Den Dialog auf die Tagesordnung der Welt gesetzt.
Zur Bedeutung von "Nostra Aetate", der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen.
von Friedhelm Pieper


1. Ein nicht geplantes Dokument

Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen vom 28. Oktober 1965 zählt zu den überraschenden Texten der Kirchengeschichte. Eine solche Erklärung war im Zusammenhang des Konzils zunächst überhaupt nicht geplant. Es gab allerdings einen Vorschlag, das Verhältnis zum Judentum durch ein Dekret (Decretum de Judaeis), auf eine neue Grundlage zu stellen (1). Dieses Projekt geriet aus unterschiedlichen und durchaus auch politischen Gründen mehrfach in die Krise. Es vermochte sich aber immer wieder auf die Tagesordnung zurückzumelden, wurde thematisch erweitert mit Blick auf den Islam und asiatische Religionen und am Ende dann mit überwältigender Mehrheit angenommen. Seit seiner Verabschiedung wirkt "Nostra Aetate" als höchst produktiver Beitrag der katholischen Kirche befruchtend und als gute Herausforderung auf den interreligiösen Dialog. "Nostra Aetate" führte zum Durchbruch entscheidender Themen des Dialogs zwischen den Religionen auf internationaler Ebene. Rom hatte gesprochen, der Fall wurde global eröffnet: Roma locuta, causa aperta, urbi et orbi.

Allerdings hatten bereits die im Ökumenischen Rat der Kirchen zusammengeschlossenen Kirchen bei ihrer Vollversammlung in Neu-Delhi im Jahr 1961 eine Stellungnahme zum Antisemitismus abgegeben:"Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und die Menschen". Das war ein wichtiges und notwendiges Wort in einer Zeit in der es in Europa und darüber hinaus zu einer Welle antisemitischer Zwischenfälle kam. Die Vollversammlung hatte in dieser Erklärung auch dazu aufgerufen, den traditionellen Kollektivschuld-Vorwurf des "Gottesmordes" zu überwinden, eine Anschuldigung, die das Judentum generell als verantwortlich für die Kreuzigung Jesu abstempelte.

Die notwendige klare Abgrenzung der Kirchen gegen Antisemitismus und gegen die Tradition der "Gottesmord"-Anschuldigung wurde nun durch die Konzilserklärung "Nostra Aetate" dadurch erweitert und vertieft, dass sie in der Konsequenz dieser Haltung versucht, ein neues Verhältnis insbesondere zum Judentum zu gewinnen und dies theologisch zu begründen.

Die Erklärung des Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen behielt einen herausragenden Abschnitt über die Beziehungen zum Judentum. Wir werden uns mit diesem interessanten Verhältnis zwischen einer jedenfalls im Ansatz erkennbaren Reflektion des Verhältnisses der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen ("Theologie der Religionen") und der Klärung der besonderen Beziehungen der Kirche zum Judentum ("Israeltheologie") noch weiter unten beschäftigen (s.u.: 4.). Das Zusammentreffen beider Perspektiven in "Nostra Aetate" ist durch die Entstehungsgeschichte des Textes bedingt, die wahrzunehmen sich unbedingt lohnt.

2. Johannes XXIII, Jules Isaac, Kardinal Bea und Nahum Goldmann

Dass es zur Entstehung von "Nostra Aetate" kam und dass dieses Projekt im Verlauf diverser ernster Krisen nicht unterging, liegt auch darin begründet, dass hier sozusagen die richtigen Personen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort aufeinander trafen.

Der 1958 zum Papst Johannes XXIII. gewählte 77jährige Angelo Guiseppe Roncalli wurde unterschätzt. Man nannte ihn aufgrund seines hohen Alters "Papa di passagio", einen "Papst des Übergangs". Tatsächlich aber führte er seine Kirche in einen Prozess weitreichender Veränderungen und initiierte so einen ganz anderen "Übergang": Nur 80 Tage nach Amtsantritt gab Johannes XXIII. seine Entscheidung zur Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils bekannt, von dem er sich eine grundlegende Erneuerung der Katholischen Kirche erhoffte.

