Kardinal Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutsche Bischofskonferenz
Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl
Kardinal Lehmann, zum 40. Jahrestag der Erklärung "Nostra Aetate"
des Zweiten Vatikanischen Konzils am 28. Oktober 2005
1. Ein neues Verhältnis zu den Religionen
Heute vor 40 Jahren, am 28. Oktober 1965, verabschiedete das Zweite
Vatikanische Konzil in Rom die "Erklärung über das Verhältnis
der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen". Sie wird oft nach
den Anfangsworten "Nostra Aetate" genannt. In dieser Erklärung
äußert sich die katholische Kirche erstmals umfassender in
ihrer Geschichte positiv zu den anderen Religionen und vor allem zum Judentum.
Das Konzil weiß, dass diese Religionen sich den gleichen Fragen
nach den "ungelösten Rätseln" des Lebens wie die Kirche
stellen: "Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens?
Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen
Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das
Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist
jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen
und wohin wir gehen?" (Art. 1). Das Konzil erkennt an, dass es in
diesen Religionen Antworten gibt, die auch die katholische Kirche bejaht.
Seitdem hat sich im Verhältnis der Kirche zu den Religionen viel
verändert. Sowohl in Äußerungen des Lehramtes wie in Aktivitäten
der Gemeinden wurden positive Akzente gesetzt. Es zeigt sich, dass die
Kirche und die Religionen voneinander lernen können.
Dies ist besonders aktuell im Blick auf den Islam (vgl.
Art. 3). Er hat in den letzten vierzig Jahren weltweit und in unserem
Land an Bedeutung gewonnen. In unseren Tagen läuft er Gefahr, auf
Terrorismus und Fundamentalismus festgelegt zu werden. Demgegenüber
sieht das Konzil im Islam eine Religion, in der die Menschen zu dem Einen
Gott beten und wichtige religiöse Pflichten erfüllen. Auf diese
Weise können in der Beurteilung des Islam und der Muslime gefährliche
Einseitigkeiten vermieden werden.
2. Die besondere Beziehung der Kirche zu den Juden
Am ausführlichsten äußert sich das Konzil zu den
Juden (vgl. Art. 4) - und das nicht ohne Grund. Es macht deutlich, dass
das Verhältnis der Kirche zu den Juden anders ist als zum Islam,
Hinduismus und Buddhismus (vgl. Art. 2). Denn die Kirche hat ihre Wurzeln
im Judentum und ist mit dem Judentum bleibend innerlich verbunden wie
mit keiner anderen Religion.
"Nostra Aetate" stellte fest, dass die Kirche
- sobald sie über sich nachdenkt - auf ihr untrennbares Band zum
Judentum stößt. Damit war ein Weg beschritten, auf dem die
Kirche in den vergangenen 40 Jahren entschieden weiterging. In der Praxis
wurde bewusst, wie groß die Vorurteile gegenüber Jüdinnen
und Juden waren, wie gering dagegen die Kenntnis ihrer Tradition und die
Zahl direkter Begegnungen. Zahlreiche Initiativen suchten hier erfolgreich
nach Abhilfe. In der christlichen Theologie entdeckte man, wie viele der
althergebrachten Begriffe und Argumente ausdrücklich oder implizit
Judenfeindschaft nahe legen konnten oder den Vorwand dafür abgegeben
haben. Die Suche nach einem Christusbekenntnis, das nach Möglichkeit
von solchen Vorstellungen frei ist, hält an. Sie ist getragen von
einer Grundeinsicht des Paulus, auf die auch "Nostra Aetate"
zurückgreift: Wenn Christen die Treue Gottes zu seinem auserwählten
Volk bestreiten, zerstören sie die Grundlage ihres eigenen Glaubens,
der auf die Treue des Vaters Jesu Christi, des Gottes Israels baut (vgl.
die Rolle von Röm 11 in Art. 4).
Deshalb hat die Kirche auch über ihre lange vertretene
Überzeugung selbstkritisch nachgedacht, Juden müssten, um das
Heil erlangen zu können, getauft werden. Es wurde zunehmend bewusst,
dass Mission als Ruf zur Umkehr vom Götzendienst zum lebendigen und
wahren Gott (1 Thess 1,9) nicht auf Juden angewandt werden kann. Hierin
gründet das Faktum, dass es heute keine judenmissionarischen Aktivitäten
der katholischen Kirche mehr gibt. Zwischen der Kirche und dem jüdischen
Volk geht es um die Begegnung "auf der Ebene ihrer je eigenen religiösen
Identität" (Papst Johannes Paul II. am 12. März 1979).
Einzelne Konversionen, die auf Grund einer sehr persönlichen Entscheidung
erfolgen, sind darum nicht ausgeschlossen.
3. Neue Lesarten der Bibel
Aus dem vertieften Verständnis von "Nostra Aetate"
ergab sich auch eine neue Lesart der beiden Teile der christlichen Bibel,
wie insbesondere das Dokument "Das jüdische Volk und seine Heilige
Schrift in der christlichen Bibel" der Päpstlichen Bibelkommission
aus dem Jahr 2001 herausstellt (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls
152). Lange Zeit galt die negative oder kritische Zeichnung von Juden
in neutestamentlichen Schriften als eine Legitimation für ein verzerrtes
Bild vom Judentum, das sich in der Geschichte des Christentums unheilvoll
ausgewirkt hat. Sie wurde einer differenzierten Betrachtung unterzogen
und in den historischen Entstehungskontext eingeordnet. Von besonderer
Bedeutung für die religiöse Verhältnisbestimmung zwischen
Judentum und Christentum ist es, wenn im gleichen Dokument der zweifache
Ausgang des Alten Testaments herausgestellt wird, also die je eigenständige,
aber in unterschiedliche Lebenszusammenhänge eingebundene und von
daher je für sich berechtigte Lesart alttestamentlicher Traditionen
in Judentum und Christentum: "Christen können und müssen
zugeben, dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise
darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift
der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise,
die sich parallel dazu entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt
der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist.
