Die Juden und der Islam
von Frederek Musall
Die Juden zur Zeit Muhammads
Über das süd-arabische Judentum zur Zeit Muhammads
liegen uns kaum gesicherte Kenntnisse vor. Als die wichtigsten jüdischen
Siedlungszentren sind Taima, Medina und Haybar belegt. Ob aber beispielsweise
in Mekka eine jüdische Gemeinde existiert hat, gilt zwar als wahrscheinlich,
lässt sich in erster Linie jedoch nur der islamischen Traditionsliteratur
entnehmen. Man geht im Allgemeinen davon aus, dass sich das Judentum auf
der arabischen Halbinsel den Lebensgewohnheiten seiner Umwelt, soweit
dies religiös zulässig war, weitgehend angeglichen hatte. Ob
es sich dabei etwa um ein talmudisches (d. h. an den Autoritäten
in Palästina oder Babylonien orientiertes) Judentum handelte, lässt
sich nicht mit Gewissheit sagen. Dennoch ist anzunehmen, dass die jüdischen
Gemeinden Süd-Arabiens die hebräische Bibel und die Mischna
im vollen Umfang kannten. Zudem geht aus der islamischen Überlieferung
hervor, dass die Gemeinden von Rabbinern geleitet wurden. Die Präsenz
des Judentums spielte zweifelsohne eine wichtige Rolle bei der Verbreitung
monotheistischen Gedankengutes in Arabien und damit in der Entstehung
des Islams.
In Medina war zudem seit alters her eine zahlenmäßig
große jüdische Gemeinschaft ansässig. Sie war - für
die Region typisch - in mehrere Stämme gegliedert, von denen drei
in der Frühphase des Islams eine besondere Rolle spielten. Diese
jüdischen Stämme von Medina sind unter den Namen Banu Qainuqa',
Banu Nadir und Banu Qurayza bekannt. Alle drei sollten später mit
Muhammad in Konflikt geraten.
Denn Muhammad betrachtete sich als Prophet in der Nachfolge
der Offenbarungsempfänger der Tora und des Evangeliums, wodurch folglich
der Koran in der Kontinuität mit den früheren Offenbarungsschriften
steht (Sure 6:92). Sein Hauptanliegen war anfangs weniger die Gründung
einer neuen Religion als die Schaffung eines Buches, welches der Schrift
der Juden und Christen entspricht und den Arabern in ihrer Sprache die
ihnen bislang vorenthaltene Offenbarung nahe bringt. So war Muhammad auch
davon vollkommen überzeugt, das gleiche zu predigen, was auch Juden
und Christen lehrten. In seiner Heimatstadt Mekka warf man ihm sogar vor,
von den Christen und Juden der Stadt bestochen worden zu sein.
Entsprechend erkennt der Islam große Teile jüdisch-christlichen
Schriftgutes als Offenbarungen Allahs an: al-taurât (die Tora),
al-zabûr (die Psalmen Davids) und al-indjîl (das Evangelium).
Wie vergleichsweise für das rabbinische Judentum steht hierbei das
Ideal der religiösen Einheit im Vordergrund, womit der Glaube an
einen Gott, eine Urschrift, von der alle Offenbarungsschriften abstammen,
sowie an einen Propheten, der als Verkünder dieser Botschaft gemeint
ist. Die Einheit der Offenbarungen sieht der Islam durch die Vielheit
der Offenbarungsschriften (d. h. Tora, Evangelium und Koran) nicht etwa
gefährdet, sondern vielmehr aufgrund der inhaltlichen Identität
nachdrücklich bestätigt. Nach der koranischen Erzählung
existiert nur eine ewige Urschrift1 bei Allah, die sogenannten "wohlbewahrten
Tafeln" (arab. al-lauh al-mahfuz) (Sure 85:22), die auch umm al-kitâb
(deut. "Mutter des Buches") genannt werden (Sure 3:7; 13:39;
43:4). Auszüge dieser Urschrift wurden den verschiedenen Völkern
(also den Schriftbesitzern) in ihren jeweiligen Sprachen als qur'ân
adjami, d. h. als "fremdsprachige Rezitation" offenbart (Sure
41:44). Daraus lässt sich schließen, dass sich Muhammad durchaus
bewusst gewesen sein muss, dass die heiligen Schriften der Juden und Christen
in fremden Sprachen abgefasst waren. Beim Koran handelt es sich um die
"arabische Rezitation", den qur'ân al-arabi, dieses himmlischen
Originals (Sure 12:2; 20:113; 39:28; 41:3; 42:7; 43:3). An anderer Stelle
wird in diesem Zusammenhang von hukm arabi (deut. "arabischer Entscheidung")
gesprochen (Sure 13:37). So betont Muhammad, er habe den Koran in "deutlicher
arabischer2 Sprache" erhalten und in der gleichen verkündet
(Sure 16:103; 26:195; 46:12). Im Koran werden daher die Anhänger
der älteren Offenbarungsreligionen mit dem Sammelnamen ahl al-kitâb
(deut. "Völker des Buches") bezeichnet.
