Sarah und Hagar - zwei sehr unterschiedliche Frauenbiografien
Theologische Reflexionen jüdischer, christlicher und muslimischer Quellen
von Annette Mehlhorn

"1Sarai aber, die Frau Abrams, hatte ihm keine Kinder geboren. Sie hatte jedoch eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. 2Und Sarai sagte zu Abram: "Sieh doch, Gott hat mir Kinder versagt -so geh doch zu meiner Magd; vielleicht bekomme ich von ihr einen Sohn." Und Abram hörte auf die Stimme von Sarai. 3Und Sarai, die Frau Abrams, nahm Hagar, die Ägypterin, ihre Magd, zehn Jahre nachdem Abram im Land Kanaan ansässig geworden war; und sie gab sie ihm, dem Abram, ihrem Mann, zur Frau. 4Und er ging zu Hagar, und sie wurde schwanger. Als sie merkte, dass sie schwanger war, da wurde ihre Herrin kleiner in ihren Augen. 5Da sprach Sarai zu Abram: "Meine Unbill (komme) auf dich. Ich selbst habe dir meine Magd an deinen Busen gegeben. Und (seit) sie sieht, dass sie schwanger ist - bin ich kleiner geworden in ihren Augen. Gott soll richten zwischen mir und dir." 6Und Abram sprach zu Sarai: "Siehe, deine Magd ist in deiner Hand. Mach mit ihr, was dir gut dünkt in deinen Augen." Als Sarai sie hart behandelte, floh sie weg von ihr. 7Und Gottes Engel fand sie am Wasserbrunnen in der Wüste, an dem Brunnen auf dem Weg nach Sur; 8und sprach: "Hagar, Magd der Sarai, woher kommst du und wohin gehst du?" Und sie sprach: "Vor Sarai, meiner Herrin, bin ich auf der Flucht." 9Und Gottes Engel sprach zu ihr: "Kehr um zu deiner Herrin und beuge dich unter ihre Hand." 10Und Gottes Engel sprach zu ihr:
"Ich will deine Nachkommenschaft reichlich mehren,
und sie werden wegen der Menge nicht gezählt werden können."
11Und Gottes Engel sprach zu ihr:
"Sieh, du bist schwanger und du wirst einen Sohn gebären,
und du sollst seinen Namen Ismaèl (Gott hört) nennen,
denn hat dein Elend gehört.
12Er wird ein Wildpferdmensch werden.
Seine Hand gegen alle, und die Hand aller gegen ihn,
und vor dem Angesicht aller seiner Geschwister wird er sitzen."
13Und Hagar nannte den Namen Gottes, der mit ihr geredet hatte: "Du bist ein Gott, der mich sieht", denn sie sprach: "ich habe wirklich Gott hinterhergesehen, der mich gesehen hat." 14Deshalb heißt der Brunnen "Brunnen des Lebendigen, der mich sieht (Lachai Roj)". Er liegt zwischen Kadesch und Bared. 15Und Hagar gebar dem Abram einen Sohn, und Abram nannte den Namen seines Sohns, den ihm Hagar geboren hatte, Ismaèl. 16Und Abram war 86 Jahre alt, als Hagar dem Abram den Ismaèl gebar." (Genesis 16, 1-16 )

