Aufruf an die Kirchen aller Konfessionen in unserem Land
Erinnerung und Umkehr
Für einen offiziellen kirchlichen Gedenktag am 9. November
Mit dem Angriff auf die Juden, ihre Synagogen, ihre heiligen
Schriften und ihr wirtschaftliches und soziales Leben am 9. November 1938
offenbarte das Naziregime das Ziel, mit dem jüdischen Volk auch die
Erinnerung und den Glauben an den Gott Israels auszulöschen.
Die Kirchen ließen diese Verbrechen an den Juden
in mutlosem Schweigen geschehen. Einzelne Christen, die den Weg des Martyriums
gingen, konnten sich auf die Unterstützung ihrer Kirche nicht verlassen.
Zu tief verwurzelt waren im europäischen Christentum Ablehnung und
Ausgrenzung der Juden. Zweitausend Jahre christliche Judenfeindschaft
machten gefühllos gegenüber dem staatlich propagierten Judenhass
und der organisierten Vernichtung. Für die NS-Führung war der
Novemberpogrom der Test, der ihr zeigte, dass sie bei der Judenverfolgung
nun freie Hand haben würde.
Obwohl Christen den Juden Jesus als Herrn bekennen, wuchs
in den Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg nur zögernd die Erkenntnis
der Mitschuld am Schicksal der Brüder und Schwestern Jesu. Zunächst
gingen nur wenige den Weg der Erinnerung und Umkehr voran, auf dem dann
Synoden und Kirchenleitungen folgten.
Die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und
Juden aus ihrer gemeinsamen Wurzel (Römer 11) ist uns bleibende Verpflichtung.
Darum sind Erinnerung und Umkehr auch künftig vordringliche und andauernde
Aufgabe aller Christen.
Erinnerung braucht einen festen Ort in der Zeit.
Am 9. November 2008 jährt sich die Reichspogromnacht zum 70. Mal.
Wir rufen die Kirchen in unserem Land auf, bis zum Jahr 2008 den 9. November
als offiziellen kirchlichen Gedenktag,
als Tag der Erinnerung und Umkehr einzuführen.
Wir brauchen ein gemeinsames Zeichen - diesen gemeinsamen Tag -
um unsere Erinnerung an den christlichen Irrweg der Judenfeindschaft,
unseren Schmerz über das Versagen der Kirchen,
unsere Trauer über die Vernichtung der Juden Europas
und unsere Verbundenheit mit dem jüdischen Volk
zum Ausdruck zu bringen.
Tübingen, den 7. September 2005
Dieser Aufruf einer Initiative in Tübingen wird
von der "Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden
(KLAK)" unterstützt. Kontaktadresse: Pfarrer Dr. Michael Volkmann,
Berliner Ring 12/2, 72076 Tübingen
Erläuterungen der Initiative zum Aufruf "Erinnerung
und Umkehr"
Der 9. November gehört als Gedenktag in den Kalender
des Kirchenjahres. Die Kirche gedenkt am 9. November des christlichen
Irrwegs der Judenfeindschaft. Christen sind als Mittäter und Zuschauer
mit schuldig geworden an der Vernichtung der Juden Europas. Die Kirche
als ganze hatte die Verwerfung der Juden gelehrt und ihnen das Recht als
Juden zu leben abgesprochen, lange bevor ihnen die Nationalsozialisten
das Recht auf Leben schlechthin entzogen. Die Kirche muss erkennen, dass
der Völkermord an den Juden ein Angriff auf die Erwählten und
Geliebten Gottes und damit auch auf die Wurzeln des christlichen Glaubens
war.
Der 9. November ist durch keinen anderen Gedenktag zu
ersetzen. Am 27. Januar, dem staatlichen Gedenktag, wird aller Opfer der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht. Am 10. Sonntag nach
Trinitatis, dem Israelsonntag, thematisiert die Evangelische Kirche die
bleibende Erwählung Israels. Der Buß- und Bettag ist ein allgemeiner
Bußtag der Evangelischen Kirche. Mit ihm endet die Ökumenische
Friedensdekade. Unserem Aufruf entspricht es, dem 9. November seinen eigenen
Platz am Beginn bzw. innerhalb der Friedensdekade zu geben.
