Massenmord im Namen des Staates
Dem Genozid an den Armeniern vor 90 Jahren folgten antijüdische Pogrome - und die Schoah
von Ludger Heid

Am 26. Juni 1902 hielt Eduard Bernstein eine bemerkenswerte Rede, die heute fast vergessen ist. Leidenschaftlich brandmarkte der jüdische Sozialdemokrat "unerhört grausame Massenabschlachtungen" von Armeniern durch die osmanische Soldateska, und beklagte die beschämende "stoische Gleichgültigkeit", die man selbst in demokratischen Kreisen Deutschlands der "Erdrosselung des armenischen Volkes" entgegenbringe. Im April 1915, dreizehn Jahre nach Bernsteins Rede, begannen die heute als "Genozid", "Völkermord" oder "Holocaust" bezeichneten Greuel an den Armeniern, verübt in arbeitsteiliger Täterschaft von Türken und Kurden.

Bei Bernstein war es ein tief im Humanismus verankertes Gefühl, das ihn schon weit früher Mitleid mit den Armeniern empfinden ließ. Der jüdische Schriftsteller Franz Werfel hat in seinem historischen Roman Die 40 Tage des Musa Dagh dem Schicksal der Armenier ein Denkmal gesetzt. Darin läßt er den Hauptverantwortlichen für die Greuel, Enver Pascha, über den amerikanischen Botschafter, der sich gegen die türkische Armenienpolitik gewandt hatte, sagen: "Mr. Morgenthau ist Jude. Und die Juden stehen immer fanatisch auf seiten der Minderheit." Und in Edgar Hilsenraths Armenierroman Das Märchen vom letzten Gedanken scheint die Parallelität der Verfolgungsschicksale von Juden und Armeniern durch. Darin tritt ein Major auf, der Galizien besucht und dort feilschende Juden beobachtet hat. Diesen läßt Hilsenrath den Schluß ziehen: "Wie Armenier. Diese beiden Völker sind fast zum Verwechseln. Es ist unglaublich."

Die staatlich gelenkten Deportationen und die systematische Ermordung von Armeniern in einer Größenordnung zwischen sechshunderttausend und 1,5 Millionen Menschen allein in den Jahren des Ersten Weltkrieges werden unter anderem mit der Transformation des multi-ethnischen Osmanischen Reiches in einen Nationalstaat mit pantürkischer Ideologie erklärt. Die Armenier waren die größten Opfer dieser nationalistischen Erhebung, aber auch die Juden bekamen später die Türkisierung zu spüren. An der Wende des fünfzehnten Jahrhunderts lebten in der Türkei hunderttausend Sefardim. Doch mit der Ruhe im türkischen Herrschaftsbereich war es zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu Ende. Die türkische Judenpolitik schlug von da an teilweise in offenen Antisemitismus um.

Als 1917 in Palästina Greueltaten der türkischen Soldaten an der jüdischen Bevölkerung bekannt wurden, lenkte der sozialdemokratische Abgeordnete im Deutschen Reichstag, Oskar Cohn, die Aufmerksamkeit auf die bedrohliche Lage der unter türkischer Herrschaft lebenden Juden. Der türkische Befehlshaber in Palästina, Djemal Pascha, hatte begonnen, Tausende Juden aus Tel Aviv zu vertreiben, und war im Begriff, die jüdische Palästinakolonisation zu zerschlagen. In Jaffa war es zu vereinzelten Spionagefällen und zur Kollaboration radikaler zionistischer Gruppen mit Engländern gekommen. Djemal Pascha reagierte auf diese Vorkommnisse mit der "Umsiedlungsaktion". Am Ende der Budgetkommissionssitzung des Reichstags am 7. Mai 1917 brachte Cohn die antijüdischen Maßnahmen in Palästina zur Sprache.

Bereits einen Tag später gab der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Arthur Zimmermann, in der Sitzung des Reichshaushaltsausschusses eine Erklärung zu der Cohnschen Eingabe ab. Er versuchte, den Sachverhalt zunächst herunterzuspielen. Jedoch könne die Reichsregierung kein Interesse daran haben, mit Vorfällen in Verbindung gebracht zu werden, die allein in der Verantwortung der Türkei lägen. Dies war ein Hinweis auf die türkische Armenierpolitik, der Hunderttausende zum Opfer gefallen waren. Es war bekannt, daß die Regierung Djemal Paschas nicht gerade judenfreundlich eingestellt war. Zimmermann bestätigte jedoch nur, daß ein Befehl zur Evakuierung Jaffas als "Vorsichtsmaßregel" getroffen worden sei. Er rechtfertigte dies mit militärischen Notwendigkeiten der türkischen Streitkräfte, die bereits die Engländer in Gasa zurückgeschlagen hätten und nun versuchten, auch mit deutscher Unterstützung ein erneutes britisches Vordringen in Palästina zu verhindern. Alle weiteren Behauptungen, die in der Presse aufgetaucht seien, bezeichnete Zimmermann als erfunden.