Während des Zweiten Weltkrieges hatte Monsignore Guiseppe Roncalli das jüdische Schicksal im Holocaust sehr genau wahrgenommen und sich als Apostolischer Legat in der Türkei intensiv um Fluchthilfe für verfolgte Juden bemüht. Nach seiner Wahl zum Papst erregte er auch in den jüdischen Gemeinden Aufmerksamkeit, als er 1959 aus dem katholischen Karfreitagsgebet das Wort "perfid" ("treulos") über die Juden streichen ließ.

Dies nährte bei dem bekannten französischen Historiker Jules Isaac die Hoffnung, dass im Zuge des geplanten Konzils auch eine Revidierung des kirchlich tradierten Vorwurfs des "Gottesmordes" geschehen könne. Jules Isaac hatte seine Frau und seine Tochter im Holocaust verloren. Noch im Untergrund vor den NS-Schergen versteckt schrieb er an seinem Buch "Jésus et Israël" (2), in dem er die antijüdischen Traditionen der Kirche als Wegbereiter des modernen Antisemitismus aufzeigt.

Jules Isaac war Mitbegründer der französischen christlich-jüdischen Dialoggruppe "Amitié Judéo Chrétienne" und einer der wichtigsten jüdischen Dialogpartner auf der 1947 in Seelisberg (Schweiz) durchgeführten internationalen Konferenz von Christen und Juden über den Antisemitismus. Diese Konferenz beschloss die sogenannten "Seelisberger Thesen", ein Aufruf zur Überwindung des kirchlich tradierten Antijudaismus. Ebenfalls wurde in Seelisberg ein Beschluss zur Gründung des "Internationalen Rates der Christen und Juden" gefasst, in dem seither die Dialogarbeit der Christlich-jüdischen Gesellschaften in inzwischen über 30 Staaten auf internationaler Ebene koordiniert wird.

Die Konferenz von Seelisberg markiert den Beginn einer im Zeichen des Holocaust stehenden weltweiten Umkehrbewegung in den Kirchen, die sich zum Ziel gesetzt hat, in Aufarbeitung der katastrophalen Geschichte zwischen Christen und Juden zu einem tiefgreifenden neuen Verhältnis der beiden Glaubensgemeinschaften zu gelangen. Träger dieser Umkehrbewegung waren anfangs zumeist Einzelpersonen bevor zunehmend auch Kirchen in Grundsatzdokumenten ihre Haltung zum Judentum auf eine neue Grundlage stellten. Mit der Erklärung "Nostra Aetate" verschaffte das Zweite Vatikanische Konzil dem bisher regional begrenzten bilateralen christlich-jüdischen Dialog den Durchbruch auf globaler Ebene. Doch zunächst musste die Erklärung überhaupt erst auf die Tagesordnung des Konzils gelangen.

Um die Überwindung antijüdischer Traditionen der Kirche auch zum Thema der Konzilsberatungen zu machen, bemühte sich Jules Isaac um eine Audienz mit Papst Johannes XXIII., die durch Vermittlung u.a. des ehemaligen Präsidenten Frankreichs Vincent Auriol 1960 zustande kam.

Jules Isaac übergab dem Papst ein Dossier, in dem u.a. auf der Linie der Seelisberger Thesen eine Richtigstellung falscher und ungerechter Aussagen über das Judentum in der christlichen Lehre enthalten war. Johannes XXIII. entließ Jules Isaac mit den Worten, dass er Hoffnung haben könne, allerdings: "eine Angelegenheit wie diese bedürfe der Beratung und des Studiums durch die zuständigen Stellen. ‚Was Sie hier sehen ist ja keine absolute Monarchie'" (3).

