Der alte Mann und das Bild
Die Aufnahme des jüdischen Jungen aus Warschau ging um die Welt - heute lebt Tsvi Nussbaum als Rentner in New York
von André Groenewoud

Er wartet bereits seit einer Stunde. Tsvi Nussbaum sitzt im Büro des Holocaust Museums von Spring Valley in der Nähe von New York - ich in der Bibliothek nebenan. Als wir das Missverständnis bemerken, kann er sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. "Ich dachte, Deutsche sind immer pünktlich." Nussbaums Gang ist schleppend, das Aufstehen vom Stuhl bereitet ihm Schmerzen. Gerade ist der ehemalige Hals-Nasen-Ohren-Arzt 70 Jahre alt geworden.

Aus einer Plastiktüte kramt Nussbaum ein Foto hervor. Ein kleiner Junge hebt die Hände, im Hintergrund steht ein SS-Mann, der sein Maschinengewehr in Anschlag hält. Der Junge wirkt hilflos und verwirrt, er schaut an der Kamera des Fotografen vorbei, den Blick ängstlich auf ein unsichtbares Ziel gerichtet.

Kaum ein anderes Bild hat die Unmenschlichkeit des NS-Regimes so deutlich gemacht. Es ging um die Welt, wurde millionenfach gedruckt und hängt heute in vielen Museen der Welt, im Anne-Frank-Haus in Amsterdam ebenso wie im Holocaust-Museum in Washington. "Es ist eines der unauslöschlichen Bilder der Geschichte", schrieb die New York Times einmal.

Tsvi Nussbaum sagt leise: "Ich wäre glücklicher, wenn es das Foto nicht geben würde. Und ich wünschte, ich wäre nicht der Junge auf dem Bild."

Tsvis Eltern, Chana und Yosef, waren 1935 aus dem südpolnischen Städtchen Sandomierz nach Palästina ausgewandert. Kurz darauf kam Tsvi zur Welt - mit einem von der britischen Mandatsmacht in Palästina ausgestellten Pass. Doch die Lebensbedingungen für die junge Familie erwiesen sich als zu hart. Schon ein Jahr später kehrte die Familie nach Sandomierz zurück. Ein verhängnisvoller Schritt. Wenige Tage nach dem Überfall auf Polen im September 1939 erreichte die deutsche Wehrmacht am 10. September Sandomierz.

Tsvi Nussbaum weiß nicht, wie seine Eltern umgekommen sind. Auf einer Messingtafel im Holocaust-Museum von Spring Valley wird ihr Name genannt und als Todesjahr 1942 angegeben. Für den damals sechsjährigen Tsvi waren sie einfach nur verschwunden: "Eine Freundin meiner Eltern nahm mich und meinen Bruder Ilan eines Tages zu sich, später kam eine andere Freundin und holte mich zu meinem Onkel und meiner Tante nach Warschau." Seinen Bruder hat er nie wieder gesehen. In Warschau versteckten sie sich in einer Wohnung im von Polen bewohnten Teil der Stadt. Fast ein Jahr blieben sie unerkannt, "dann hörten wir von der Möglichkeit, dass Juden mit Auslandspässen nach Palästina ausreisen könnten." Sammelpunkt war das Hotel Polski. "Ein paar Tage haben wir im Hotel mit Dutzenden anderer Juden gewartet. Dann kam die SS und befahl uns, vor das Hotel zu kommen. Es war der Moment, als das Foto entstand."

Tsvi Nussbaum war damals knapp acht Jahre alt. "Ein Soldat befahl mir die Hände zu heben." SS-Männer verlasen Namen von einer Liste. Die Namen seines Onkels und seiner Tante standen darauf. Beide wurden auf einen Lastwagen verfrachtet. Doch Tsvis Name fehlte. "Weil wir aber den gleichen Nachnamen hatten, sprang mein Onkel vom Lastwagen wieder herunter, lief auf mich zu, umarmte mich und flüsterte: ,Küss mich!'. Er gab sich als mein Vater aus - ich durfte mit auf den LKW."

Doch die Reise ging nicht ins gelobte Land. Die Fahrt mit einem Güterzug endete nach zwei Tagen im Konzentrationslager Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. "Als Juden mit einem Auslandspass wurden wir etwas besser behandelt als die anderen Häftlinge", erzählt Nussbaum, "denn aufgrund unserer Pässe bestand immer noch die Möglichkeit eines Austausches gegen deutsche Kriegsgefangene. Man brachte uns in einer Baracke gegenüber der Küche. Wir hausten mit 225 Juden auf engstem Raum, bekamen aber keine Nummer in unsere Arme tätowiert und trugen weiterhin unsere normale Kleidung."