Die Erzählung der Geschichte von Sarah und Hagar gehört zu den Wichtigsten, den Sperrigsten, auch zu den verheißungsvollsten Stoffen der Bibel. Auf den ersten Blick erzählt sie eine "typische" Unterdrückungsgeschichte: Sie dreht sich um Frauen, die ausschließlich über ihre Gebärfunktionen definiert werden, um Überordnung und Unterordnung zwischen einer Mächtigen und einer Abhängigen, um Diskriminierung und um jene besondere Form der Konkurrenz zwischen Benachteiligten die letztlich den Mächtigen zugute kommt. Zugleich handelt sie für Jüdinnen, Christinnen und Musliminnen von den beiden Stammütter ihres Glaubens: Sarah für die jüdische und christliche Tradition, Hagar für die muslimische Tradition. Aus diesem Grund nennen sich die interreligiösen Frauenforen zwischen Jüdinnen, Christinnen und Musliminnen "Sarah und Hagar". In diesen Initiativen geht es uns um das, worum es auch in der oben zitierten Geschichte geht: Um Religion, Politik und Gender. Die interreligiöse Begegnung, die dabei geschieht ist nämlich nicht nur eine im "Hause Abrahams", wie der Begriff "Abrahamische Religionen" oft nahe legt, sondern wir begegnen uns im Hause Abrahams, Sarahs und Hagars. Wo dieses Haus sich befindet, wer daran gebaut hat, aus welchen Bausteinen es besteht und welche Kinder darin wie miteinander umgehen - darüber gehen die Traditionen auseinander. Ein wichtiger Teil der Verstehensbemühungen zwischen den Religionen besteht darum darin, uns diese Traditionen neu zu erzählen, sie neu zu verstehen und auszulegen:

Sarah - hier heißt sie noch Sarai - wird als die starke, die Herrscherin, die Bestimmerin dargestellt. Ihr Name Sara (er hat dieselbe Wurzel wie "Israel") bedeutet so viel wie "Ministerin", aber auch "Kämpferin". Hagar ist eine Fremde, eine Sklavin. In ihrem Namen ist das hebräische Wort "Ger" enthalten, was so viel heißt wie "Fremdling". Hagar wird zur Leihmutter für ihre Herrschaft, die Eheleute Sarai und Abram. Bis in ihre intimsten körperlichen Funktionen hinein wird sie ausgebeutet. Kein Wunder, dass sie ihre Schwangerschaft nutzt, um ihrerseits Sarai eins auszuwischen. Sie trifft sie an ihrem empfindlichsten Punkt nämlich dort, wo Sarai selbst kein Subjekt ist, sondern lediglich in ihrer Funktion als Gebärerin gesehen wird. Daraufhin nutzt Sarai ihre Vormachtstellung um Hagar zu vertreiben.

Diese erste Ebene der Erzählung ist auch im christlichen Kontext vor allem von Frauen aus armen oder kolonialisierten Ländern immer wieder als typische Unterdrückungsgeschichte ausgelegt worden : Hagar ist hier die "andere", die "Fremde", die der Macht unterworfene. Wie heute die Frauen aus Osteuropa, Asien oder Afrika muss sie im Haus der Reichen Sklavendienste tun: Als Prostituierte, als Altenpflegerin, als Kinder- und Putzfrau, als Leihmutter. Sie erfüllt Aufgaben, die innerhalb der herrschenden Ordnung zunächst den Frauen zugeschrieben werden. Dass diese nur über ihre Funktion, nicht über ihr selbständiges Auftreten definiert werden, macht alle Frauen zu Opfern dieser Ordnung. Doch die Geschichte zeigt auch, dass es innerhalb solcher Unterdrückungsstrukturen Frauen erster und zweiter Klasse gibt.

Ich schlage einen ersten Bogen zu unserer Arbeit innerhalb der Sarah-Hagar-Gruppe. In einem vierjährigen, oft sehr schwierigen und konfliktreichen Prozess haben wir in dieser Gruppe Leitlinien für die Familien-, Arbeits- und Bildungspolitik entwickelt. Dabei haben wir uns an zwei Grundprinzipien orientiert: Diese Leitlinien sollen erstens der gerechten Verteilung von Rechten und Pflichten zwischen den Geschlechtern dienen. Sie sollen zweitens den unterschiedlichen Traditionen und Bedürfnissen von Frauen und Männern aus den drei Herkunftsreligionen gerecht werden. Es war nicht immer einfach, diese beiden Prinzipien in ein angemessenes Gleichgewicht miteinander zu bringen. Im Falle der Leitlinien zum Thema "Familie" wurde aber eines deutlich: Wir sind uns einig darüber, dass die Abwertung, die alle Aufgaben im Bereich der Familie in unserer deutschen Gesellschaft erfahren, nicht der grundlegenden Bedeutung der Familie für das soziale Zusammenleben entspricht. Und wir sind uns einig in der Einschätzung, dass nur, wenn Männer und Frauen gemeinsam Verantwortung für die Familie übernehmen (und, im Falle der Männer, auch übernehmen dürfen!), dieser Tatsache entgegengewirkt werden kann. Wer Familienaufgaben erfüllt (egal, ob das Männer oder Frauen sind), hat ein Recht auf besonderen Schutz und besondere Achtung durch die soziale Gemeinschaft: Das betrifft den Schutz vor Gewalt, die Sicherung jener Versorgungsansprüche, die auch für andere Arbeit in der Gesellschaft geltend gemacht werden und das Recht auf erfüllende und selbstbestimmte Tätigkeiten auch außerhalb der Familie. Letzteres betrifft insbesondere den erwerbstätigen Bereich und den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten.