Der Papst beauftragte den deutschen Jesuiten Augustin Kardinal Bea, dem Leiter des in der römischen Kurie gerade installierten Sekretariates für die Förderung der Einheit der Christen, die Klärung der anstehenden Fragen in den Katholisch-Jüdischen Beziehungen zu bearbeiten. Der erfahrene Kurienkardinal Bea wollte das aufgetragene Thema nicht allein von einer kirchlichen Kommission bearbeiten lassen, sondern suchte von Anfang an den Kontakt zu jüdischen Vertretern, um die anstehenden Fragen so weit wie möglich auch im Dialog zu klären. Seine Initiative führte zu der ersten offiziellen Kontaktaufnahme überhaupt zwischen dem Vatikan und dem Jüdischen Weltkongress. Dessen Präsident Nahum Goldmann entschied dann nach einer Anfrage von Kardinal Bea und in enger Abstimmung mit Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik, der damals höchsten Autorität der jüdischen Orthodoxie, dass die jüdische Seite bereit sei, eine Stellungnahme zu den Problemen in den christlich-jüdischen Beziehungen aus ihrer Sicht dem Vatikan zu übergeben (4).

3. Konflikte um den Konzilstext

Das 1962 überbrachte jüdische Memorandum betonte die Geltung der Menschenrechte und die daraus sich ergebende Notwendigkeit des Kampfes gegen den Antisemitismus. Es wies auf antijüdische Traditionen der Kirche hin, die insbesondere in Riten, Inschriften, Bildern und Gedenkfeiern fortbestünden. Diese stünden im Widerspruch zu dem Gebot der Nächstenliebe, welches sich auch auf die prophetische Einsicht gründe, dass alle Menschen Geschöpfe Gottes seien (5). Das Memorandum wurde in die weiteren Beratungen von Kardinal Bea und seiner Kommission eingebracht.

Noch bevor aber Kardinal Bea einen ersten Entwurf eines "Decretum de Judaeis" einbringen konnte, wurde das Projekt vom Nahostkonflikt eingeholt. Arabische Delegierte witterten eine "zionistische Verschwörung" und verlangten die Einbeziehung des Verhältnisses zum Islam. Es gab auch anderen Widerstand: Bischöfe aus Asien sahen in dem vorgeschlagenen Dekret zum Judentum ein "europäisches Problem"(6) und forderten die Klärung der Beziehungen zu den asiatischen Religionen.

Einzelheiten der nun einsetzenden Konflikte und Krisen sind aus der Sicht jüdischer Beobachter des Konzils höchst instruktiv nachzulesen in den Erinnerungen von Gerhard Riegner, dem ehemaligen Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses (7).

4. Nostra Aetate - Dialog in der Haltung eines offenen und selbstkritischen Inklusivismus

Am Ende der Debatten, manchen Streits und schwerer Krisen stand der uns bekannte Text "Nostra Aetate", der der ursprünglich intendierten Erklärung über das Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft einen Abschnitt über den Islam sowie über andere Religionen dieser Welt vorschaltet. Die Vorschaltungen lassen Spuren ihrer späteren Einfügung erkennen. Sie formulieren grundsätzliche Perspektiven und lassen die Tiefe und detaillierte Argumentation vermissen, die den Abschnitt über das Judentum prägen.

So gesehen ist die Konzilserklärung zunächst ein klassisches Kompromisspapier eines großen - und in diesem Fall eines sehr großen - Gremiums. Es gibt aber auf diese Weise auch sehr gut die Diskussionslage während des Konzils wieder. Und, was noch wichtiger ist: "Nostra Aetae" hat trotz seines Kompromisscharakters die bilateralen Gespräche der Kirchen mit dem Judentum und dem Islam als auch den mulilateralen interreligiösen Dialog produktiv beeinflusst und gefördert.

Die Konzilserklärung dokumentiert einen Übergang von der klassischen exklusiven Haltung des Vatikan (kein Heil außerhalb der - katholischen - Kirche) zu einer inklusiven Einstellung. Diese kann Wahrheiten und Erfahrungen des Heiligen auch in anderen Religionen anerkennen, während sie zugleich an der christlichen Überzeugung der durch Christus vermittelten Offenbarung Gottes festhält. Dabei ist zu erkennen, dass der Inklusivismus der Erklärung sich streckt und sich um weitere Öffnung bemüht. Christian M. Rutishauser hat m.E. zutreffend diese Haltung als "offenen und selbstkritischen Inklusivismus" beschrieben (8). D.h. "Nostra Aetate" argumentiert nicht auf der Linie eines strengen Inklusivismus, wonach die Erfahrungen anderer Religionen prinzipiell von der Offenbarung in Christus überhöht werden. Er ist bemüht, das Selbstverständnis anderer Glaubensweisen so weit wie möglich in die eigenen Reflektionen einzubeziehen.

