât geht auf Ahmad ben 'Abd Allâh ben Salâm al-Indjîlî zurück.9 Drei weitere wichtige Übersetzungen des biblischen Textes waren die des Nestorianers Hunain Ibn Ishâk (gest. 873), die auf der Septurginta beruht, sowie die direkt aus dem Hebräischen übertragenen der beiden Juden Abû Kathîr (gest. 933) und Sa'îd ben Yûsuf al-Faiyûmî (882-942), der besser unter seinem hebräischen Namen Sa'adiah Ga'on bekannt ist.

Niedergang und neue Realitäten

Der mit dem Aufstieg des Osmanischen Reiches (ab dem 15. Jahrhundert) verbundene Untergang der islamischen Blütezeit führte letztlich zu einer Stagnation des freien und dynamischen theologischen Denkens im islamischen Kulturraum. Denn die massiven politischen, religiösen und kulturellen Umwälzungen der Folgezeit (wie nicht zuletzt auch die Machtübernahme durch nicht-arabische Muslime) ließen der intellektuellen Freiheit (vor allem die Anwendung des erneuernden Prinzips des idjtihâd, deut. "Befleißigung") keinen Raum zur Entfaltung, wodurch schließlich eine erstarrte traditionalistische Methode der Überlieferung an Bedeutung gewann.

Eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Judentum und seiner Offenbarungsschrift, wie sie noch beispielsweise unter Ibn Hazm stattgefunden hatte, wich einer historisch-soziologischen Bestandsaufnahme seitens des osmanischen Herrschaftsapparats. Den Juden als religiöse Minderheit kam kaum Bedeutung zu. Zeugten die "akademischen" Polemiken davon, dass man das Judentum als Religion ernst nahm, so beschränkte sich die Beschäftigung der Osmanen mit den Juden im Wesentlichen auf die ökonomischen Errungenschaften dieser Minderheit.

Seit der Gründung des Staates Israel haben sich die Polemiken gegen die Juden geändert. Es wird nicht mehr auf rein theologischer Basis argumentiert, um die Vorzüge des Islams gegenüber dem Judentum darzustellen. Im Gegensatz zu der Mehrzahl der vormodernen Diskussionen über Juden, die von einer historischen Konzeption des Judentums ausgingen und in einer akademischen Weise diskutiert wurden, wurde der neuen Situation in einer nicht gekannten praktischen und emotionalen Weise begegnet. Das neue Phänomen einer nationalen jüdischen Bewegung und die Realität eines jüdischen Staates rekapitulierten das rebellische Verhalten der biblischen Israeliten und der medinischen Juden zur Zeit Muhammads. Die traditionellen Geschichten wurden interpretative Modelle, durch die die gegenwärtigen Ereignisse eine Bedeutung erhielten. So zum Beispiel wurde Muhammads Auseinandersetzung mit den angeblichen Machenschaften der medinischen Juden abstrahiert und in den nationalen Charakter Israels hineingelesen.

Durch Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart schuf man sich ein neues Bewusstsein der Gegenwart: ahistorische, universelle Geschichten wurden auf historische Ereignisse angewandt, aus alten Mythen wurden neuen Realitäten.

Dr. Frederek Musall hat in den Fächern Jüdische Studien, Islamwissenschaft und Religionswissenschaft promoviert und ist Assistent für Jüdische Religionspädagogik an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg

Weiterführende Literatur in deutscher Sprache:

- Busse, Heribert: Die Theologischen Beziehungen des Islams zum Judentum und Christentum - Grundlagen des Dialogs im Koran und die gegenwärtige Situation, Darmstadt 1991.
- Jaroš, Karl: Wurzeln des Glaubens - Zur Entwicklung der Gottesvorstellung von Juden, Christen und Muslimen, Mainz 1995.
- Khoury, Raif Georges: Der Islam - Religion, Kultur, Geschichte, Mannheim 1993.
- Lewis, Bernhard: Die Juden in der islamischen Welt, München 1987.
- Watt, Montgomery W. & Welch, Alford T.: Der Islam I: Muhammad und die Frühzeit - Islamisches Recht - Religiöses Leben, Stuttgart 1980.
- Watt, Montgomery W. & Marmura, Michael: Der Islam II: Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, Stuttgart 1985.


