Völlig unorthodox
Der Schriftsteller Wladimir Kaminer hat seine jüdischen Wurzeln gekappt
von Antje Hildebrandt
Sein neues Leben beginnt mit einem Elfmeter. Es ist der
8. Juli 1990, in Rom steht die deutsche Nationalelf im Finale gegen Argentinien.
Fünf Minuten vor Ende verwandelt Andy Brehme einen Strafstoß
in einen Treffer. Deutschland wird Fußballweltmeister. Tooor.
Wenn Wladimir Kaminer erzählt, wie er den 8. Juli
1990 erlebt hat, läuft ein Film ab. Er erzählt eine Geschichte,
die wohl nur jemandem zustoßen kann, den ein Dramaturgiestudium
aufs Leben im Exil vorbereitet hat. Man sieht einen jungen Russen mit
Reisetasche die Treppe vom Bahnsteig im Ostbahnhof herunterlaufen.
Er weiß nicht, wer Andy Brehme ist. Die Fußball-WM
ist völlig an ihm vorbeigegangen. Er hat andere Sorgen. Es ist sein
erster Tag in Berlin. Er spricht kein Wort deutsch. Gerade ist sein Zug
aus Moskau eingerollt. Am Ostbahnhof erlebt er einen scheinbar triumphalen
Empfang. Wildfremde Männer umarmen ihn. Sie tragen bunte Schals,
mitten im Sommer. Sie schwenken rot-schwarz-gelbe Flaggen und singen "Olé,
Olé, Olé". Und ehe sich der junge Mann versieht, drückt
ihm einer eine Dose Hansapils in die Hand. Heute sagt Kaminer: "Ich
dachte, wenn das jeden Tag so lustig zugeht, habe ich eine gute Wahl getroffen."
Sein erster Eindruck sollte ihn nur geringfügig täuschen.
Nach 15 Jahren in Deutschland ist der Moskauer angekommen, als Autor amüsanter
Kurzgeschichten, Kolumnist, DJ und Partymacher ("Russendisko")
hat er es zum Popstar gebracht.
In Talkshows wird der 38-Jährige als Vorzeige-Russe
herumgereicht. Dass er jüdische Wurzeln hat, ist dagegen kaum bekannt.
Er selber redet nicht gerne darüber. Was soll er auch sagen. Dass
der Glaube seinem Vater, einem jüdischen Ingenieur, den Zugang zur
kommunistischen Partei versperrt hat? Dass er deshalb nie befördert
wurde?
Eine Synagoge hat Kaminer junior nie von innen gesehen.
Zum Chanukka-Fest bekam er manchmal Geschenke, warum, darüber wurde
zu Hause nicht gesprochen. Er habe auch nie danach gefragt, räumt
er ein. "Jüdischsein war keine Frage der Religion, sondern eine
der Nationalität." Er habe sie sich nicht aussuchen können,
sie sei ihm gewissermaßen in den Pass gestempelt worden. Hier zu
Lande hat ihm dieser Pass Türen geöffnet. Kaminer kam 1990 als
Student nach Berlin, ein Jahr, bevor die erste jüdische Flüchtlingswelle
aus Osteuropa nach Deutschland schwappte. In Moskau habe er sich plötzlich
alleine gefühlt, sagt er heute. Kaum sei der Eiserne Vorhang gefallen,
hätten sich seine Freunde in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Nix
wie weg.
Er selbst nahm den Zug nach Ostberlin. "Es war eine
spontane Entscheidung", schreibt er in seinem ersten Roman, "Russendisko",
"außerdem war die Emigration nach Deutschland viel leichter
als nach Amerika. Die Fahrkarte kostete nur 96 Euro, und für Ostberlin
brauchte man kein Visum."
In seinen Büchern macht sich der Schriftsteller gerne
über deutsche Behörden lustig, über Paragraphenhuber und
Ordnungsfanatiker. Dafür lieben ihn seine Fans. Für diesen gnadenlosen
Blick auf vermeintlich typisch deutsche Schwächen. Fragt man den
Privatmann nach seinen Erfahrungen mit dem Staat, schlägt er ganz
andere Töne an.