Die Geschichte im Buch Genesis - sie geht im Kapitel 21 weiter und erzählt dann davon, wie Sarah Hagar endgültig in die Wüste schickt, nachdem sie selbst einen Sohn geboren hat - stellt heraus, dass genau in dieser Achtung der sorgenden Person das liegt, was Gott will: Denn ein Engel Gottes ist es, der Hagar in ihrer Not sieht und stärkt. Und es ist Hagar, die Sklavin, die die große Ehre der Verheißung erfährt: "Ich werde deine Nachkommenschaft reichlich mehren, und sie werden wegen der Menge nicht gezählt werden können." Eine Verheißung, die VOR derjenigen an Abraham in Genesis 17 geschieht und ihr ebenbürtig ist.

Angesichts dieser Verheißung lohnt ein Blick in die Muslimischen Traditionen zu Hagar als der Stammmutter der Muslime und Musliminnen. Dort wird in der Tat Sarah weniger mit Aufmerksamkeit bedacht als Hagar - oder Hajar, wie sie auf arabisch heißt. Hajar wird - ähnlich wie in Genesis 21 - zusammen mit ihrem Sohn Ismail von Abraham in der Wüste ausgesetzt. Sie ist verzweifelt, denn sie hat kein Wasser für sich und das Kind. Ismail schreit vor Hunger und Durst. Daraufhin macht sich Hajar auf den Weg um von den umliegenden Hügeln Ausschau nach Rettung zu halten. Sieben Mal rennt sie zwischen den Hügeln As-Safa und Al-Marwa hin und her. Als sie zu Ismael zurückkehrt, stampft dieser vor Hunger und Durst in den Sand. Da öffnet sich die Quelle Zam Zam, die Quelle des Lebens und bietet Zukunft und Hoffnung für Mutter und Kind.

Hajar wird so zum Inbegriff der Mutter des glaubenden Vertrauens und der Beharrlichkeit im Glauben. Bis heute ahmen die Pilger und Pilgerinnen in Mekka ihren siebenfachen Gang zwischen den Hügeln nach um sich selbst in diese Tradition zu stellen. Hajar, die Fremde, die Wanderin wird zur Auserwählten Gottes. Er gibt ihr Kraft, sich aus der Unterdrückung zu befreien indem sie ein neues Leben aufbaut. "Der Islam zeigt sich auch nach fast fünfzig Jahren Migrationsgeschichte als eine Religion der Wanderin, der flüchtenden Hajar, also als eine Religion ohne Lobby." - schreibt Naime Cakir, eine der Frauen aus der hessischen Sarah-Hagar-Gruppe . "Eben als Religion der ‚Gastarbeiter'. Sie wollten der Armut, manche auch den Kriegen und der Verfolgung in ihren Heimatländern entkommen." Jetzt fühlen sich die Menschen der dominanten Kultur bemüßigt, ihnen zu sagen, was sie zu tun und zu beachten haben. Die Mehrheitsgesellschaft erkennt nicht, dass es sich um Menschen handelt, die ein Recht auf gleiche Achtung und Würdigung als Mitbürger/Mitbürgerinnen haben. Auch in ihrem Anderssein. Erst, wenn wir uns auf Augenhöhe in gegenseitigem Respekt begegnen - so meint Naime Cakir - "werden wir wie Hajar die Quelle des Lebens, das Wasser des Friedens entdecken können". Dass dies auch bedeutet, Konflikte und Differenzen auszuhalten und auszutragen haben die Frauen der hessichen Sarah-Hagar-Gruppe in den Jahren ihres Zusammenseins gelernt. Was dafür wichtig, aber nicht immer einfach ist, ist im Buch Genesis zu lesen: Die andere sehen, so wie Gott Hagar in der Wüste sieht. - "El-Ro'i", Brunnen des lebendigen Gottes der mich sieht, nennt sie den Brunnen, den Gott ihr in der Wüste zeigt. Die andere hören, so wie Gott Hagars Weinen und Rufen hört. - "Ischma-El", Gott hört, heißt ihr Sohn. Nur wenn wir die anderen im gemeinsamen Haus wirklich wahrnehmen erweisen wir uns, so sagt diese Erzählung, als würdig, uns Ebenbild Gottes zu nennen. Wem sollte das mehr aufgetragen sein als denjenigen, die glauben, dass durch das Kommen Gottes in Jesus als dem Christus Gott uns in jedem menschlichen Antlitz begegnet?