Doch Cohn stand in seinen Bemühungen nicht allein. Die von den Türken in Palästina verübten Greuel lösten angesichts der erst Monate zurückliegenden systematischen Ermordung der armenischen Minderheit neue Befürchtungen und diplomatische Aktivitäten aus. Laut der Nachrichtenagentur Reuters waren von den Vertreibungen ausschließlich Juden betroffen. Damit war der antisemitische Charakter der Aktionen hinreichend zutage getreten. Ende März (1917) seien aus Jerusalem "Massen von Juden" vertrieben worden, die "das Schicksal (der) Armenier teilen" würden, hieß es in einer Depesche aus dem Kopenhagener Zionistischen Büro. In Jaffa seien achttausend Juden aus ihren Häusern gejagt worden, ohne die Erlaubnis, Gepäck oder Lebensmittel mitzunehmen. Ihre Häuser wurden unter den Augen türkischer Behörden noch vor Abreise der Besitzer geplündert. "Banden von Plünderern, Beduinen und Araber stürmten wie Raubvögel herbei mit Eseln und Kamelen und raubten Mobiliar und Wertgegenstände." An den Toren der jüdischen Vorstadt wurden zwei Juden aufgehängt, als Exempel für alle, die es gewagt hatten, den Plünderern Widerstand zu leisten. Vertrauenswürdige Augenzeugen berichteten von entsetzlichen Szenen der Grausamkeit. Dutzende Juden wurden tot in den Dünen um Jaffa gefunden. Die zum Schutz der jüdischen Bevölkerung errichteten Wachen wurden von den Behörden festgenommen und grausam mißhandelt. Die Depesche schloß mit der Befürchtung, daß nach den Drohungen Paschas die Juden Palästinas das gleiche grausame Schicksal erwarte wie Hunderttausende Armenier bei Aleppo - Ausrottung durch Hunger, Durst und Epidemien.

Die Ereignisse von vor rund neunzig Jahren sind vergleichbar, aber nicht gleichsetzbar mit der Schoa. Die Jungtürken ermordeten Abertausende Armenier. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ermordeten die Deutschen Hereros in Südwestafrika, und aktuell werden afrikanische Volksgruppen im Sudan von den arabischen Janjawid-Milizen vergewaltigt und abgeschlachtet. Dennoch hebt sich die Schoa von anderen Massenmorden der Vergangenheit ab - unter anderem, weil er keinerlei realem Konflikt zwischen dem deutschen Volk und den Juden in Deutschland oder in der Welt entsprang. Der jüngst in der ZEIT erhobene Vorwurf, für das offizielle Israel habe es - um dieser Exklusivität des Holocaust und der Beziehungen zur Türkei willen - bis heute keinen Völkermord an den Armeniern gegeben, kann man insofern als polemischen Unsinn widerlegen, als man sich wohl an keinem anderen Ort der Welt der Singularität der Schoa mehr bewußt ist - Israel hat keinen "genozidalen Hierarchieverlust" zu fürchten. Wie nirgends sonst weiß man im Judenstaat um das große Leid, das das armenische Volk ertragen mußte.

Es gibt noch eine andere Parallele: Deutschland war tief verstrickt in die türkische Blutorgie. Hunderte deutsche Offiziere halfen dem Bündnispartner bei Planung und Durchführung der Deportationen. "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht", notierte 1916 der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Und Friederich Bronsart von Schellendorf, der als Generalstabschef das osmanische Feldheer führte, ließ alle rassistischen Hemmungen fallen, als er ausführte: "Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich aufhält, aufsaugt." Diesen Herrn finden wir folgerichtig 1924 im faschistischen Frontbann und 1925 als Führer des großdeutsch völkischen Tannenberg- Bundes an der Seite Erich Ludendorffs wieder. "Kameraden" vom Schlage eines von Schellendorf legten mit ihrer Beteiligung am Armeniermord die ideologische Grundlage zum Judenmord der Nazis und zu dessen praktischer Durchführung. Deutsche Uniformträger und Administratoren sammelten hier logistische und infrastrukturelle Erfahrungen, die sie zum Holocaust mit inspirierten.

Adolf Hitler wußte um den Genozid an den Armeniern, als er den Holocaust an den Juden plante. Um auch die letzten moralischen Bedenken vor dem Vernichtungskrieg zu beseitigen, sagte Hitler am 22. August 1939 vor Militärs und SS-Komman- deuren: "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?" Zehn Tage später überfiel die Wehrmacht Polen.

Der Völkermord an den Armeniern wird bis heute von der türkischen Regierung bestritten. Für Historiker ist klar, daß türkische Einheiten im Ersten Weltkrieg Hunderttausende Armenier aus ihren Dörfern trieben und auf Todesmärschen ermordeten oder umkommen ließen. Der Großwesir Damad Ferid Pascha gestand im Juni 1919 die Verbrechen öffentlich ein, einige Täter wurden verurteilt.

Jüdische Allgemeine 21.4.2005

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