Es klingt nach einem Loblied auf das soziale Netz. Es
fing ihn auf, nach seinem viel versprechenden Empfang am Ostbahnhof, im
Juli 1990. Der Staat, sagt Kaminer, habe ihm damals nicht nur erstklassige
Deutschkurse an der Humboldt-Universität finanziert, er habe ihm
auch Sozialhilfe gezahlt und mit einer ABM-Stelle als Theatermacher auf
die Beine geholfen. Alles Gründe dafür, dass er seinen jüdischen
Pass nach 14 Jahren gegen einen deutschen eingetauscht hat.
Sein neues Zuhause, das ist die Multi-Kulti-Szene am Prenzlauer
Berg. Dort lebt er, der ehemalige Hausbesetzer, heute ganz bürgerlich
mit seiner Frau Olga und den beiden Kindern. Wladimir Kaminer sagt: "Ich
bin ein deutscher Schriftsteller."
Mit diesem Bekenntnis hat er sich nicht nur Freunde gemacht.
In der Jüdischen Gemeinde von Berlin gibt es Mitglieder, die ihm
diesen Schritt verübeln. Es sind Menschen, deren Biographien vom
Holocaust überschattet wurden. Die den Massenmord im "Dritten
Reich" entweder selbst überlebt haben oder von Überlebenden
abstammen.
Sie sagen, ihr Glaube sei ein way of life. Den könne
man nicht abstreifen wie einen Pullover, der einem nicht mehr gefalle.
Einer versteigt sich sogar zu der Aussage, mit einem Palästinenser
verbinde ihn mehr als mit Wladimir Kaminer. Der sei ein Verräter.
Ihren Namen wollen diese Menschen lieber nicht in der
Zeitung lesen. Nur hinter vorgehaltener Hand machen sie gegen die Zuwanderer
aus Osteuropa Front. Stellvertretend für diese Gruppe, so scheint
es, muss Wladimir Kaminer als Sündenbock herhalten. Er ist jung,
erfolgreich - und wenn er an jemanden glaubt, dann an sich selbst. Dieses
Bewusstsein hat ihm geholfen, seinen Ball alleine ins Tor zu schießen,
ohne Steilvorlage der Gemeinde. Völlig unorthodox, wenn man so will.
Eine solche Karriere wirft Fragen auf. Wenn dieser Mann,
wie er selbst sagt, keinen Rabbi braucht, um Gott zu konsultieren, warum
ist er dann nach Deutschland gekommen? Verhöhnt er mit seinem hedonistischen
way of life nicht alle die, die sich redlich mühen, die Erinnerung
an den Holocaust im kollektiven Gedächtnis zu bewahren? Solche Fragen
berühren das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinde.
Die Stimmung ist gespannt, manche sagen, zum Zerreißen.
Die Zuwanderer, anfangs noch als menschliche Bereicherung begrüßt,
werden immer häufiger als Klotz am Bein empfunden. Unter den Alteingesessenen
gibt es Mitglieder, die sagen, die Russen nähmen die Dienstleistungen
der Gemeinde in Anspruch, sie machten aber keine Anstalten, sich zu integrieren.
Sie pfiffen auf die jüdische Religion.
Wladimir Kaminer hat daraus nie einen Hehl gemacht. Von
seinen russischen Landsleuten, die er 1990 in einem Wohnheim für
Ausländer in Berlin-Marzahn kennengelernt habe, hätten viele
eine neue Heimat in der jüdischen Gemeinde gefunden, erinnert er
sich: "Mit Jobs im Büro fing es an." Überaus freundlich
seien sie in der Gemeinde aufgenommen worden. Der damalige erste Vorsitzende,
Heinz Galinski, habe sie sogar samstags zu sich nach Hause eingeladen.
Wodka und selbstgebackene Kekse habe es gegeben - und manchmal auch 100
Mark.
Kaminer sagt, er habe diese Einladungen nie angenommen.
Der Apparat der Gemeinde sei ihm zu bürokratisch erschienen. Und
eine Ersatzpartei habe er, der Freigeist, nicht gebraucht. In seinem Roman
"Russendisko" liest sich das erwartungsgemäß lakonischer:
"Bei einer solchen Beziehung wird irgendwann eine Gegenleistung fällig.
Ich blieb samstags im Heim, röstete Esskastanien im Gasherd und spielte
Karten mit den Rentnern."
Frankfurter Rundschau, 28.9.2005
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