Dass es aber gerade Christen und Christinnen über lange Strecken ihrer Geschichte nicht gelang, andere in ihrer Gottesebenbildlichkeit zu würdigen, zeigt die Wirkungsgeschichte der Sarah-und-Hagar-Erzählung im Verlauf der christlichen Traditionen. Wir kommen, wenn wir uns mit ihr beschäftigen, zu einem dunklen Kapitel der christlichen Geschichte. Es beginnt mit einem polemischen Vergleich des Apostels Paulus im 4. Kapitel des Galaterbriefes:

(21) Sagt mir, die ihr unter der Tora sein wollt, die Tora, hört ihr sie nicht?
(22) Denn es steht geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Sklavin und einen von der Freien.
(23) Aber der (Sohn) der Sklavin ist auf fleischliche Weise gezeugt worden, der (Sohn) der Freien dagegen durch Verheißung. (Gen 16 und 21)
(24) Dies ist allegorisch geredet. Denn diese (Frauen) sind zwei Bundesschlüsse, der eine vom Berg Sinai, der in die Sklaverei gebärt, dieser ist Hagar.
(25) Dies bedeutet aber: Hagar ist der Berg Sinai in Arabien, sie entspricht dem jetzigen Jerusalem, denn es ist Sklavin mit seinen Kindern.
(26) Aber das obere Jerusalem ist frei, sie ist unsere Mutter.
(27) Denn es steht geschrieben: Freue dich, Unfruchtbare, die du nicht geboren hast, juble und jauchze, die du nicht in Wehen gelegen hast, denn zahlreich werden die Kinder der Einsamen sein, mehr als (die Kinder) derer, die den Ehemann hat. (Jes 54,1)
(28) Ihr aber, Brüder und Schwestern, seid wie Isaak Kinder der Verheißung.
(29) Aber wie damals der auf fleischliche Weise Gezeugte den auf geistliche Weise Gezeugten verfolgte, so auch jetzt. (Gen 21,9)
(30) Aber was sagt die Schrift? Verstoße die Sklavin und ihren Sohn, denn der Sohn der Sklavin soll nicht mit dem Sohn der Freien erben. (Gen 21,10)
(31) Deshalb, Brüder und Schwestern, sind wir nicht Kinder der Sklavin, sondern der Freien.

Mit einer einfachen Formel wurde diese Passage später auf den Punkt gebracht: Judentum=Hagar=unfrei=irdisches Jerusalem. Christentum=Sarah=frei und erwählt=Himmlisches Jerusalem. Paulus, selber Jude und Schriftgelehrter, hat mit dieser polemischen Gegenüberstellung sicher nicht intendiert, was später aus der Geschichte gemacht wurde. Er selbst nutzte das Bild der beiden Frauen, um eine bestimmte Pointe im Blick auf die umstrittene Frage der - notwendigen oder nicht notwendigen - Beschneidung von Heidenchristen herauszustellen. Doch schon er begann, die beiden Frauen als Bilder kollektiven Identitäten zu benutzen, die polar den "guten, freien" oder den "bösen, unfreien" zugeordnet wurden. Damit legte er den Grundstein für einen Missbrauch der Geschichte dieser beiden Frauen, der sich später verschärfte.