So enthält gemäß dem Koran die taurât
auch eine Voraussage des Erscheinens des nabi al-ummi, eines 'heidnischen',
d.h. in diesem Falle nicht-jüdischen Propheten, mit dem natürlich
Muhammad gemeint sei (Sure 7:157).3 Dies soll die Einheit der Überlieferungskette
der Offenbarung verdeutlichen, die mit Muhammad als "Siegel der Propheten"
für abgeschlossen erklärt wird.
Zu Beginn seiner mekkanischen Phase (von etwa 610 bis
622) trat Muhammad als Vertreter des Eingottglaubens Abrahams, der Juden
und der Christen auf. "Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift,
es sei denn auf eine möglichst gute Art - mit der Ausnahme derer
von ihnen, die Frevler sind! Und sagt: Wir glauben an das, was zu uns
und was zu euch herabgesandt wurde. Unser und euer Gott ist einer, ihm
sind wir ergeben." (Sure 29:45) D. h., dass Allah, der Gott der Juden
und der Gott der Christen ein und dieselbe Gottheit sind. Folglich richtete
Muhammad ein eindeutiges Einigungsangebot an Juden und Christen: "Oh,
Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen
uns und euch: dass wir keinen anbeten als Allah und dass wir Ihm nichts
zur Seite stellen und dass nicht die einen unter uns die anderen zu Herren
nehmen statt Allah." (Sure 3:64) Auch betont er an anderer Stelle:
"Euch euer Glaube und mir mein Glaube." (Sure 109:6) Es solle
niemand gezwungen werden zu glauben: "In der Religion gibt es keinen
Zwang." (Sure 2:256; d.h., man kann niemanden zum [rechten] Glauben
zwingen.) Jeder Mensch ist also frei zu entscheiden, welcher Religion
er angehören will: "Für jeden von euch haben wir ein (eigenes)
Brauchtum und einen (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Gott gewollt hätte,
hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er wollte
euch in dem, was er euch (d. h. das, was er jeder der verschiedenen Gruppen
von der Offenbarung gegeben hat) gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert
nun nach den guten Dingen."(Sure 5:48)
Die drei Offenbarungsreligionen sind demnach gleichzustellen.
Mögliche Streitpunkte zwischen ihnen solle man ruhen lassen. Denn
Gott werde darüber am Jüngsten Tag entscheiden: "Diejenigen,
die glauben (d. h. die Muslime), und diejenigen, die dem Judentum angehören,
und die Christen und die Säbier - die, die an Gott und den Jüngsten
Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn
zu, und sie brauchen keine Angst zu haben, und sie werden nicht traurig
sein." (Sure 2:62)
Erst nach der hidjra4 änderte sich Muhammads Einstellung
gegenüber Juden und Christen. Aufgrund der für ihn deprimierenden
Erfahrung, dass sich vor allem die Juden und Christen seiner Botschaft
verschlossen und ihn nicht als Propheten akzeptieren wollten, vertrat
er nun die Ansicht, dass die Schriftbesitzer - vor allem die Juden - ihre
ursprünglich mit dem Koran übereinstimmenden Schriften in wesentlichen
Teilen (welche im Falle der Christen die Klarheit des Monotheismus betrafen
[Sure 5:17; 5:116-117]) gefälscht hätten (Sure 2:75; 4:46; 5:13-14;
5:41).