In der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts kam der
9. November mehrmals zu Bedeutung: 1918 (Revolution), 1923 (Hitler-Putsch),
1938 (November-Pogrom), 1939 (J. G. Elsers Attentat auf Hitler), 1989
(Öffnung der Berliner Mauer). Für die Kirchen hat der 9. November
1938 eine Bedeutung, die nicht nur aus der Reihe dieser Tage herausragt,
sondern weit über das 20. Jahrhundert hinaus wirksam bleiben wird:
die Erinnerung an ihre Passivität, als der Glaube an den Gott des
Alten und Neuen Testaments ausgelöscht werden sollte.
Das Gedenken der schuldig Gewordenen und ihrer Nachkommen
unterscheidet sich vom Gedenken der Opfer und ihrer Nachkommen. Es muss
Gewissen treffendes Gedenken sein, sonst droht die Gefahr, der eigenen
Geschichte auszuweichen, indem man sich unberechtigt auf die Seite der
Opfer stellt. Nicht nur die einzelnen in den nachwachsenden Generationen,
sondern auch die Kirche als ganze ist Trägerin des Gedenkens.
Orte des Gedenkens am 9. November sind Synagogen, Kirchen
und Gedenkstätten. Christliches Gedenken ist nicht erfüllt durch
die Teilnahme an jüdischen Gedenkveranstaltungen. Die christliche
Schuldgeschichte verlangt ein eigenes Gedenken der Kirchen in ökumenischer
und kommunaler Kooperation. Aktivitäten, die zum Gedenken an den
November-Pogrom von 1938 an diesem Tag an vielen Orten von den unterschiedlichsten
Gruppen bereits unternommen werden, sollen in ihrer Vielfalt gewürdigt
und ermutigt werden.
Wir halten einen offiziellen kirchlichen Gedenktag "Erinnerung
und Umkehr" am 9. November für eine Notwendigkeit, deren Zeit
jetzt - zum 70. Jahrestag - gekommen ist. Unser Aufruf richtet sich an
alle Kirchen. Er ist nicht verbunden mit einer Sammlung von Unterschriften.
Kirchliche Gruppen, Gemeinden und Gremien, die sich diesen Aufruf zu eigen
machen, bitten wir, ihn an Kirchenleitungen und Synoden bzw. kirchliche
Beschlussgremien heranzutragen und uns darüber zu informieren. Synoden
bzw. kirchliche Beschlussgremien mögen in einen Diskussions- und
Entscheidungsprozess eintreten und im Lauf des Jahres 2007 zum Beschluss
kommen.
Im Folgenden wird kurz auf drei Fragen eingegangen, die
im Zusammenhang mit dieser Aktion immer wieder gestellt werden:
1. Gibt es nicht schon zu viele Gedenktage?
Es gibt sehr viele Gedenktage, die von den unterschiedlichsten
Organisationen und Gruppen begangen werden. Neue Gedenktage werden geschaffen,
andere geraten in Vergessenheit. Ein Gedenktag lebt davon, dass Menschen
ihn begehen. Am 9. November wird bereits an vielen Orten des Pogroms von
1938 gedacht, von Vereinen, Initiativen, Kommunen, Kirchengemeinden und
vor allem auch von Synagogengemeinden.
Wir sind der Überzeugung, dass die Kirchen in unserem
Land diesen Tag nie vergessen dürfen, weil die Synagogenbrände
für uns Christen theologische Bedeutung haben. Bonhoeffer hat gesagt,
wo Synagogen brennen, brennen bald auch Kirchen. Er sagte dies, weil er
in diesen Angriffen Angriffe auf den Gott der Bibel erkannte. Darum betrifft
uns dieses Datum als gläubige Christen auch. Aber warum haben die
Kirchen nicht mit gebrannt? Wir antworten provokativ: Weil sie von den
Juden weiter weg waren als von den Nazis, also auch von ihrem Herrn, der
ein Jude ist. Weder in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934
noch im Stuttgarter Schuldbekenntnis, als die Evangelische Kirche nach
dem Krieg bekannte: Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder
und Völker gekommen, sind die Juden oder die Verbrechen an den Juden
erwähnt.
