Mit Gottes und des Staates Hilfe
Israel gelingt es nach wie vor, die Einwanderer aus aller Welt zu integrieren, aber nicht in jedem Fall heißt "Aliya" Aufstieg
von Inge Günther

Es ist nicht gerade eine typische israelische Einwandererstory. Die Geschichte von Addisu Messele, der sich als 18-Jähriger auf einen langen, beschwerlichen Weg begab und später sogar Karriere als erster Knesset-Abgeordneter äthiopischer Abstammung machen sollte. Aber was ist schon typisch an einer Einwanderungsgesellschaft wie Israel, diesem Mix, wie es ihn sonst nirgends gibt? Kein Schmelztiegel wie in den USA, eher ein Mosaik, bestehend aus vielfältigen Kulturen, das geradezu Identität stiftend wirkt, ohne gegen bittere Enttäuschungen gefeit zu sein.

Wenn Addisu Messele seine Geschichte erzählt, fängt er im Jahr 1980 an, als er sich im Alter von 18 allein zu Fuß 32 Tage durch die Wildnis schlug. Wie viele Flüchtlinge aus Äthiopien blieb auch er zunächst in Sudan stecken. Er aber, ein politisch aktiver Kopf, fiel bald Kontaktleuten zum Geheimdienst Mossad auf, die ihm schließlich die Ausreise nach Israel ermöglichten. Seine Angehörigen kamen vier Jahre später mit der spektakulären Operation Moses nach, die 8000 äthiopische Juden per Luftbrücke ins "Gelobte Land" holte. Mehr als doppelt so viele schafften es 1991 dank der Nachfolgeoperation Salomon. "Wir alle träumten von Jerusalem", sagt Addisu Messele. "Für jeden äthiopischen Juden bedeutete Jerusalem das heilige Land." Stattdessen landete er zunächst im Aufnahmelager der staubigen Negev-Stadt Beerscheva.

Es war nicht die einzige Illusion, die platzte. Das oberste Rabbinat entschied, dass das Jüdischsein der eingewanderten Äthiopier, dieses fernen Ablegers aus dem Volke Israel, nicht ganz koscher sei. Um Zweifel zu beseitigen, mussten sie gemäß dem strengen Religionskodex der Halacha zum Judentum konvertieren und die Männer sich noch einmal beschneiden lassen.

Messele streikte, als sie auch seinen Vornamen in David abändern wollten. Er bestand darauf, Addisu zu heißen. Andere gaben nach, was zu einigen Skurrilitäten führte, wie zum Beispiel schwarze Äthiopierinnen namens Levana - hebräisch für weiß. "Falls machbar, hätten sie auch unsere Hautfarbe in ihre verwandelt", meint Messele. Seit vielen Jahren schon steht er der Vereinigten Organisation Äthiopischer Juden vor. Ein Sprungbrett zugleich, um 1996 über die Immigrantenquote der Arbeitspartei für eine Legislaturperiode Knesset-Mitglied zu werden. "Komm, triff die Familie", wirbt ein altes Poster, das Mike Rosenberg, der Generaldirektor der Jewish Agency, in seinem Jerusalemer Büro aufgehängt hat. Ganz unterschiedliche Gesichter sind in diesem Kaleidoskop der israelischen Gesellschaft zu sehen. Hellhäutige Aschkenasen neben Sepharden mit typisch arabischen Zügen, säkulare Russen und traditionell gekleidete Äthiopier, dazwischen Asiaten und Nordamerikaner. Juden aus allen Ecken der Welt, die Aliya machten.

Das hebräische Wort Aliya bedeutet An- oder Aufstieg, eben Heimkehr - in den Schoß der Familie. Es basiert auf dem von Israel garantierten Rückkehrrecht aller in der Diaspora verstreuten Stämme in den sicheren Hafen, den jüdischen Staat. Der Begriff Einwanderung reicht da nicht ran.

Drei Millionen Immigranten sind nach Angaben Rosenbergs seit der Staatsgründung von 1948, meist mit Hilfe der Jewish Agency, ins Land gekommen. Das macht knapp die Hälfte der heute mehr als sechs Millionen zählenden Israelis aus. Dass die Eingliederung gelang, wäre ohne aktives staatliches Zutun undenkbar. Fast alle Neuankömmlinge büffeln im Durchschnitt mindestens sieben Monate Hebräisch im Ulpan, wie die öffentlichen Sprachkurse genannt werden. Erhalten während dieser Zeit finanziellen Lebensunterhalt und danach Steuererleichterungen und Mietbeihilfen. Jeder jüdischen Einwandererfamilie steht außerdem ein Darlehen zum Erwerb einer Eigentumswohnung zu.

