Sterben die Juden aus?
von Tobias Kaufmann
Der Herr der Zahlen ist Italiener. Was auch immer über
die jüdische Bevölkerung auf der Welt statistisch erfaßt
worden ist, was immer es zu wissen gibt - ob Geburtenraten, Todesfälle,
Aus- und Einwanderung, Mischehen oder Übertritte - Sergio DellaPergola
weiß es. Der Zweiundsechzigjährige ist Professor für zeitgenössisches
Judentum an der Hebräischen Universität Jerusalem und leitet
das demographische Projekt des Jewish People Policy Planning Institute.
Seit 1966 lebt er in Jerusalem. Doch daß er in Triest geboren wurde
und mehr als zwanzig Jahre lang in Mailand lebte, verrät nicht nur
sein Name sofort. Der weiche Akzent, wenn DellaPergola englisch spricht,
die energischen, aber jederzeit eleganten Gesten, mit denen er seine Worte
unterstreicht, die Schuhe. Dennoch ist dieser Italiener ein Israeli geworden.
"Nach Israel gegangen zu sein, ist ein entscheidender Bestandteil
meines persönlichen Judentums. In diesem Land kann man jüdisch
sein, ohne es besonders betonen zu müssen", sagt DellaPergola.
Daß dies auch in Zukunft so bleibt, ist eines der
Ziele seiner Arbeit. Es ist ein offenes Geheimnis, daß Ministerpräsident
Ariel Scharon die Statistiken des weltweit führenden Demographen
des jüdischen Volkes genau studiert hat, bevor er seinen Abkopplungsplan
einbrachte.
DellaPergola lächelt, wenn man ihn darauf anspricht.
Warum sollte er dementieren, wenn die Fakten so eindeutig sind? Das rasche
Bevölkerungswachstum in den palästinensischen Gebieten wird
dafür sorgen, daß die Juden auf dem Fleckchen Erde zwischen
Mittelmeer und Jordan innerhalb weniger Jahre zur Minderheit werden. "Ein
demokratisches, jüdisches Israel wird es in den biblischen Grenzen
nicht geben. Wir können höchstens zwei dieser drei Charakterzüge
behalten", sagt DellaPergola. "Ein Groß-Israel muß
bei dieser demographischen Entwicklung entweder auf seinen jüdischen
Charakter verzichten oder auf die Demokratie. Wer Israel aber als jüdische
Demokratie erhalten will, muß sich von den Gebieten verabschieden."
DellaPergola ist ein Pragmatiker. Nach seiner Rechnung ist die Abtrennung
des Gasastreifens deshalb nur eine Zwischenetappe - im Westjordanland
leben viel mehr Menschen.
Für den Politikwissenschaftler stehen Menschen hinter
allen Zahlen, die er zusammenträgt. Und mit ihnen Chancen und Risiken
für die Zukunft. Wie sehr verstehen sich diejenigen überhaupt
selbst als Juden, die DellaPergolas Team als jüdisch registriert
hat? Werden auch deren Kinder noch jüdisch sein? "Wir erfassen
nicht nur Quantität, sondern auch Qualität", betont der
Forscher. Dazu arbeiten in seinem Institut Wissenschaftler verschiedener
Fachrichtungen zusammen: Historiker, Soziologen, Statistiker. Um die Entwicklung
des jüdischen Volkes positiv zu steuern, geht die Arbeit von DellaPergolas
Team weit über das Sammeln von Daten hinaus. Die Forscher analysieren
die Situation der jüdischen Gemeinschaften in verschiedenen Ländern
und machen jeweils strategische Vorschläge, etwa zu Ein- und Auswanderung,
Bildung und Erziehung.
Die Grundlage jeder Analyse sind Zahlen. Sie zu beschaffen,
ist mühselig und teuer - eine Wissenschaft für sich. Denn während
in Ländern wie Deutschland relativ genaue Bevölkerungsstatistiken
existieren, gibt es etwa in den USA keine Meldepflicht und deshalb keine
offiziellen Angaben über die Größe von Religionsgemeinschaften.