Ein aktuelles Beispiel: Mit Datum vom 11.11.05 hat der
Evangelische Oberkirchenrat in Stuttgart an alle Pfarrämter der Evangelischen
Landeskirche in Württemberg ein Rundschreiben mit 13 Gedenktagen
2006 versandt. Kein einziger dieser Tage thematisiert die christlichen
Wurzeln im biblischen Israel oder unser Verhältnis zum Judentum,
keiner die Geschehnisse der Nazizeit. Doch nur, wer sich erinnert, weiß,
wo er herkommt und was er künftig anders machen möchte.
"Israelvergessenheit" war ein Hauptgrund für
christliche Judenfeindschaft. Wir überwinden sie nicht durch Vergessen,
sondern durch Gedenken, nicht durch Schweigen, sondern durch Sprechen.
Diese Aufgabe bleibt uns dauernd erhalten.
2. In welchem Verhältnis steht der 9. November
zu anderen Gedenktagen?
Die angesprochenen theologischen Gründe machen den
9. November zu einem einzigartigen Tag. Sein Anliegen kann nur an diesem
Tag selbst oder vielleicht am direkt nachfolgenden Sonntag besprochen
werden. Am Buß- und Bettag liegt es zu weit zurück und wird
in aller Regel nicht thematisiert. Der Buß- und Bettag ist ein allgemeiner
Bußtag, die Predigttexte für diesen Tag haben keinen Bezug
zum Anliegen des 9. November. Der Bußtag ist Abschluss der Friedensdekade.
Auch in der Friedensdekade und im Bittgottesdienst für den Frieden
kommt das Anliegen des 9. November nicht vor, wenn es nicht schon am 9.
November selbst thematisiert wird. Diese anderen Anlässe bieten sich
hierfür nicht an, sie zielen in eine andere Richtung, manchmal sogar
in eine Israel kritische, ohne auch nur zu erwähnen, wie nahe Kirche
und Israel theologisch zusammen gehören.
Der 27. Januar ist von der UNO zum weltweiten Holocaust-Gedenktag
ausgerufen worden. Bei uns ist er der Tag zur Erinnerung an alle Opfer
des Nationalsozialismus, nicht speziell an die jüdischen Opfer. An
diesem Datum wurde das KZ Auschwitz befreit, tausend km östlich von
hier. Eine emotionale Beziehung zu diesem Tag ist schwer herzustellen.
Der 9. November fand hingegen an jedem Ort in Deutschland, wo Juden lebten,
statt, praktisch vor unser aller Haustür. Darum gibt es auch schon
die vielen örtlichen Initiativen, die diesen Tag nicht einfach ohne
zu gedenken verstreichen lassen.
3. Wie soll das Gedenken am 9. November ausgestaltet
werden?
Wir wollen einen Gedenktag, keinen kirchlichen Feiertag.
Besondere Gedenktage wie etwa der Tag der Übergabe des Augsburger
Bekenntnisses 1530 stehen auch jetzt schon im Liturgischen Kalender im
Evangelischen Gesangbuch. Dort sind ihnen biblische Texte zugeordnet.
Dem 9. November muss auf jeden Fall der 74. Psalm zugeordnet werden.
Das bedeutet aber nicht, dass die Kirchen an diesem Tag
die Gedenkform eines Gottesdienstes vorgeben sollten, wir schließen
sie aber auch nicht aus. Vielmehr soll die bereits bestehende Vielfalt
des Gedenkens gewürdigt und ermutigt werden. In Tübingen z.
B. erscheinen der Stadtrundgang (Geschichtswerkstatt Tübingen e.
V.), die Feier am Denkmal Synagogenplatz (Gemeinderat) und die Gedenkstunde
in der Stiftskirche (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen ACK) neben
einander auf einem Plakat. So soll es auch in Zukunft bleiben. Wir wollen
nicht, dass der kirchliche Gedenktag anderes verdrängt, dominiert
oder vereinheitlicht, sondern es unterstützt, vor allem auch das
jüdische Gedenken an diesem Tag.
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