Der Urknall
Kommentar zum israelischen Wahljahr 2006
von Gil Yaron

In Israel hat ein großer Urknall die politische Landkarte dauerhaft verändert. Alle bisher bekannten Maximen und Orientierungspunkte der Innenpolitik haben sich verschoben, so dass in den für März angesetzten Wahlen nichts mehr so sein wird wie früher. Das ganze System steht Kopf. So erklärte die links außen angesiedelte Partei Meretz, man könne sich eine Koalition mit Ariel Scharon künftig gut vorstellen, während Wähler des rechts-nationalen Likud in Massen zu einer Partei überlaufen, an deren Führungsspitze sich ihr ehemaliger Erzfeind Schimon Peres befindet. Die traditionellen Wähler des Likud, wirtschaftlich benachteiligte Einwanderer aus den arabischen Staaten, scharen sich hinter dem in Marokko geborenen Amir Peretz, der der Arbeiterpartei vorsteht, die einst Symbol einer schmarotzenden aschkenasischen Elite war. Zu guter Letzt erwägen auch noch die Araber, sich geschlossen von der Arbeiterpartei abzuwenden, die ihnen über Jahrzehnte alles versprach und nichts gehalten hat, just um sich zu Scharon zu gesellen. Ehedem war Scharon für ihr Volk der Inbegriff des Bösen, heute sagt der ägyptische Staatspräsident Mubarak von ihm, er sei die einzige Hoffnung auf Frieden.

Es ist hauptsächlich den Auswirkungen der Intifada zuzuschreiben, dass das politische Leben in Israel sich derart verändert hat. Seit Bestehen des Staates zog sich eine klare Linie mitten durch die Wählerschaft und teilte sie in der Mitte in Linke und Rechte auf. Rechts und Links unterschieden sich in Israel nur in einer Frage, nämlich im Lösungsansatz zum Palästinenserproblem. Während man links eher auf Friedensverhandlungen setzte, in deren Rahmen es letztendlich zur Aufgabe der besetzten Gebiete im Gegenzug für Frieden kommen sollte, verschrieb sich die Rechte einer Ideologie des "Groß-Israels" und versprach sich den ersehnten Frieden von einem von militärischer Übermacht und Misstrauen diktierten Verhältnis zu den Arabern. Die seit dem Jahr 2000 anhaltende Intifada hat jedoch Rechten wie Linken bewiesen, dass ihr Lösungsansatz nicht die erhoffte Ruhe bringt. An Verhandlungen mit den Palästinensern glaubt heute fast niemand mehr in Israel, aber auch ihr blindes Vertrauen in die Allmacht ihrer Armee haben Israelis nach fünf Jahren Kampf aufgegeben. Nun bietet sich denen, die von den klassischen Alternativen enttäuscht sind, erstmals eine glaubhafte dritte Alternative.

Freilich gab es in jeder Wahl den Versuch einer Partei des "dritten Weges", als Auffangbecken für die enttäuschte stille Mehrheit der gemäßigten Mitte zu fungieren. Stets litten diese Parteien jedoch unter einem Mangel an charismatischer Führung und gerieten nach anfänglicher Euphorie des vermeintlichen Neubeginns schnell in Vergessenheit. Nun könnte sich das alles ändern. Friedensnobelpreisträger und Architekt des Osloer Friedensvertrages Schimon Peres hat sich zum historischen Gegner der israelischen Linken, dem Siedlungsbauer und Ex-General Scharon, gesellt, um mit ihm gemeinsam die israelische Politik umzukrempeln. Ihrer neuen Kadima ("Vorwärts") Partei fehlt es nicht an charismatischen, bewährten und befürworteten Persönlichkeiten, sie ist das "All Star Dream Team" des israelischen Wählers, der sich in überwältigender Mehrheit hinter sie stellt. Von allen Parteien, egal ob Likud, Arbeiterpartei, Schinui, ja sogar Meretz und dem arabischen Sektor, strömen die Menschen nun zu Kadima, weil sie sich von der letzten Amtsperiode der zwei letzten Politiker der Gründergeneration die Antworten auf die dringlichsten Probleme ihres Staates erhoffen.

