In der Ruhe liegt die Kraft
"Am siebten Tag sollst du keinerlei Werk verrichten" - eine Anleitung für den Schabbat
von Rabbiner Noah Weinberg

Religiöse Juden werden sagen, daß der Schabbat eine der wunderbarsten Inspirationsquellen überhaupt ist. Paradoxerweise ist aber der Schabbat zuweilen die größte Hürde für Menschen, die sich dem Judentum nähern wollen.

Es gibt zwei zentrale Gebote, die uns lehren, wie man die Schabbatvorschriften befolgt. Das erste Gebot fordert, am Schabbat keine Arbeit zu verrichten. In der Tora (5. Buch Moses 5, 13) heißt es: "Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke verrichten. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht; da sollst du keinerlei Werk verrichten." Das zweite ist ein positives Gebot, das uns die Pflicht auferlegt, am Schabbat zu ruhen: "Am siebten Tag aber sollst du ruhen" (2. Buch Moses 23, 12).

Wenn die Tora uns auferlegt, "keine Arbeit zu tun", liegt es doch auf der Hand, daß uns allein dadurch Ruhe und Entspannung zuteil wird. Wozu brauchen wir ein zweites, positives Handlungsgebot, das uns auffordert, zu ruhen?

Wenn die Tora es für angebracht hält, uns zwei getrennte Gebote zu geben, ist klar, daß das zweite Gebot nicht zwangsläufig aus dem ersten folgt. Die Tatsache, daß es nicht ausreicht, keine Arbeit zu verrichten, um automatisch Ruhe zu erlangen, impliziert, daß das "Ausruhen" am Schabbat etwas Besonderes sein soll. Es soll etwas sein,was über die logische Konsequenz des Nichtarbeitens hinausgeht. Offenbar ist das Ziel des Schabbats nicht einfach, daß wir die Beine hochlegen, uns sonnen und an Cocktails nippen. Was also ist die wahre Bedeutung dieser Gebote?

In Frühstück für starke Männer, einem Roman von Kurt Vonnegut, sitzt die männliche Hauptfigur der Erzählung eines Abends in der Kneipe bei einem Drink. Plötzlich erfüllt ihn eine unerklärliche Unruhe. Jemand, den er unbedingt kennenlernen möchte, von dem er sich gleichzeitig aber irgendwie bedroht fühlt, ist soeben in die Kneipe gekommen und nähert sich seinem Tisch. Er wendet sich ab, um sein Gesicht zu verbergen. Plötzlich spürt er, wie ihm jemand auf die Schulter klopft. Als er sich umdreht, sieht er sich dem Autor des Buches gegenüber, in dem er die Hauptfigur ist. Seine verborgensten Ängste sind Wirklichkeit geworden. Während er stets gehofft hatte, Herr seines eigenen Schicksals zu sein, muß er jetzt mit der Tatsache zurechtkommen, daß ein Federstrich des Autors über sein Leben und Sterben entscheidet.

Vonneguts Geschichte veranschaulicht einen Konflikt, dem sich jeder Mensch stellen muß. Auf der einen Seite tragen wir alle das Verlangen in uns, mit der Wirklichkeit der Existenz Gottes eine Verbindung herzustellen, diesem allmächtigen Wesen, das alles geschaffen hat und uns Tag für Tag erhält, nahe zu sein. Auf der anderen Seite leben wir alle mit der nagenden Angst davor, der Tatsache ins Auge zu blicken, daß wir auf unserem Schiff nicht Kapitän sind. Jeder von uns würde gern die Nummer eins sein. Der Schabbat ist das jüdische Werkzeug, mit dem wir sicherstellen, daß wir unseren Platz im Universum nicht mißverstehen. Sich der Arbeit zu enthalten, ist der erste Schritt zur Erreichung dieses Ziels. Gott gab den Menschen die Macht, die Welt zu gestalten und zu verändern. Aus diesem Grund läßt unser Denken sich so leicht zu dem Glauben verführen, wir hätten die Welt unter Kontrolle.

Dann kommt der Schabbat. Einmal in sieben Tagen treten wir einen Schritt zurück und geben uns selbst und der Menschheit gegenüber eine Erklärung ab, daß wir nicht die Herren dieser Welt sind. Wir lassen alle schöpferische Arbeit ruhen und erkennen an, daß es Gottes Welt ist, nicht die unsere. Wir können die Welt gestalten, doch sie gehört uns nicht.

Wenn wir am Schabbat auf Arbeit verzichten, erlangen wir wieder Klarheit und Kenntnis darüber, wer der wahre Schöpfer ist. Haben wir uns erst einmal von der Illusion unserer eigenen Macht und Wichtigkeit befreit, sind wir frei, das eigentliche Ziel des Schabbats anzustreben und zu verwirklichen: mit Gott in Verbindung zu treten. Zwar können wir uns auch während der Woche mit Gott und der geistigen Welt in Verbindung setzen, doch nur wenn wir besondere Anstrengungen unternehmen, einer solchen Erfahrung teilhaft zu werden. Wir müssen gegen den Einfluß der banalen Alltagswirklichkeit ankämpfen, damit wir zum Spirituellen gelangen.