Zunächst - in der Zeit, bevor das Christentum Staatsreligion wurde - ging es bei Kirchenvätern wie Originies und Tertullian wohl vor allem um das Austragen einer Konkurrenz zwischen den jungen christlichen Gemeinden und den jüdischen Gemeinden ihrer Zeit. Die Kirchenväter bauen christliche Identität auf, indem sie das Judentum abwerten. Nicht gerade fein, aber unter Bedingungen gleichberechtigter Konkurrenz vielleicht noch verzeihlich. Nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, machte sich in solchen Interpretationen immer mehr ein stark antijudaistischer Zug breit, der in späteren Zeiten Anlass für Verfolgungen und Pogrome bot.

Unter Bedingungen christlicher Vorherrschaft wird die Abgrenzung der guten, freien Kirche (Sarah) von der bösen, geknechteten Synagoge (Hagar) zum Instrument für Verachtung und Diskriminierung. Inbegriff dieser polaren Gegenüberstellung ist das Bild der blinden, geschlagenen Synagoge im Gegenüber zur strahlenden Siegerin Kirche, wie es beispielsweise am Straßburger Münster in Stein gehauen ist. Damals wie heute hatte eine solche verächtliche Haltung spürbare Auswirkungen auf das Zusammenleben. "Der Antijudaismus begann, sich in sozialen und rechtlichen Beschränkungen für Juden auszuwirken und die negative Sicht von Juden als ‚den Anderen' wurde zur grundlegenden Lehre der Kirche." (Papst a.a.O. S. 64). Parallelen zu heutigen Klischees und Vorurteilen sind kaum vermeidlich: was geschieht anderes, wenn wir heute kopftuchtragende Frauen zum Inbegriff einer verachtenswerten Religion stilisieren und ihnen den Zugang zu elementaren Rechten verwehren?

Wir wissen, wo der christliche Antijudaismus endete. Wenn ich in interreligiösen Gesprächsrunden gefragt werde, worin meine besondere christliche Motivation zum interreligiösen Dialog liegt, antworte ich meist mit folgenden Worten: Es ist mir als Christin nie ein schrecklicheres Spiegelbild vor Augen gehalten worden als jenes, in dem Juden und Jüdinnen das Bild des Gekreuzigten als einzig angemessenes Symbol für das nahmen, was ihnen durch Christen und Christinnen im Laufe der Jahrhunderte angetan wurde . Dieses Bild sagt uns nämlich, dass wir mit jedem Menschen, den wir wegen seines Andersseins verachten und ermorden, Christus selbst quälen und töten.

Betrachten wir den Umgang mit den beiden Frauen Sarah und Hagar in der christlichen Tradition unter Gendergesichtspunkten, wird außerdem deutlich, wie Frauenfiguren als entleerte Hüllen im Rahmen patriarchaler Symbolik missbraucht werden - auch das ist im Fall der kopftuchtragenden Muslimas nicht viel anders. "Als Mütter verkörpern sie positive Aspekte wie Schutz, Sorge, Furchtbarkeit und Ordnung, ähnlich, wie die weiblich dargestellten Städte . Doch auf der anderen Seite basiert die Allegorisierung von Frauen auf der Entfernung realer Frauen zugunsten der Illustrierung einer abstrakten Idee." Auf diese Weise findet hier eine doppelte Diskriminierung statt: Die Diskriminierung von realen Frauen wegen ihres Frauseins und die Diskriminierung einer religiösen Gruppe, im Falle der "Frau Synagoge" der Juden und Jüdinnen.