Der Text versucht auch nicht, die Weltreligionen unter einem abstrakten allgemeinen Religionsbegriff zusammenzufassen. Er stellt neben seine Überlegungen zu einem grundsätzlichen Anerkennen der Erfahrungen von Wahrheit und Heiligkeit in außerkirchlichen Gemeinschaften das Wissen, dass sich die Kirche den spezifischen Beziehungen zu den jeweiligen Religionen stellen muss. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Judentums, als des allernächsten Nachbarn der Kirche. Dies gilt auch in Bezug auf den für Christen und Juden nahen Nachbarn Islam. Schließlich wird mit dem Hinweis auf den Hinduismus und den Buddhismus auch die Aufgabe des Dialogs mit den asisatischen Religionen in das Blickfeld genommen.

Das Bemühen, in der Wahrnehmung der Vielfalt der Religionen die Notwendigkeit der spezifischen bilateralen Dialoge nicht aus den Augen zu verlieren, bleibt m.E. einer der nachhaltigen Impulse von "Nostra Aetate". Es kann keine ernstzunehmende christliche "Theologie der Religionen" geben, ohne Reflektion der besonderen Beziehungen zum Judentum, der spezifischen Beziehungen zum Islam und der Klärung des jeweiligen Verhältnisses zu den weiteren Religionsgemeinschaften.

In Bezug auf das Judentum nimmt "Nostra Aetate" zentrale Themen des christlich-jüdischen Dialogs auf, insbesondere die Fortdauer des Sinai-Bundes als konstitutives Element des jüdischen Glaubens. Mit Blick auf den Islam wird daran erinnert, dass Muslime "den alleinigen Gott anbeten". Damit sind zwei Kernthesen aus den jeweiligen bilateralen Gesprächen benannt, die im Zentrum des Lernprozesses der Kirchen stehen, ihr Verständnis des jüdischen und des islamischen Glaubens zu erneuern. Es war eine Schwäche des EKD- Textes "Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen" (Juni 2003), diese Kernthemen nicht einzubeziehen. So wurde die Chance vergeben, mit entscheidenden Entwicklungen in den bilateralen Dialogen in das Gespräch einzutreten.

Mit "Nostra Aetate" ist eine Entwicklung im Dialog erreicht, hinter die wir nicht mehr zurückfallen sollten, weder im Verhältnis zum Judentum, noch zum Islam und auch nicht in den Bemühungen um eine "Theologie der Religionen"!

In der Konzilserklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen hat die Katholische Kirche mutig und beharrlich Neuland betreten. Da wird der Wunsch geweckt, dass dieser nachhaltige Impuls auch Mut und Fantasie für die Belebung der katholisch-protestantischen Beziehungen fördern möge.

Anmerkungen:
1. Vgl. zur Entstehung von "Nostra Aetate": Das Zweite Vatikanische Konzil: Dokumente und Kommentare, Lexikon für Theologie und Kirche, EB. II, (Freiburg et al, 1967).
2. Isaac, Jules, Jésus et Israel. Paris 1948, dt.: Jesus und Israel, Wien 1968.
3. Johannes Oesterreicher, in: s. Anm. 1, 406f.
4. vgl. Gerhart M. Riegner, Niemals verzweifeln, Sechzig Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte, Gerlingen 2001, S. 327ff.
5. vgl. ebd., S. 333f.
6. Christian M. Rutishauser, S.J., Jewish-Christian Dialogue and the Theology of Religions, in: Studies in Christian-Jewish Relations Volume I, Boston, USA, 2005-2006, (http://escholarship.bc.edu/scjr/vol1/iss1/art7), S. 54
7. S. Anm. 4.
8. Rutishauser, s. Anm. 6., S. 61.

Friedhelm Pieper, Pfarrer in Bad Nauheim, 1998 bis 2004 Generalsekretär des "Internationalen Rates der Christen und Juden".

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