Wenn ich am Schabbat zu arbeiten aufhöre, spüre ich nicht länger die Notwendigkeit, mit der Welt, die mich umgibt, zu konkurrieren. Ich fahre nicht Auto. Ich pflücke nicht einmal einen Grashalm. Statt der Welt unseren Willen aufzuzwingen, sind wir mit ihr in harmonischer Eintracht. Am Schabbat sind wir alle Könige. Wir machen uns die zusätzliche Spiritualität, die den Tag durchdringt, zunutze. Wir konzentrieren uns auf unsere spirituellen Ziele, die wir im Gottesdienst, im Studium der Tora, während der feierlichen Mahlzeiten und in der Zeit, die wir mit Familie und Freunden verbringen, zum Ausdruck bringen. Einen Tag lang gibt es keine Konkurrenz. Nur ein harmonisches Fließen. Das ist im zweiten Gebot mit "Ausruhen" gemeint. Am Schabbat wird die schwere Aufgabe, mit Gott in Verbindung zu treten, zu etwas Selbstverständlichem. Die Seele hat das, was sie sucht. Sie ruht.

Der Schabbat ist unsere Ruhepause. Er verleiht unserem Leben und unserer Woche Ausgeglichenheit und Perspektive.

Wenn wir uns am Schabbat der Arbeit enthalten wollen, müssen wir wissen, wie die Tora "Arbeit" definiert. Die Vorschriften werden manche vielleicht verblüffen: Einen Fünfzig-Pfund-Sack Kartoffeln von einem Zimmer ins andere zu schleppen, ist rein formal erlaubt, während es verboten ist, das Licht anzuschalten. Es ist nicht "Arbeit", die am Schabbat verboten ist, sondern jene besondere Kategorie von Arbeit, die Melacha genannt wird. Dieser Begriff bezeichnet die neununddreißig Arten schöpferischer Tätigkeiten, die zur Herstellung des Tabernakels, des in der Zeit von Moses und Joschua von den Juden genutzten tragbaren Heiligtums, ausgeübt wurden. Zu diesen neununddreißig Tätigkeiten gehören zum Beispiel Pflanzen, Kochen und Schreiben.

Das Tabernakel war der Ort, an dem das Erleben Gottes unmittelbarer war als an jedem anderen Ort der Welt. Auf ähnliche Weise ist der Schabbat die Zeitspanne, in der die Anwesenheit Gottes intensiver fühlbar ist als zu jeder anderen Zeit während der Woche. Anders gesagt: Wie das Tabernakel Heiligkeit "im Raum" ist, so ist der Schabbat Heiligkeit "in der Zeit".

Der Schabbat verfügt über Beständigkeit und Dauer, die die Grenzen des Raumes transzendieren. Er ist ein Urlaub - überall auf der Welt, kostenfrei und ganz ohne Reisebüro. Die Anwesenheit Gottes ist bei uns einfach durch die Atmosphäre, die der Schabbat mit sich bringt. Dies erklärt, warum wir uns am Schabbat nicht um Dinge kümmern sollen, die wir in der Woche nicht zu Ende gebracht haben. Statt dessen sollen wir das Gefühl haben, alles sei vollendet. Der Schabbat markiert das Erreichen unserer Ziele.

Der Schabbat ist nicht nur das beste spirituelle Werkzeug des Judentums. Historisch war er auch immer ein Lackmustest dafür, ob ein einzelner oder eine Familie lebendiger Teil des jüdischen Volkes bleiben würde. Wie es in dem berühmten Spruch zum Ausdruck kommt: "Mehr als der Jude den Schabbat gehalten hat, hat der Schabbat den Juden gehalten."

Wem der Schabbat jetzt wie ein reichlich einschüchterndes Unternehmen vorkommt, sollte daran denken, daß es im Judentum nicht um "alles oder nichts" geht. Schon ein einziger Moment des bewußten Verzichts auf Melacha am Schabbat kann eine starke Gelegenheit sein, mit sich selbst und mit Gott in Verbindung zu treten. Wie soll man beginnen? Laden Sie Ihre Freunde am Freitagabend zum Abendessen ein. Zünden Sie Kerzen an, sagen Sie den Kiddusch, singen Sie ein paar Lieder und sprechen Sie über die Worte der Tora. Eine feste Regel gilt immer: keine Unterhaltung von außen. Kein Radio, kein Fernseher, kein Telefon, kein Internet. Versuchen Sie es für ein paar Stunden. Wenn Sie kein Problem mehr damit haben, können Sie den Zeitraum verlängern. Der Schlüssel liegt darin, sich nicht um die Herrschaft über das Universum zu kümmern und statt dessen mit dem Allmächtigen in Verbindung zu treten.

Zum Schluß noch eine Übung, mit der Sie sich in die richtige Stimmung versetzen können. Nehmen Sie sich an diesem Freitag bei Sonnenuntergang eine Minute Zeit und machen Sie folgendes: Ballen Sie sechzig Sekunden lang fest die Faust. Dann entspannen Sie die Hand wieder. Das, meine Freunde, ist Schabbat.

Quelle: www.aish.com/shabbat

Jerusalem: Gericht bestätigt Tag der Ruhe
Israels Oberster Gerichtshof hat im April 2005 entschieden: Der Schabbat soll für jüdische Arbeitnehmer ein Tag der Ruhe bleiben. Das Gericht bestätigte damit eine seit 1951 in Israel bestehende Regelung, die die Arbeit von Juden am Schabbat verbietet. Ein Möbelunternehmen hatte das Gericht angerufen, weil es in dieser Regelung eine Wettbewerbsverzerrung sieht, die einen für sie erheblichen wirtschaftlichen Schaden zur Folge habe. "Das Festhalten am Schabbat ist eine zentrale Säule des jüdischen Glaubens." Das bestehende Gesetz passe zu "den Werten Israels als jüdischem und auch als demokratischem Staat", hieß es in der Begründung des Gerichts in Jerusalem.

Jüdische Allgemeine, 14.4.2005

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