So ist die eine nicht auf die andere rückführbar."
4. Das Engagement der Päpste
Schon Papst Johannes XXIII. hatte die Erneuerung des Verhältnisses
der Kirche zum Judentum angestoßen. Für Johannes Paul II. wurde
sie zu einer zentralen Aufgabe seines Pontifikats. Zu seiner Israelsicht
gehören Aussagen wie: Der Bund Gottes mit Israel ist nie gekündigt
worden. Das jüdische Volk ist Erbe jener Erwählung, der Gott
treu ist. Die Tatsache, dass Jesus Jude war und sein Milieu die jüdische
Welt, ist nicht ein einfacher kultureller Zufall. Wer diese Bindung lösen
und durch eine andere religiöse Tradition ersetzen wollte, würde
die Identität der Person Jesu Christi zerstören. Die jüdische
Religion ist für die Kirche nicht etwas Äußerliches, sondern
gehört in gewisser Weise zum Inneren der christlichen Religion. Der
Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und die Menschheit.
Von besonderer Wirkung in der Weltöffentlichkeit
waren die großen Gesten und Akte, in denen Papst Johannes Paul II.
seine theologische Vision zum Ausdruck brachte: sein historischer Besuch
der römischen Synagoge vom 13. April 1986 oder der Abschluss des
Grundlagenvertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Staat Israel vom
30. Dezember 1993 oder als Höhepunkt des Großen Jahrs 2000
die Reise vom 21. bis 26. März 2000 nach Israel mit dem Besuch der
Holocaustgedenkstätte Jad WaSchem und der Westmauer in Jerusalem,
wo er mit der Hinterlegung einer Vergebungsbitte die Wertschätzung
des Judentums und seine Anteilnahme am jüdischen Leiden bekräftigte.
Papst Benedikt XVI. hat zu Beginn seines Pontifikates und insbesondere
bei seinem Besuch der jüdischen Gemeinde und Synagoge Köln vom
19. August 2005 versichert, den Weg zur Verbesserung der Beziehungen und
der Freundschaft mit dem jüdischen Volk weiterzuführen.
5. Aufnahme in Kirche und Judentum
Bischofskonferenzen, Bischöfe und Synoden haben zentrale Aspekte
der Konzilserklärung aufgegriffen und weitere Akzente hinzugefügt.
So hat die Deutsche Bischofskonferenz eine grundlegende "Erklärung
über das Verhältnis der Kirche zum Judentum" am 28. April
1980 veröffentlicht. Besonders in ihren Stellungnahmen zum 50. Jahrestag
der Novemberpogrome 1938 und der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz
1945 hat sie der schweren Last der Geschichte unseres Landes und der Kirche
gedacht. Der Rückblick auf die damaligen Geschehnisse und das Verhalten
der Christen und Kirche erinnerte die Bischöfe daran, "dass
die Kirche, die wir als heilig bekennen und als Geheimnis verehren, auch
eine sündige und der Umkehr bedürftige Kirche ist". Damit
betrifft das Versagen und die Schuld der damaligen Zeit die Kirche als
Institution und ist nicht nur das oft betonte und beklagte Versagen einzelner
Christen.
Auf jüdischer Seite hat der Versuch der Kirche, ihr
Verhältnis zur jüdischen Tradition neu zu bestimmen, verständliche
Skepsis, aber auch kritische Zustimmung gefunden. Von besonderer Bedeutung
bleibt die anerkennende Stellungnahme vor allem von jüdischen Gelehrten
aus den USA und Kanada zu diesem Wandel der Kirche. Sie wurde unter dem
Titel "Dabru emet" ("Redet Wahrheit") im Jahr 2000
veröffentlicht. Die Erklärung enthält wichtige Thesen,
in denen die Verfasser ihre Sicht von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden,
die es zwischen Juden und Christen gibt, formulieren.
6. Aufgaben für die Zukunft
Wenn heute das christliche Bewusstsein von der Angewiesenheit der
Kirche auf das jüdische Volk und von ihrer Verantwortung für
eine Welt, in der Jüdinnen und Juden ohne Angst leben können,
weit verbreitet ist, darf dies wesentlich auf den Anstoß des II.
Vatikanischen Konzils zurückgeführt werden.
In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die Anstrengungen
der Kirche in dieser Richtung nicht nachlassen dürfen. Noch immer
und wieder verstärkt gibt es auch in Deutschland und in den Ländern
Europas antijüdische Ideologien, Propaganda und Ausschreitungen.
Die Deutsche Bischofskonferenz weiß sich mit der ganzen Kirche einig,
wenn sie dazu aufruft, solchen Tendenzen entgegenzuwirken.
Wichtig werden auch gemeinsame Anstrengungen auf sozialem,
ethischem und politischem Feld sein, z. B. Bewahrung der Schöpfung,
Friedenssicherung, Armutsbekämpfung, Eintreten für die Menschenrechte,
Klärung bioethischer Fragen und die Kritik an der zunehmenden Ökonomisierung
unseres Lebens. Die gemeinsamen religiösen Wurzeln legen hier auch
ein gemeinsames Engagement nahe. Theologisch wird noch tiefer zu ergründen
sein, welche Bedeutung die beiden verschiedenen Traditionen füreinander
haben. Von der Wahrheit des einen Gottes Zeugnis zu geben, ist die gegenwärtig
wohl wichtigste Aufgabe von Christen und Juden.
zitiert nach www.jcrelations.net
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