Ein vielschichtiger Gedenktag
Von Daniel Krochmalnik

Am 9. November 1938 sind nach den akribischen Nachforschungen von Prof. Meir Schwarz in Jerusalem im gesamten Deutschen Reich rund 1500 Synagogen und Betstuben in Brand gesteckt oder demoliert worden. Insgesamt starben etwa ebenso viele Menschen an den Folgen des Pogroms. Es war das größte Pogrom der neueren Geschichte - und doch war es nur der Anfang eines europäischen Pogroms von nie gekanntem Ausmaß.

Nach dem Krieg wurde der 9. November zum offiziellen Gedenktag für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Es war von Anfang an ein vielschichtiges Datum, denn am 9. November 1918 war die Republik ausgerufen worden und das deutsche Kaiserreich untergegangen. Das Datum hatte schon damals eine apokalyptische Färbung. 1921 erschien in Berlin der Roman "Der 9. November" von Bernhard Kellermann (in S. Kaznelsons Juden im deutschen Kulturbereich steht er in der "Tabelle der Nichtjuden, die für Juden gehalten wurden"), der die Niederlage aus der Perspektive eines äußerlich und innerlich erstarrten Generals schildert, über den die Weltrevolution und die Auferstehung und Wiederkehr der Toten von den Schlachtfeldern des 1. Weltkriegs hinweg rollt. Es war eines der meist gelesenen Bücher der Weimarer Republik bis die Nazis es verboten. Sie gaben den "Novembermännern" die Schuld an der Niederlage, sie hätten den "Dolchstoß" in den Rücken des unbesiegbaren Heeres geführt, wie Hagen den Speer in das Schulterblatt Siegfrieds. Die Weimarer Republik war in ihren Augen eine verräterische "Judenrepublik". Hitler wählte fünf Jahre später das symbolische Datum für seinen Putsch in München. Der Coup misslang kläglich, aber seine "Bewegung" hatte jetzt ihre "Blutzeugen" und "Blutfahnen" und ihr "Führer" konnte in der Festungshaft seinen "Kampf" verfassen. Zehn Jahre später war er allmächtig und der 9. November wurde zum "Allerheiligen" des Regimes. Jedes Jahr fand in München zu diesem Anlass eine hochpathetische "Kreuzweg"-Prozession vom Marienplatz zum Königsplatz statt, wo die Namen der "Märtyrer" verlesen wurden. Die Gewaltorgie von 9. zum 10. November 1938 war die genaue Kehrseite des braunen Totenkults. Peter Loewenberg hat es als öffentliches Erniedrigungsritual beschrieben.1 Es richtete sich, wie Rita Thalmann und Emmanuel Feinermann detailliert zeigen2, in allen deutschen Städten gegen die sichtbaren Symbole der "Gegenreligion"; Synagogen, Gesetzesrollen, Kultgegenstände, Zeremonien, Friedhöfe wurden überall lustvoll profaniert. Während des Krieges wurden in ganz Osteuropa die gleichen blasphemischen Akte mit der gleichen Lust wiederholt. Jürgen Stroop, der "Liquidator" des Warschauer Ghettos, schildert nach dem Krieg im Gefängnis: "Als schönen Schlussakkord der Großaktion hatte ich die Sprengung der Großen Synagoge in der Tolmackie-Straße angeordnet. (...) Im Licht der brennenden Häuser standen meine tapferen Offiziere und Mannschaften. (...) Ich zögerte den spannenden Augenblick noch etwas hinaus. Schließlich rief ich: Heil Hitler! und drückte auf dem Knopf. Die ungeheure Explosion riss die Flammen bis zu den Wolken. Ein durchdringender Knall folgte, die Farben waren geradezu märchenhaft. Eine unvergessliche Allegorie des Triumphes über das Judentum! Das Warschauer Ghetto hatte aufgehört zu existieren" (K. Moczarski, Gespräche mit dem Henker, Frankfurt 1982, S. 217 f.).