Diese doppelte Diskriminierung ist bis heute typisch für viele Diskriminierungssituationen, soweit sie Frauen betreffen. Darum haben wir Sarah-Hagar-Frauen uns in unseren Leitlinien für die Sozialpolitik an vielen Stellen genau dieser Diskriminierungsstruktur zugewandt. Frauen wurden und werden als Frauen sowohl innerhalb ihrer Herkunftskulturen als auch innerhalb der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert. Sie werden als Mitglieder von Minderheitskulturen doppelt, bzw. letztlich dreifach diskriminiert. Dies ist in patriarchalen Strukturen das Schicksal von Frauen aus Minderheitenkulturen. Es lässt sich exemplarisch am Beispiel von Freuds "Anna O", der ersten Patientin psychoanalytischer Forschung zeigen, die als Berta Pappenheim später Vorsitzende des jüdischen Frauenbundes und Leiterin eines jüdischen Waisenheims in Neu Isenburg wurde und deren Geschichte erst in den letzten Jahren wieder an das Licht der Öffentlichkeit tritt . In unseren Leitlinien haben wir darum besonders in den Leitlinien zum Thema "Arbeit" und "Bildung" darauf hingewiesen, dass Frauen aus Minderheitenkulturen oder diskriminierten Gruppen besonderer Förderung bedürfen, damit das grundgesetzlich garantierte Recht auf Gleichberechtigung eingelöst werden kann. Dass dies nicht nur Frauen aus religiös diskriminierten Gruppen betrifft, sondern auch innerhalb ein und derselben religiösen Gruppierung der Fall sein kann, haben uns Christinnen die Theologinnen aus anderen christlichen Kulturen, besonders die afroamerikanischen womanistischen Theologinnen nahe gebracht.

In der Geschichte der beiden Stammmütter des jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubens eröffnen sich weitere Verstehensmöglichkeiten, wenn wir uns der jüdischen Auslegung zuwenden . Zunächst ist eine wichtige Türe zum Verstehen der biblischen Texte anregend: Nach jüdischem Verständnis gibt es hier eine Gleichzeitigkeit von Zeit und Menschen damals und heute. Hier können wir nicht sagen: Mit diesem Menschen identifiziere ich mich und jene andere Person hat mit mir nichts zu tun. Vielmehr scheint in allen Figuren etwas auf, indem wir uns heute wieder erkennen können - ähnlich, wie in der Traumdeutung. Wenn wir die Geschichte so ansehen, sagt die Rabbinerin Elisa Klapheck, dann finden wir in den beiden Frauen zwei urjüdische Momente wieder: das Fremdsein, das nach jüdischem Verständnis eine Auszeichnung ist, und das Starksein - Sara - das Ringen mit Gott. Sarah wird also Gottesstreiterin genannt, lange bevor Jakob in seinem Kampf am Jabbok den Namen Isra-El bekommt. Jenen Namen, unter den auch die christliche Gemeinschaft sich stellt, indem sie die Hebräischen Traditionen übernimmt und der Kirche den Titel "Neues Israel" gibt. Eine Auszeichnung, die nach jüdischem Verständnis vor allem darin liegt, dass die einzelnen Gläubigen sich als Menschen verstehen, die mit Gott ringen und streiten.

Hagar - die auch nach jüdischer Tradition die Mutter eines anderen Zweiges der Familie ist, nämlich die Mutter der Ismaeliten, als deren Nachkommen die Araber gelten - erfährt durch die Erfüllung der Verheißung Würdigung und Ehre. So, wie überhaupt alle aufgerufen sind, das Fremde und die Fremden zu achten und zu schützen. "(ich) wünsche mir eine politische Kultur, die diese beiden Leitmotive zum Ausgangspunkt nimmt: Das Anderssein, ebenso wie das kämpferische Starksein" - führt Elisa Klappheck aus . Dass gerade in dieser Verbindung eine eigene kraftvolle Tradition von Frauen liegen kann, zeigen die rabbinischen Auslegungen zu den Stammeltern Sarah und Abraham im Midrasch Bereschit Raba (53:17). Sie heißen in unserer Geschichte noch Sarai und Abram. Die Rabbinen erzählen, wie es zum Namenswechsel kam: Mit dem JOD in ihrem Namen enthielt Sarai ursprünglich den gesamten Bestand des unaussprechlichen göttlichen Namens . Sie teilte das JOD auf in zwei Mal HE - so bekam SaraH ein HE und AbraHam ebenfalls. Auf diese Weise haben nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer Anteil am Ewigen und Heiligen.