Dabei wird weniger die Gottesvorstellung Mohammeds der
Grund gewesen sein, dass v. a. die Juden Medinas den Islam so entschieden
ablehnten, sondern vielmehr ihr traditioneller Glaube, dass die biblische
Offenbarung schon seit Jahrhunderten abgeschlossen sei. Es kam in der
Folgezeit in Medina zu einer Reihe von Konflikten, die theologische5,
aber wohl auch andere Ursachen hatten, und schließlich damit endeten,
dass ein Teil der Juden aus der Stadt vertrieben wurde, während ein
anderer Teil einem Massaker zum Opfer fiel, das Muhammad zwar nicht ausdrücklich
anordnete, wohl aber billigte.
Der Glaube Abrahams
Muhammad bekannte sich zum Glauben Abrahams (Sure 3:68;
vgl. auch Sure 16:123). Nach dem Koran ist Abraham das Vorbild aller Gläubigen
(Sure 60:4; 2:124.). Er spricht sogar von den "Blättern Abrahams",
nach denen offensichtlich bereits Abraham eine Offenbarungsschrift von
Gott erhalten haben muss (Sure 87:18). Bewusst werden deshalb Parallelen
zwischen dem Erzvater und dem Propheten Muhammad gezogen. Wie Abraham
das Land seiner Vorfahren verließ und der Stammvater des jüdischen
Volkes wurde, so verließ Muhammad die Stadt seiner Väter und
seiner Familie und zog nach Medina. Mit der Berufung auf Abraham griff
Muhammad auf eine Autorität zurück, die zeitlich vor Moses steht.
Zugleich unterlief er dadurch die Argumente der Juden, für die Moses
der Empfänger der taurât (Tora) und der Verkünder des
jüdischen Religionsgesetzes ist (siehe Sure 7:142-145; vgl. dazu
Exodus 19, 10 - 24, 18).
Daher kommt der Figur Abrahams eine besondere Rolle im
Glauben der Muslime zu. Diese Rolle ändert sich im Verlaufe von Muhammads
Verkündigungen. Denn in den früheren Suren des Korans, welche
vorwiegend aus der zweiten mekkanischen Phase der Verkündigung stammen,
gilt Abraham als der Gesandte Gottes, welcher den Auftrag erhalten hat,
das Volk der Juden zu ermahnen und es an die Notwendigkeit der Verehrung
des einen und einzigen Gottes zu erinnern. Doch später, in der medinischen
Periode seiner Verkündigung, nachdem sich Muhammad von den Juden
abgesetzt hatte, wird Abraham als der erste Muslim bezeichnet, welcher
zusammen mit seinem Sohn Ismael das Heiligtum der Ka'aba in Mekka gegründet
habe.
In diesem Zusammenhang schlug auch die anfängliche
Anlehnung an jüdische Traditionen wie Gebetspraxis und Gebetsrichtung
nach der Auswanderung nach Medina in ihr Gegenteil um. Interessant ist
so zum Beispiel Muhammads Haltung in Bezug auf den Status von Jerusalem,
was nicht zuletzt mit der bereits oben erwähnten Veränderung
seiner Beziehung zu den Juden von Medina im Zusammenhang stehen mag. Zwar
wird Jerusalem im Koran nicht ausdrücklich erwähnt; nach der
islamischen Tradition wird aber die sogenannte masdjid al-aqsa (deut.
"die fernste Moschee") auf Jerusalem bezogen (Sure 17:1). An
die Stelle Jerusalems, das in Medina zunächst als Geste für
die Juden zur Gebetsrichtung deklariert worden war, trat nun Mekka, wodurch
die Stadt mit ihrem Heiligtum, der Ka'aba, zum Zentrum des Islams wurde
(Sure 2:142-145). Mit der Erhebung Mekkas zur qibla (deut. "Gebetsrichtung")
war die Trennung vom Judentum endgültig vollzogen.