Die Regierung unter Scharon wird drei kardinale Probleme in Angriff nehmen. Erstens wird sie versuchen, die Ostgrenze des Staates festzulegen, entweder durch einen Friedensvertrag mit den Palästinensern oder durch weitere einseitige Maßnahmen wie dem Rückzug aus dem Gazastreifen. In diesem Punkt hat sie die besten Aussichten, fast vierzig Jahre nach dem Sechs-Tage Krieg den territorialen Ambitionen Israels endlich eine Grenze zu setzen. Angesichts der anhaltenden Anarchie auf Seiten der Palästinenser und der zunehmenden Machtlosigkeit ihres Präsidenten Machmud Abbas ist eher unwahrscheinlich, dass die Verpflichtung zu einer Fortführung des Friedensprozesses im Rahmen der "Road Map" mehr als ein Lippenbekenntnis bleibt. Wahrscheinlicher ist, dass Israel in naher Zukunft weitere einseitige Rückzüge vornehmen wird, wie der engste Berater Scharons, Vizepremier Ehud Olmert, bereits angekündigt hat. Genau dies ist ja die Quintessenz des dritten Wegs: nämlich nicht mehr den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit den Palästinensern abzuwarten, aber auch nicht ewig eine Bevölkerung von Millionen Palästinensern beherrschen zu wollen, sondern einseitig gemäß der Interessen Israels eine strategisch und demographisch sinnvolle Grenze zu ziehen, komme, was wolle.

An zweiter Stelle auf der Dringlichkeitsliste steht das wirtschaftliche Problem, das unerträgliche Ausmaße erreicht hat. Die israelische Gesellschaft, einst mit den Idealen der Gleichheit und Brüderlichkeit gegründet, ist eine der ungleichsten westlichen Gesellschaften geworden. Nur in Portugal und den USA sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer als hier. Menschen würden vielleicht bereits Hunger leiden, versorgten von Spenden getragene Hilfswerke sie nicht täglich mit Nahrung. Die thatcheristische Politik Benjamin Netanyahus hat die Wirtschaft zwar gesunden lassen, diese sozialen Unterschiede aber noch vergrößert. So sind viele der künftigen Wähler Scharons und Peres Menschen, denen der soziale Frieden wichtiger ist als der mit den Arabern. Dies führt ebenfalls zu der

erheblichen Schwächung des Likud und dem Stimmenzuwachs der Arbeiterpartei unter Amir Peretz, von dem die Verarmten sich einen wahren Kampf gegen die Reichen versprechen. Dies führt als Nebenprodukt dazu, dass laut ersten Meinungserhebungen erstmals in der Geschichte Israels eine homogene Koalition aus nur zwei Parteien, Kadima und der Arbeiterpartei, die nötige Mehrheit zum Regieren haben könnte.

Dies gibt den Menschen Hoffnung, dass auch ein drittes Problem gelöst werden könnte, nämlich die ungeklärte Beziehung zwischen Staat und Religion. Seit Staatsgründung leben die Menschen in einem schwankenden Status quo, in dem am Samstag die Geschäfte geschlossen bleiben müssen und unkoschere Hotels keine Betriebserlaubnis erhalten. Orthodoxe müssen nicht in der Armee dienen, da sie die Bibel studieren. Hochzeiten können nur von Rabbinern abgehalten werden, ein wachsendes Problem für mehrere Hunderttausend Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, von denen laut jüdischen Glaubensgesetzen viele keine Juden und deshalb nicht heiratsfähig sind. Der gesetzliche Status hunderttausender Einwanderer, die nach dem Rückkehrrecht nach Israel dürfen, dort aber nicht alle Rechte haben, da sie nicht als Juden anerkannt werden, schreit nach einer logischen Lösung. Die konnte man ihnen bisher deshalb nicht bieten, da stets die Religiösen die Macht hatten, Regierungen zu stürzen und neue Koalitionen zu bilden. Die Kadima Partei mit ihrer breiten Zustimmung könnte im Verbund mit Amir Peretz Israel in dieser Frage tatsächlich voran, in Richtung einer Lösung, treiben.

Um ein viertes existentielles Problem anzugehen, dazu sind leider gerade Scharon und Co. ungeeignet. Immer weiter greifen Korruption und Werteverfall um sich und drohen, die Errungenschaften des jungen Staates zu zerstören. Die erfolgreichen Politiker, egal welcher Schattierung, stecken aber allesamt selber zu tief in diesem Sumpf, um ihn glaubhaft trockenlegen zu wollen. So muss dieses Problem wohl noch mindestens eine Wahl abwarten, bevor es in den Vordergrund der israelischen Politik gerät und einen Vorkämpfer findet, der es glaubwürdig an der Tagesordnung belässt. Bis dahin hat Scharon aber noch einiges zu tun. Na dann vorwärts!

Illustrierte Neue Welt, Wien, Dezember05/Januar06
Erschienen noch vor der Erkrankung Scharons.

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