Also wählen Unternehmen im Auftrag von DellaPergolas
Institut zufällig ermittelte Telefonnummern. Sie stellen ihren Gesprächspartnern
Fragen nach familiären Wurzeln, nach Zugehörigkeit in Vereinen
und Organisationen, religiöser Überzeugung. "Um eine repräsentative
Zahl zu bekommen, müssen Millionen von Gesprächen geführt
werden", sagt DellaPergola. Wer Jude ist, ist eine Frage der Definition.
Und die geht über die halachischen Gesetze hinaus. "Zwar deckt
sich die Zahl derjenigen, die sich selbst als jüdisch bezeichnen,
ungefähr mit der Zahl der halachischen Juden. Aber die Schere geht
immer weiter auseinander", erklärt DellaPergola. Halachisch
gesehen macht eine jüdische Urgroßmutter einen Menschen zum
Juden - doch nützt das für eine seriöse Statistik, wenn
dieser Mensch sich in keiner Weise mit dem Judentum verbunden fühlt?
Und umgekehrt: Sollen halachisch nichtjüdische Menschen vollkommen
unberücksichtigt bleiben, obwohl sie mit einem jüdischen Partner
verheiratet sind und jüdisch leben?
Mit solchen Zahlen umzugehen, hat DellaPergola von Roberto
Bachi gelernt, seinem Vorgänger - auch ein italienischer Professor
aus Jerusalem. "In den sechziger Jahren an der Universität Mailand
stellte ich fest, daß mir für meine politische Arbeit über
die jüdische Gemeinschaft in Italien die Fakten fehlten. Eines Tages
rief mich Bachi an und schlug vor, ich solle meine Arbeit von Jerusalem
aus machen." DellaPergola folgte dem Ruf, studierte Politik und trat
als Fachmann für jüdische Bevölkerungsentwicklung in Bachis
Fußstapfen.
Maßgebend für die Zahlen des Instituts ist
die sogenannte Kerngruppe: Menschen, die jüdischer Herkunft sind
und diese zumindest nicht ablehnen und nicht zu einer anderen Religion
übergetreten sind. Ob und wie diese Menschen ihre Jüdischkeit
praktizieren, ist unerheblich. Um die Entwicklung genauer beobachten zu
können, sammeln die Wissenschaftler zusätzlich Daten nach einer
weiter gefaßten Definition, bei der zum Beispiel nichtjüdische
Familienmitglieder mitzählen.
Wie sich das Judentum weiterentwikkeln wird? Eine klare
Antwort sehen die Forscher in Jerusalem nicht. 2004 haben sich verschiedene
Trends verfestigt. Die Zahl derer, die der jüdischen Gemeinschaft
durch Mischehen verlorengehen, wächst. In der ehemaligen Sowjetunion
etwa sind seit 1990 fast achtzig Prozent der Ehen von Juden mit nichtjüdischen
Partnern geschlossen worden. Die meisten Kinder aus diesen Ehen werden
nichtjüdisch erzogen. Das jüdische Volk wächst wieder,
aber im Verhältnis zur Weltbevölkerung schrumpft es. "Uns
fehlen nicht nur die sechs Millionen Ermordeten der Schoa, sondern auch
deren Kinder und Kindeskinder", sagt DellaPergola. Eine Wunde, die
nur langsam zuwächst. In Israel steigt die Zahl der Juden, in der
Diaspora sinkt sie. Daß das jüdische Volk aussterben könnte,
fürchtet DellaPergola nicht. Aber daß es sich verändern
wird, weiß er. "Vielleicht müssen wir irgendwann Leute
wie Madonna mitzählen", sagt DellaPergola und grinst. Die amerikanische
Popdiva hat vor Jahren die Kabbala für sich entdeckt. Und sie stammt,
wie könnte es anders sein, aus Italien.
Sergio DellaPergola wurde 1942 in Triest geboren. Seit
1966 lebt er in Israel und leitet unter anderem das demographische Projekt
des "Jewish People Policy Planning Institute". www.jpppi.org.il
Jüdische Allgemeine, 2.12.2004
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