Da die Gründung des sich in Mekka befindlichen Heiligtums
der Ka'aba auf Abraham zurückgeführt wird (Sure 2:127-128; 3:95-97;
14: 35-41), beruft sich Muhammad damit auch auf den Glauben des Erzvaters.
Dennoch hielten die Muslime auch nach der Änderung der Gebetsrichtung
an dem besonderen Status Jerusalems fest. So gilt Jerusalem nach Mekka
und Medina als das dritte große Heiligtum des Islams.
Der yaum al-djum'a (deut. "Tag der Versammlung")6
wurde ebenfalls erst nach der hidjra eingeführt, auch wenn die Muslime
sich schon in Mekka zum gemeinsamen Gebet zusammenfanden. Er ist deutlich
als Gegenstück zum jüdischen Schabbat und zum christlichen Sonntag
zu verstehen. Denn wie sich die Christen von ihren jüdischen Vorläufern
durch Verschiebung des Schabbats von Samstag auf den Sonntag distanzierten,
so distanzierten sich die Muslime von beiden dadurch, indem sie den Freitag
als "heiligen Tag" festsetzten. Interessanterweise wurde der
Freitag in Medina nicht zuletzt deshalb als Versammlungstag gewählt,
weil an diesem Tag auch der zentrale Markttag war. Ein weiterer Grund
mag mit dem Umstand zusammenhängen, dass sich die große jüdische
Gemeinde von Medina an diesem Tag mit den Notwendigkeiten für den
Schabbat versorgte.
In den gleichen Zeitraum - und wohl auch aus denselben
Gründen, nämlich der Abspaltung von den Juden - fällt wohl
auch der Wandel der muslimischen Fastengewohnheiten. Diesen wurde ihr
ursprünglich jüdischer Sinn genommen und ihnen eine islamische
Motivation und Neuordnung gegeben (siehe hierzu Sure 2:185). Der 24-stündige
Fastentag (nach dem Vorbild von Jom Kippur) wurde vom zehnten Tag des
ersten Monats Muharram in ein tägliches Fasten, das von Sonnenaufgang
bis Sonnenuntergang dauert und sich über den ganzen Monat Ramadan
erstreckt, geändert. Auch erinnert der Gedanke, dass der Koran im
Monat Ramadan offenbart wurde, an vergleichbare jüdische Vorstellungen
über die Offenbarung der Gesetzestafeln.
Muslimische Polemiken im Mittelalter
In späteren Zeiten, während des Mittelalters,
bestimmten andere Fragestellungen den theologischen Diskurs. Der mittelalterliche
Islam war - wie die meisten historisch dominanten Kulturen auch - von
seiner Überlegenheit und Autonomie überzeugt. Schließlich
bot das prophetische Geschichtsbild des Islams, welchem zufolge die Sendung
Muhammads das letzte Glied einer Kette von Offenbarungen darstellt, die
Möglichkeit, sowohl Juden als auch Christen als Empfänger älterer
und unvollendeter Versionen einer göttlichen Verkündigung zu
betrachten, die allein die Muslime in letzter Vollkommenheit erhalten
hatten. Folglich führten Kontakte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen
nicht selten zu polemischen Kontroversen, welche für die junge, sich
formierende islamische Theologie einen Stimulus zum rationalen Denken
darstellte.