Fußnoten:

1) Auch im rabbinischen Judentum findet sich die Idee einer Präexistenz der Offenbarungsschrift. Nach der rabbinischen Tradition gehen sieben Dinge der Erschaffung der Welt voraus, nämlich die Tora, die Buße, das Paradies, die Gehenna, der Thron der Herrlichkeit, der Tempel und der Name der Messias (bT Pes 54a, bT Ned 39b). Nach GenR 1,1 nur die Tora und der Thron der Herrlichkeit. Durch die Tora ist die Welt erschaffen; ohne sie gäbe es keine moralische Ordnung. Die Tora ist aber wiederum von Gott erschaffen; es handelt sich also nicht um eine ewige Präexistenz (Sir 24, 1ff.; bT Pes 68b).
2) Nach muslimischer Tradition ist der arabische Koran das offenbarte Wort Gottes, woraus folgt, dass Arabisch die Sprache Gottes sei. Es gehört zu den Grundsätzen des Islams, dass der Koran unnachahmlich ist (Sure 17:88). Dies bedeutet streng genommen, dass er auch nicht in andere Sprachen übersetzt werden kann. Heute existierende Übersetzungen werden von daher vielmehr als Koran-Kommentare betrachtet.
3) Moses Maimonides (1135/8-1204) bezieht sich indirekt in seinem Sendschreiben nach Jemen (hebr. Iggeret Teiman) auf diese Stelle. Er weißt darauf hin, dass der Schriftvers: "Also sprach der Herr: Vom Sinai her ist er gekommen und er ist aufgeleuchtet vom Seïr...", nicht auf Muhammad angewendet werden könne, wie die Muslime behaupteten, da der Satz sich auf die Vergangenheit (mi-sinai ba v'zarah mi-se'ir ...) und nicht auf die Zukunft beziehe.
4) D.h. der "Auswanderung" Muhammads von Mekka nach Medina im Jahre 622. Daher hat die hidjra einen besonderen Stellenwert in der islamischen Geschichte. Durch sie vollzieht sich der Bruch Muhammads mit dem Klan und der Familie, und die daraus resultierende Schaffung einer neuen Gemeinschaft, der umma. Vor der hidjra lag die Zeit der Organisation des Stammes, nach ihr beginnt die Ära des Islams, der gleichermaßen eine religiöse Botschaft wie auch die Organisation der Gemeinschaft der Gläubigen umfasst. Mit ihr beginnt auch die islamische Zeitrechnung. Die Muslime haben aber außer ihrer eigenen Zeitrechnung nach der hidjra noch verschiedene andere Zeitrechnungen gekannt. So die Schöpfungs- oder Weltära (arab. tarikh al-'alam), die in islamischen Quellen als eine sehr ungenaue Berechnung bezeichnet wird, welche bei den Juden, Christen und Zoroastern sehr große Unterschiede aufweise (so wirft der muslimische Astrologe Al-Bîrûnî den Juden vor, die Zahl der Jahre seit der Schöpfung derart vermindert zu haben, dass der Zeitpunkt der Geburt Jesu nicht mehr mit den Messiasverheißungen im Einklang stehe).
5) In der Sure 2:1-100 sind die theologischen Auseinandersetzungen Muhammads mit den Juden Medinas summarisch überliefert.
6) Siehe Sure 62:9-11; der muslimische Freitag ist im Gegensatz zum christlichen Sonntag oder jüdischen Schabbat kein Ruhetag im Sinne des 7. Tages, an welchem Gott ruhte, da dies nach der islamischen Theologie gegen die Allmacht Allahs sprechen würde. Dennoch gilt er als Feiertag.
7) Diese Polemiken stützen sich im Wesentlichen auf die Suren 3:112; 7:152 und 2:90.
8) Dieses Problem stellt sich auch im innerkoranischen Kontext, d. h. bezüglich der Deutung einiger Stellen des Koran oder des Hadîth, die nahelegen, dass andere Stellen des koranischen Textes verändert, aufgehoben oder gar gestrichen werden können. Der Koran verweist aber auf das bessere Wissen Gottes um seine eigene Offenbarung (Sure 87:7; 16:101), auf seine freie Verfügungswelt über die Offenbarung und den Ausdruck seines souveränen Willens (Sure 17:86).
9) Sie wird auf die Regierungszeit Harun ar-Raschids datiert, d.h. um 786-809 n.Z.

aus: Jüdisches Leben in Bayern, Mitteilungsblatt des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, September 2005

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