Ausgerechnet Deutschland
Osteuropas Juden wandern inzwischen lieber in die Bundesrepublik ein als
ins Gelobte Land
von Antje Hildebrandt
Der Unterschied ist gar nicht so groß, trotzdem
ist es für viele Zionisten unvorstellbar: Im vergangenen Jahr sind
20 000 Juden aus ehemaligen GUS-Staaten nach Deutschland ausgewandert
- aber nur 11 000 kamen ins Gelobte Land.
Ausgerechnet Deutschland. Land der Täter. Wiege der
nationalsozialistischen Diktatur, die sechs Millionen Juden das Leben
gekostet hat. 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist das Land
zum beliebtesten Einwanderungsziel für Juden geworden. Seit Anfang
der neunziger Jahre erleben die jüdischen Gemeinden hier zu Lande
einen beispiellosen Aufschwung.
Seither haben sich 187 000 Juden aus Osteuropa in Deutschland
niedergelassen. Die jüdischen Gemeinden, anfangs noch erfreut über
den unverhofften Nachwuchs, halfen den Zuwanderern, in der neuen Heimat
Fuß zu fassen. Im Gegenzug stieg die Zahl ihrer Mitglieder rapide
an. Sie verdreifachte sich von 30 000 auf 105 000.
Das war immer noch wenig im Vergleich zu den über
eine Million Immigranten, nach Israel und den 500 000 Einwanderern, die
seit dem Zweiten Weltkrieg in die USA einwanderten. Doch mit dem Ausbruch
der zweiten Intifada begannen sich die regionalen Gewichte beinahe unmerklich
zu verschieben. 2002 registrierten die deutschen Einwanderungsbehörden
20 000 Neuzugänge aus der ehemaligen Sowjetunion, 1000 mehr als die
für Immigration nach Israel zuständige Jewish Agency.
In den folgenden Jahren ging die Schere zwischen beiden
Ländern noch weiter auseinander. Dafür gab es eine ganze Reihe
von Ursachen. Der palästinensische Terror lähmte Israels Wirtschaft.
Hinzu kam der Crash der so genannten New Economy. Er traf vor allem die
High-Tech-Region zwischen Haifa und Tel Aviv. Ende der neunziger Jahre
hatte sie sich zu einer der drei wichtigsten Gründerregionen der
Welt entwickelt. Vor allem Techniker und Ingenieure aus Osteuropa lockte
die Aussicht auf einen gut dotierten Job oder Kapital für die Gründung
eines eigenen Start-up-Unternehmens ins israelische Silicon Valley. Als
sich die Investoren zurückzogen, brach der Markt jedoch komplett
zusammen.
Die USA, bis dato das zweitgrößte Aufnahmeland
für jüdische Zuwanderer, verloren als alternatives Ziel an Bedeutung,
seit die US-Regierung die Zahl der jüdischen Zuwanderer aus Osteuropa
Ende der achtziger Jahre auf 5000 pro Jahr limitiert hatte. Statt des
Fliegers nach New York nahmen viele daraufhin lieber den Bus nach Berlin.
Deutschlands Aktien stiegen. Inzwischen ist die Bundesrepublik
als Aufnahmeland für osteuropäische Juden seit dem Zweiten Weltkrieg
weltweit an die dritte Stelle vorgerückt. Dass in diesem Staat niemand
durch die engen Maschen des sozialen Netzes rutscht, schien sich bis zum
Ural herumgesprochen zu haben.
1991 hatte die Regierung Kohl das Tor für Kontingentflüchtlinge
aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion weit geöffnet. Wer belegen
konnte, dass er wenigstens von einem jüdischen Elternteil abstammte,
konnte ungehindert einreisen. Dieses Angebot nutzten auch Antragsteller,
die nach orthodoxem Verständnis keine Juden sind, da sie nur einen
jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter als Elternteil nachweisen
konnten. Auch der Handel mit gefälschten jüdischen Pässen
boomte. So schätzt der Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums für
Europäisch-Jüdische Studien an der Universität Potsdam,
Julius Schoeps, dass sich 30 bis 40 Prozent der neuen Gemeindemitglieder
aus den ehemaligen GUS-Staaten ihre Visa erschlichen haben.
Solche Fakten und Zahlen bergen Sprengkraft. Ohnehin hat
sich das Verhältnis zwischen alteingesessenen Gemeindemitgliedern
und Zuwanderern zusehends verschlechtert. Die Toleranzgrenze in den jüdischen
Gemeinden, so scheint es, ist in dem Maße gesunken, wie der Zustrom
aus Osteuropa anhielt.