Diesbezüglich ist es nicht weiter verwunderlich,
dass die muslimischen Polemiker den Juden nur wenig Aufmerksamkeit schenkten,
stellten diese doch keine wirkliche Bedrohung für den Islam dar -
weder politisch noch theologisch. So waren die Juden im Gegensatz zu den
Christen nicht bestrebt zu missionieren und Proselyten zu machen. Auch
sind trotz der harschen Kritik Muhammads und seiner Verdammungen der Juden
in Koran und Hadîth antijüdische Polemiken vergleichsweise
selten geblieben. Meistens sind es die zum Islam konvertierten Juden,
welche polemische Schriften gegen ihre ehemaligen Glaubensbrüder
verfassten, teils als Rechtfertigung ihrer Konversion gegenüber ihren
neuen als auch ihren ehemaligen Glaubensgenossen, teils um Argumente zur
Verwendung gegen die Juden zu liefern. Oft werden Juden in den polemischen
Schriften der Muslime als warnendes Beispiel für die Gläubigen
porträtiert, als eine Gruppe von Menschen, die von Gott für
ihren Unglauben sowohl im Diesseits als auch im Jenseits bestraft werden.7
Im Zentrum der theologischen Auseinandersetzung mit dem
Judentum findet sich das Problem der Abrogation (arab. naskh) der früheren
göttlichen Offenbarung, welcher nach muslimischer Meinung nicht etwa
eine Änderung des göttlichen Willens (arab. badâ') zu
Grunde liegt.8
Mittelalterliche muslimische Polemiken zeichnen sich oft
durch rudimentäre, wenn auch nicht immer genaue, historische, theologische
und liturgische Kenntnisse ihrer Autoren aus. So auch bei dem aus Córdoba
stammenden Theologen Ibn Hazm (993-1064), dessen Kitâb al-Fisal
(deut. "Buch der Unterscheidungen"), eine der grundlegenden
islamischen Häresiographien, sich ausführlich mit den religiösen
Ideen der Juden und der Christen beschäftigt. Ibn Hazm bemühte
sich, die religiösen Standpunkte der von ihm behandelten muslimischen
und nicht-muslimischen Glaubensgruppen zunächst objektiv darzustellen,
bevor er seine eigenen, kritischen Anmerkungen hinzufügte.
Dass die islamischen Gelehrten durchaus mit der jüdischen
Offenbarungslehre vertraut waren, geht aus den zahlreichen Werken hervor,
in denen die Gelehrten die taurât zu verschiedenen Zwecken heranzogen.
Ibn Ishâk (gest. 767) hat in seinem Werk Maghâzi (deut. "Eroberungen",
in Bezug auf die Eroberungszüge Muhammads) genealogische und chronologische
Angaben über die biblische Zeit aufgenommen. In seinem Kitâb
al-tidjân fi muluk Himyâr (deut. "Buch der gekrönten
Könige von Himyar") gibt Ibn Hishâm (gest. 828) die biblischen
Namen sowohl in ihrer hebräischen als auch in ihrer syrischen Form
wieder. Ibn Kutaiba (gest. 889) hat - laut seinen eigenen Angaben - in
seinem Kitâb al-Ma'ârif (deut. "Buch des Wissens")
die islamische Überlieferung anhand des biblischen Textes kontrolliert.
Er führt hier zahlreiche wörtliche Zitate aus dem Buch Genesis
an, während in seinen anderen Werken diese Zitate nicht immer dem
biblischen Wortlaut entsprechen. Andere wörtliche Zitate finden sich
u.a. in den Werken von Ibn Kutaibas Zeitgenossen, dem zum Islam konvertierten
Juden 'Ali ben Rabban al-Tabarî, oder in den Risâla (deut.
"Sendschreiben") des 'Abd al-Masîh ben Ishâk al-Kindî.
Während der biblische Text Konvertiten wie 'Ali ben
Rabban frei zugänglich war, so mussten Muslime diesen entweder mündlich
von Juden oder Christen lernen oder auf eine arabische Übersetzung
der Bibel zurückgreifen. Es gilt als unwahrscheinlich, dass muslimische
Gelehrte des Hebräischen kundig waren.
Eine der frühesten bekannten Übersetzungen der
taurât geht auf Ahmad ben 'Abd Allâh ben Salâm al-Indjîlî
zurück.9 Drei weitere wichtige Übersetzungen des biblischen
Textes waren die des Nestorianers Hunain Ibn Ishâk (gest. 873),
die auf der Septurginta beruht, sowie die direkt aus dem Hebräischen
übertragenen der beiden Juden Abû Kathîr (gest. 933)
und Sa'îd ben Yûsuf al-Faiyûmî (882-942), der
besser unter seinem hebräischen Namen Sa'adiah Ga'on bekannt ist.
Niedergang und neue Realitäten
Der mit dem Aufstieg des Osmanischen Reiches (ab dem 15.