Am schnellsten aber wird man so wie ein "Sabra", ein im Land geborener Israeli, wenn man sich im einzugsfähigen Alter befindet. Am Integrationserfolg hat die Armee einen erheblichen Anteil. Dennoch geht und ging es in der rauen Realität nie ohne Reibungsverluste ab. "Aliya", sagt die Haaretz-Journalistin Lily Galili, "ist ein ideologisch aufgeladener Begriff." Eine Art staatliche Verheißung im Sinne von: "Kommt, Mutter wartet auf euch." Nur stelle sich eben nach Eintreffen heraus, dass die sich um eine Menge anderer Sorgen auch zu kümmern habe.

Ein historischer Rückblick: Alles begann mit der ersten vorstaatlichen Aliya, die sich vor allem aus frühen überzeugten Zionisten europäischer Herkunft rekrutierte. Ihr folgte die Welle der Flüchtlinge, die dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust entkamen. Darunter die Jeckes, die Juden aus Deutschland, von denen sich viele mit ihrem bürgerlichen Selbstverständnis nicht gerade leicht taten, sich auf einmal "im Orient" zurechtfinden zu müssen.

Umgekehrt schwer hatten es die Misrahim, die Juden aus Marokko und anderen nordafrikanischen Staaten, als sie während der fünfziger Jahre einwanderten. Der westlich geprägten aschkenasischen Elite waren die Sepharden (womit alle nicht aus Europa stammenden Juden gemeint sind und deren Vorfahren im Mittelalter in Spanien und Portugal lebten) willkommen als demografischer Wachstumsfaktor, aber doch irgendwie suspekt. Zehntausende wurden nach der Ankunft mit DDT-Spray entlaust und in die "Entwicklungsstädte" weit entfernt von den urbanen Zentren wie Tel Aviv, Haifa oder Jerusalem geschickt.

Es sollte mehr als vierzig Jahre dauern, bis erstmals mit Mosche Katzav, geboren in Iran, ein Sepharde Staatspräsident wurde. "Extrem ungeduldiger", so Lily Galili, verhielten sich die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Infolge der Perestroika strömten sie in Rekordstärke von 750 000 in den neunziger Jahren ins Land; eine Million kam insgesamt seit 1945. Viele von ihnen besaßen Universitätsabschlüsse, erwarteten eine Führungsrolle und zwar sofort. Von Ausnahmen abgesehen, mussten sie sich jedoch zunächst mit minderwertigen Jobs begnügen. "Haben wir den Eisernen Vorhang hinter uns gelassen, damit wir jetzt vor einer Glaswand stehen", formuliert die Haaretz-Journalistin Lily Galili eine unter den "Russen" in Israel verbreitete rhetorische Frage.

Deren Neigung, unter sich zu bleiben, verstärkte sich noch durch Vorurteile ihrer neuen Landsleute. Mafia und Prostitution hätten die russischen "Olim" (hebräisch für Einwanderer) ins Land gebracht, hieß es alsbald. Vor allem die Misrahim hielten angesichts ihrer eigenen, nach wie vor empfundenen Benachteiligung die Ansprüche der "Russen" für Chuzpe. Das Oberrabbinat wiederum nahm Anstoß daran, dass 300 000 dieser Neueinwanderer in gemischten Familien leben, in denen etwa der Vater jüdisch, die Mutter aber christlich ist. Es dauerte, bis das etablierte Israel sich damit abfand, dass die an Weihnachten einen Christbaum aufstellten. Auch die beiden russischsprachigen TV-Sender hält man inzwischen für legitim.

Die nach Israel kommenden "Russen" stellen ohnehin weniger als die Hälfte der Einwanderer: Die Zahlen der Statistik sind dramatisch gesunken, im Jahr 2005 wanderten bisher 14 000 Juden nach Israel ein.

Wachsender Beliebtheit, wenngleich in relativ bescheidenem Maße, erfreut sich die Aliya unter französischen und nordamerikanischen Juden. "Früher waren Stressfaktoren wie Antisemitismus und Wirtschaftsnot die Hauptmotive, heute kommen die Leute aus freier Wahl", glaubt Mirla Gal vom Aufnahmeministerium.

Bissig kommentiert dies Addisu Messele: "Mir scheint, die Regierung betet täglich, dass die sechs Millionen US-Juden einwandern." Von den "Dritte-Welt-Juden", die nach wie vor in Addis Abeba auf Einlass warten, "hat sie bereits genug".

Frankfurter Rundschau, 28.9.2005

Die zehn Länder mit den größten jüdischen Gemeinden weltweit:
USA 5,29 Millionen
Israel 5,02 Millionen
Frankreich 496000
Russland und Ex-GUS 393000
Kanada 371000
Großbritannien 299000
Argentinien 185000
Deutschland 105000
Australien 101000
Brasilien 97000

Quellen: Jewish Agency, CIA, Zentralrat der Juden in Deutschland, Juli 2005

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