Tsvi Nussbaum, seine Tante und sein Onkel überlebten das KZ. Nach ihrer Befreiung im April 1945 wanderten sie nach Palästina aus. Tsvi lebte in einem Kibbuz, dachte an Selbstmord und will heute darüber nicht mehr reden. "Er war depressiv", sagt seine Frau Beverly, "er hatte auf einer Postkarte an seinen Onkel angekündigt, seinen Eltern und seinem Bruder in den Tod folgen zu wollen." Wieder rettet ihn der Onkel und nimmt ihn mit, diesmal nach Amerika. Als sie 1953 in New York eintreffen, ist Tsvi knapp 18 Jahre alt. Er macht seinen Schulabschluss und beginnt mit einem Medizin-Studium. Er ist schon promovierter Hals-Nasen-Ohren-Arzt, als er, irgendwann in den Achtzigerjahren, zum ersten Mal das Bild sieht. Sein Bild. "Ich weiß nicht mehr genau wo und wann. Ich weiß nur noch wie ich dachte, der sieht ja aus wie du." Nur hätte der Hinweis auf das Warschauer Getto nicht gepasst. "Dort bin ich nie gewesen."

Sein Freund Marc Berkowitz forschte nach und war sich schließlich sicher: Der Junge auf dem Bild ist Tsvi Nussbaum. Das Foto ist am 13. Juli 1943 vor dem Hotel Polski entstanden, zu einem Zeitpunkt, als das Warschauer Getto schon aufgelöst worden war. "Ich trage auf dem Bild - genau wie die anderen Juden auch - keinen Davidstern", erklärt er, als müsse er noch immer beweisen, tatsächlich dieser Junge zu sein.

Der SS-Mann auf dem Bild wird in der DDR gefasst und hingerichtet.

Im Mai 1943 hatte Polizeikommandant Jürgen Stroop an Heinrich Himmler, Reichsführer SS, gemeldet: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr." Als Beleg überreichte Stroop dem SS-Reichsführer vier Fotoalben aus den letzten Tagen des Gettos. Auch das Foto des kleinen Jungen war in einem dieser Alben und trug die Bildunterschrift "Mit Gewalt aus Bunkern hervorgeholt." Zwei der Alben sind heute verschwunden, eines liegt in Polen, das zweite in einem Archiv in Washington.

In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen dienten die 49 Fotoaufnahmen als Beweismittel. Das Foto des Jungen wurde dabei erstmals in der Öffentlichkeit gezeigt. Auch die Identität des SS-Mannes auf dem Bild konnte geklärt werden: Josef Bloesche, SS-Unterscharführer, verantwortlich für den Mord an mehreren hunderten Juden. Bloesche war wegen seiner Brutalität unter den Juden im Getto gefürchtet. Bloesche lebte nach Ende des Krieges als Bergmann unter seinem richtigen Namen in Urbach in der damaligen DDR. Erst 1967, nachdem das Hamburger Landgericht die DDR auf den ehemaligen SS-Unterscharführer aufmerksam machte, wurde er verhaftet und zwei Jahre später vom Bezirksgericht in Erfurt wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und durch Genickschuss hingerichtet. Es war das letzte in Deutschland vollstreckte Todesurteil.

1982 veröffentlichte die kleine Zeitung The Jewish Week aus New York eine Titelgeschichte über den "Jungen aus dem Warschauer Getto". Kurz darauf machte die New York Times Tsvi Nussbaums Geschichte publik. Plötzlich stand Tsvi Nussbaum im Rampenlicht. Zweifler an der Echtheit seiner Geschichte meldeten sich zu Wort, andere machten ihm zum Vorwurf, sich wichtig zu machen. Lucjan Dobroszycki, Spezialist die Geschichte osteuropäischer Juden, schrieb in einem Leserbrief: Das Bild sei "zu heilig, um Leute damit machen zu lassen, was sie wollen". Nussbaum aber hatte diese Kontroverse "nicht gewollt und nicht erwartet. Ich fühlte mich schuldig, den Holocaust überlebt zu haben".

Selbst enge Freunde waren damals schockiert. "Alle hatten doch bis dahin gedacht, dieser Junge vom Foto sei im KZ ermordet worden und nun stand ich da und lebte. Wissen Sie, was das für mich bedeutete?" Tsvi Nussbaum kramt aus seiner Plastiktüte und legt zum Vergleich ein Foto vom Sommer 1945 neben das berühmte Bild. Der zehnjährige Tsvi sieht dem Jungen aus Warschau zum Verwechseln ähnlich.

Vor sieben Jahren hat er mit seiner Frau und seinen vier Töchtern Sandomierz in Polen besucht. Sein Elternhaus in der Kosciuszkistraße Nummer 1 stand noch. "Es war der traurigste Tag in meinem Leben, obwohl ich keine Erinnerungen mehr an dieses Haus habe", sagt er.

Auf dem Flug nach Polen landete die Maschine in Frankfurt am Main zwischen. Tsvi Nussbaum weigerte sich, das Flugzeug zu verlassen. Deutschen Boden will er nie mehr betreten.


Geschichte eines Fotos
Räumung des Warschauer Gettos, mit diesem Bild-Text wurde das Foto des jüdischen Jungen weltberühmt. Doch nachdem in den 80er Jahren Tsvi Nussbaum als das verängstigte Kind identifiziert wurde, war klar: Die Aufnahme kann nicht aus dem Getto stammen. Denn der damals Achtjährige ist nie dort gewesen, wurde als Jude mit Auslandspass aus dem Hotel Polski in Warschau deportiert. Die Legende von der Aufnahme aus dem Getto hält sich dennoch.

Frankfurter Rundschau, 14.7.2005

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