Jahrhundert) verbundene Untergang der islamischen Blütezeit führte
letztlich zu einer Stagnation des freien und dynamischen theologischen
Denkens im islamischen Kulturraum. Denn die massiven politischen, religiösen
und kulturellen Umwälzungen der Folgezeit (wie nicht zuletzt auch
die Machtübernahme durch nicht-arabische Muslime) ließen der
intellektuellen Freiheit (vor allem die Anwendung des erneuernden Prinzips
des idjtihâd, deut. "Befleißigung") keinen Raum
zur Entfaltung, wodurch schließlich eine erstarrte traditionalistische
Methode der Überlieferung an Bedeutung gewann.
Eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Judentum
und seiner Offenbarungsschrift, wie sie noch beispielsweise unter Ibn
Hazm stattgefunden hatte, wich einer historisch-soziologischen Bestandsaufnahme
seitens des osmanischen Herrschaftsapparats. Den Juden als religiöse
Minderheit kam kaum Bedeutung zu. Zeugten die "akademischen"
Polemiken davon, dass man das Judentum als Religion ernst nahm, so beschränkte
sich die Beschäftigung der Osmanen mit den Juden im Wesentlichen
auf die ökonomischen Errungenschaften dieser Minderheit.
Seit der Gründung des Staates Israel haben sich die
Polemiken gegen die Juden geändert. Es wird nicht mehr auf rein theologischer
Basis argumentiert, um die Vorzüge des Islams gegenüber dem
Judentum darzustellen. Im Gegensatz zu der Mehrzahl der vormodernen Diskussionen
über Juden, die von einer historischen Konzeption des Judentums ausgingen
und in einer akademischen Weise diskutiert wurden, wurde der neuen Situation
in einer nicht gekannten praktischen und emotionalen Weise begegnet. Das
neue Phänomen einer nationalen jüdischen Bewegung und die Realität
eines jüdischen Staates rekapitulierten das rebellische Verhalten
der biblischen Israeliten und der medinischen Juden zur Zeit Muhammads.
Die traditionellen Geschichten wurden interpretative Modelle, durch die
die gegenwärtigen Ereignisse eine Bedeutung erhielten. So zum Beispiel
wurde Muhammads Auseinandersetzung mit den angeblichen Machenschaften
der medinischen Juden abstrahiert und in den nationalen Charakter Israels
hineingelesen.
Durch Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart schuf
man sich ein neues Bewusstsein der Gegenwart: ahistorische, universelle
Geschichten wurden auf historische Ereignisse angewandt, aus alten Mythen
wurden neuen Realitäten.
Dr. Frederek Musall hat in den Fächern Jüdische
Studien, Islamwissenschaft und Religionswissenschaft promoviert und ist
Assistent für Jüdische Religionspädagogik an der Hochschule
für Jüdische Studien in Heidelberg
Weiterführende Literatur in deutscher Sprache:
- Busse, Heribert: Die Theologischen Beziehungen des Islams
zum Judentum und Christentum - Grundlagen des Dialogs im Koran und die
gegenwärtige Situation, Darmstadt 1991.
- Jaro, Karl: Wurzeln des Glaubens - Zur Entwicklung der Gottesvorstellung
von Juden, Christen und Muslimen, Mainz 1995.
- Khoury, Raif Georges: Der Islam - Religion, Kultur, Geschichte, Mannheim
1993.
- Lewis, Bernhard: Die Juden in der islamischen Welt, München 1987.
- Watt, Montgomery W. & Welch, Alford T.: Der Islam I: Muhammad und
die Frühzeit - Islamisches Recht - Religiöses Leben, Stuttgart
1980.
- Watt, Montgomery W. & Marmura, Michael: Der Islam II: Politische
Entwicklungen und theologische Konzepte, Stuttgart 1985.
Fußnoten:
1) Auch im rabbinischen Judentum findet sich die Idee
einer Präexistenz der Offenbarungsschrift. Nach der rabbinischen
Tradition gehen sieben Dinge der Erschaffung der Welt voraus, nämlich
die Tora, die Buße, das Paradies, die Gehenna, der Thron der Herrlichkeit,
der Tempel und der Name der Messias (bT Pes 54a, bT Ned 39b). Nach GenR
1,1 nur die Tora und der Thron der Herrlichkeit. Durch die Tora ist die
Welt erschaffen; ohne sie gäbe es keine moralische Ordnung. Die Tora
ist aber wiederum von Gott erschaffen; es handelt sich also nicht um eine
ewige Präexistenz (Sir 24, 1ff.; bT Pes 68b).