Ein Konflikt bahnte sich auch auf internationalem Parkett
an. Verärgert verfolgten Israels Politiker, wie es jüdische
Auswanderer aus ehemaligen GUS-Staaten immer häufiger in den sicheren
Hafen der Bundesrepublik zog.
Als dann noch durchsickerte, dass etwa 50 000 osteuropäische
Juden nach ihrer Einwanderung nach Israel in die ehemaligen GUS-Staaten
zurückgekehrt sein sollen, um dort im zweiten Anlauf einen Ausreiseantrag
nach Deutschland zu stellen, zog der israelische Premier Ariel Scharon
die Notbremse.
Der Sog nach Deutschland traf seine Regierung an einer
empfindlichen Stelle: Eine kontinuierliche Einwanderung ist nötig,
um den Anteil der israelischen Bevölkerung über 80 Prozent zu
halten. Wenn nicht jährlich 40 000 Juden einwandern, so die offizielle
Berechnung, verkleinert sich der jüdische Anteil - gemessen an der
ungleich höheren Geburtenrate der arabischen Bevölkerung. Der
daraus resultierende demographische Knick, befürchtet Scharon, könnte
irgendwann auch die politischen Gewichte verschieben.
Nicht ohne politische Hintergedanken hatte der ehemalige
israelische Staatspräsident Ezer Weizman schon 1996 verkündet:
"Der Platz für Juden ist Israel. Nur dort können sie jüdisches
Leben leben." Acht Jahre später sannen Politiker hektisch auf
eine Strategie, um die Auswanderer nach Israel zurückzubringen. Gesandte
von Premier Scharon trafen sich mit Bundesinnenminister Otto Schily und
Vertretern des Zentralrats der Juden, der politischen Dachorganisation
der 85 jüdischen Gemeinden in Deutschland.
Auf israelischen Druck hin drängte die Bundesregierung
auf eine radikale Lösung: Künftig sollte nur noch einreisen
dürfen, wer höchstens 45 Jahre alt ist, deutsch spricht, keine
staatliche Stütze bezieht und den Nachweis erbringt, dass ihn eine
jüdische Gemeinde aufnimmt. Während der Innenministerkonferenz
der Länder im Juni dieses Jahres verständigten sich beide Seiten
schließlich auf einen Kompromiss.
Der Zentralrat willigte ein, die Zuwanderung osteuropäischer
Juden stärker als bisher zu kontrollieren. Er setzte aber Härtefallregelungen
bei Familienzusammenführungen sowie für die noch lebenden Opfer
der NS-Diktatur durch. Die Reaktionen auf das Ergebnis fielen erwartungsgemäß
unterschiedlich aus. Während der Präsident des Zentralrats,
Paul Spiegel, von einem fairen Kompromiss spricht, versteht der erste
Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Berlin, Albert Meyer, das
Ergebnis nur als "Minimallösung". Er schätzt, dass
von den 25 000 Einreiseanträgen, die nach dem neuen Gesetz geprüft
werden, nur noch jeder sechste genehmigt wird. Meyers Stellvertreter,
der russischstämmige Journalist Arkadi Schneiderman, findet die Regelung
deshalb auch "skandalös".
In den gegensätzlichen Kommentaren spiegelt sich
der Riss wieder, der die jüdische Gemeinde in Berlin teilt. Von ihren
knapp 12 000 Mitgliedern sind zwei Drittel Zuwanderer. Nach offiziellen
Angaben beziehen 80 Prozent von ihnen staatliche Unterstützung. Diese
soziale Schieflage stellt auch die Gemeinde vor ein Problem: Nur noch
18 Prozent ihrer Mitglieder zahlen Steuern. Im jährlichen Etat der
Gemeinde über 25 Millionen Euro klaffte zuletzt eine Deckungslücke
über 2,4 Millionen Euro. Die strengeren Regeln für die Zuwanderung
osteuropäischer Juden kommen vielen alteingesessenen Mitgliedern
da wie gerufen.
Schon sieht sich der erste Vorsitzende genötigt,
zwischen den Fronten zu vermitteln. Albert Meyer sagt: "Die, die
heute im Westen leben, sollten nicht vergessen, dass sie selber einmal
aus dem Osten gekommen sind."
Frankfurter Rundschau, 28.9.2005
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