In der Tat gehören die Erfahrung unserer Kraft, auch jener Kraft, mit der wir Differenzen und Konflikte aushalten können ohne dass eine von uns sich zum Opfer dieser Konflikte stilisieren muss, zum Wichtigsten, was wir in der Arbeit unter uns Sarah-Hagar-Frauen gelernt haben. Unsere Impulse verstehen wir als einen Beitrag, anderen etwas von dieser Kraft abzugeben: Denn wir wollen, dass auch Männer ein gleiches Recht haben, Aufgaben in der Familie zu übernehmen. Wir wollen der Gemeinschaft, dem Sozialwesen die Chance geben, von Frauen und Angehörigen anderer Kulturen und Religionen zu profitieren, indem sie gleichberechtigt beteiligt werden. Der Schmerz der ausgegrenzten Hagar ist ein starker Schmerz - er ist aber nicht derjenige eines wehrlosen Opfers. Gemeinsam haben Sarah und Hagar Anteil an der Verheißung, die letztlich für die gesamte Menschengemeinschaft gilt: In aller Unterschiedlichkeit und Vielfalt als Gottes Ebenbild (jüdisch und christlich), in Nachfolge Christi oder als Gottes StellvertreterInnen (muslimisch) die Welt zu gestalten.

Dieser Artikel beruht auf Predigt am 14.11.2005 in der Reihe Gotteskünderinnen - Montagspredigten zu sozialpolitischen Themen in der Stuttgarter Leonhardskirche
In der Übersetzung von "der gottesdienst. Liturgische Texte in gerechter Sprache" Bd. IV Die Lesungen
Vgl. z.B. Jessica Grimes: Reinterpreting Hagar's Story. In lectio difficilior I/2004 http://www.lectio.unibe.ch.
Naime Cakir, Sara und Hajar. Unveröffentlichtes Manuskript, aus dem auch die meisten der übrigen Informationen zu Lesweiten der Haja-Traditionen im Islam stammen.
Übersetzung Irene Papst, von der auch die meisten der im folgenden verarbeiteten Informationen stammen. Vgl. dies. Wenn die Enkelinnen Sarahs und Hagars miteinander reden. Zur christlichen Auslegungsgeschichte von Galater 4, 21-31 in: Hrsg. Leony Renk: Interreligiöses Bibliodrama . Schenefeld 2005 S. 55-68 und: dies. The interpretation of the Sarah-Hagar-stories in rabbinic and patristic literature. Sarah and Hagar as female representations of identity and difference. In lectio difficilior I 2003
( www.lectio.unibe.ch/03_I/(pabst.htm.)
Vgl. z.B. die Verarbeitung diess Motives bei Chaim Potok: Mein Name sei Asher Lev.
gemeint ist Jerusalem als Braut bei Jesaja, nicht beachtet wird die Geschichte Babylons als Hure
Papst in lectio difficilior, a.a.O. Übersetzung AM
vgl. Britta Konz Bertha Pappenheim (1859-1936) Ein leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation. Frankfurt-New York 2005
vgl. z.B. Eske Wolrad, Wildniserfahrung. womanistische Herausforderung und eine Antwort aus Weißer feministischer Perspektive. Gütersloh 2002
Zum Folgenden vgl. Elisa Klapheck, Sarah und Hagar - zwei jüdische Schicksale.und Irene Papst: Wenn die Enkelinnen Sarahs und Hagars miteinander reden. In Hrsg. Leony Renk Interreligiöses Bibliodrama Schenefeld 2005 S. 46-54 und 55-68
a.a.O. S. 53
Dieser Name JOD-HE-WAW-HE wird gewöhnlich mit den Buchstaben JOD und HE abgekürzt und darf/kann nicht ausgesprochen werden.

Erstveröffentlichung in epd-Dokumentation Nr. 6 / Januar 2006. Die Ziffern der Anmerkungen wurden bei der Konvertierung leider ausgeblendet.
Auf der Homepage www.bendorferforum.de finden Sie demnächst Informationen über die Sarah-Hagar-Arbeit.

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