2) Nach muslimischer Tradition ist der arabische Koran das offenbarte
Wort Gottes, woraus folgt, dass Arabisch die Sprache Gottes sei. Es gehört
zu den Grundsätzen des Islams, dass der Koran unnachahmlich ist (Sure
17:88). Dies bedeutet streng genommen, dass er auch nicht in andere Sprachen
übersetzt werden kann. Heute existierende Übersetzungen werden
von daher vielmehr als Koran-Kommentare betrachtet.
3) Moses Maimonides (1135/8-1204) bezieht sich indirekt in seinem Sendschreiben
nach Jemen (hebr. Iggeret Teiman) auf diese Stelle. Er weißt darauf
hin, dass der Schriftvers: "Also sprach der Herr: Vom Sinai her ist
er gekommen und er ist aufgeleuchtet vom Seïr...", nicht auf
Muhammad angewendet werden könne, wie die Muslime behaupteten, da
der Satz sich auf die Vergangenheit (mi-sinai ba v'zarah mi-se'ir ...)
und nicht auf die Zukunft beziehe.
4) D.h. der "Auswanderung" Muhammads von Mekka nach Medina im
Jahre 622. Daher hat die hidjra einen besonderen Stellenwert in der islamischen
Geschichte. Durch sie vollzieht sich der Bruch Muhammads mit dem Klan
und der Familie, und die daraus resultierende Schaffung einer neuen Gemeinschaft,
der umma. Vor der hidjra lag die Zeit der Organisation des Stammes, nach
ihr beginnt die Ära des Islams, der gleichermaßen eine religiöse
Botschaft wie auch die Organisation der Gemeinschaft der Gläubigen
umfasst. Mit ihr beginnt auch die islamische Zeitrechnung. Die Muslime
haben aber außer ihrer eigenen Zeitrechnung nach der hidjra noch
verschiedene andere Zeitrechnungen gekannt. So die Schöpfungs- oder
Weltära (arab. tarikh al-'alam), die in islamischen Quellen als eine
sehr ungenaue Berechnung bezeichnet wird, welche bei den Juden, Christen
und Zoroastern sehr große Unterschiede aufweise (so wirft der muslimische
Astrologe Al-Bîrûnî den Juden vor, die Zahl der Jahre
seit der Schöpfung derart vermindert zu haben, dass der Zeitpunkt
der Geburt Jesu nicht mehr mit den Messiasverheißungen im Einklang
stehe).
5) In der Sure 2:1-100 sind die theologischen Auseinandersetzungen Muhammads
mit den Juden Medinas summarisch überliefert.
6) Siehe Sure 62:9-11; der muslimische Freitag ist im Gegensatz zum christlichen
Sonntag oder jüdischen Schabbat kein Ruhetag im Sinne des 7. Tages,
an welchem Gott ruhte, da dies nach der islamischen Theologie gegen die
Allmacht Allahs sprechen würde. Dennoch gilt er als Feiertag.
7) Diese Polemiken stützen sich im Wesentlichen auf die Suren 3:112;
7:152 und 2:90.
8) Dieses Problem stellt sich auch im innerkoranischen Kontext, d. h.
bezüglich der Deutung einiger Stellen des Koran oder des Hadîth,
die nahelegen, dass andere Stellen des koranischen Textes verändert,
aufgehoben oder gar gestrichen werden können. Der Koran verweist
aber auf das bessere Wissen Gottes um seine eigene Offenbarung (Sure 87:7;
16:101), auf seine freie Verfügungswelt über die Offenbarung
und den Ausdruck seines souveränen Willens (Sure 17:86).
9) Sie wird auf die Regierungszeit Harun ar-Raschids datiert, d.h. um
786-809 n.Z.
aus: Jüdisches Leben in Bayern, Mitteilungsblatt
des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, September
2005
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