Die Geschichte hätte sicher einen anderen Verlauf genommen, wenn ein Jahr nach dem Pogrom von 1938 die Bombe des arbeitslosen württembergischen Tischlers, Johann Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller, rechtzeitig hochgegangen wäre. Hitler beging dort wie üblich mit seinen "alten Kämpfern" den 9. November. Doch das Attentat misslang und festigte zwei Monate nach Beginn des Weltkriegs Hitlers Überzeugung, im höherem Auftrag zu handeln. Der Attentäter wurde noch kurz vor Kriegsende auf Anordnung Himmlers hingerichtet: der 9. November sollte im besiegten Deutschland nicht dem Widerstand zufallen.

Es war logisch, den vakanten 9. November nach 1945 zum Gedenktag für die jüdischen Märtyrer umzufunktionieren. Obwohl sich in der Bonner Republik eine gewisse Gedenkroutine einstellte, blieb der 9. November für Extremisten ein Reizthema. Eine statistische Untersuchung der Schändungen jüdischer Friedhöfe von J. Schoeps belegte, dass sich die Vorfälle an diesem Datum häuften. Die außerparlamentarische Linke verstand sich in der Bonner Republik als Gegenkraft zu den sogenannten "Ewiggestrigen". Doch das soeben erschienene Buch von Wolfgang Kraushaar "Die Bombe im Gemeindehaus" bringt auch diesen Mythos zu Fall und zeigt, dass der antisemitisch besetzte 9. November mühelos von der extremen Linken übernommen werden konnte. Der Politikwissenschaftler weist mit kriminalistischer Akribie nach, dass der misslungene Bombenanschlag auf die Gedenkfeier zum 9. November 1969 im jüdischen Gemeindehaus in Berlin von der "Kommune 1" und dessen Gründer, Dieter Kunzelmann, ausging. Wie sich herausstellt, war der legendäre Bürgerschreck und seine Kommunarden von der PLO Jassir Arafats an der Waffe und am Sprengstoff ausgebildet worden. Am Jahrestag des Pogroms sollte wieder eine jüdische Institution brennen - als Zeichen, wie es in einem Szenen-Blatt hieß, gegen den herrschenden "Philosemitismus" und der Solidarität mit der Fatah und ihrem Kampf gegen das "Dritte Reich von Heute", sprich den Staat Israel. Vom linken Antizionismus und Antisemitismus der sogenannten "Tupamaros West Berlin" führt die Spur zur RAF, zum Olympiaattentat der PLO, aber auch zur grünalternativen Liste in Berlin, die sich durch Kunzelmann vertreten, und zur NPD, die sich vom RAF-Terroristen Horst Mahler verteidigen ließ.

Es war bloß ein Zufall der Geschichte, dass zwanzig Jahre später, ausgerechnet am 9. November 1989, die Mauer fiel und die sichtbarste Narbe des Weltkrieges in Deutschland verschwand. Mit der Wiedervereinigung schien sich der tragische Kreis von geschichtlicher Schuld und Sühne mit einem Happy-end zu schließen. Sechzig Jahre nach dem 9. November 1938, im Jahr 1998, forderte der Preisträger des deutschen Buchhandels, Martin Walser, in der Frankfurter Paulskirche das Ende der öffentlichen Schuldrituale und bekam dafür von der politischen und literarischen Elite dieses Landes stehenden Applaus.

Doch die geschichtliche Ladung des 9. Novembers, an dem sich Revolution und Gegenrevolution, Pogrom und Wiedervereinigung jähren, ist noch lange nicht entschärft und kann jederzeit hoch gehen. 2003 wollte die rechtsradikale "Kameradschaft Süd" mit einem Bombenanschlag auf die Feier zur Grundsteinlegung des neuen Jüdischen Zentrums am Jakobsplatz in München zu diesem Anlass ein unmissverständliches Zeichen setzen. Die rechtsextreme "Kameradschaft München", die eng mit der NPD in München und Oberbayern kooperiert, hat vorsorglich bereits bis zum Jahr 2015 Kundgebungen zum Tag der Wiedervereinigung auf dem Marienplatz in München angemeldet, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Gedenkveranstaltung zum 9. November im Alten Rathaus, wo 1938 das Pogrom ausgelöst wurde.

Gewiss, heute geht die Gefahr für die Juden in der Welt nicht mehr von solchen "Kameradschaften" in München und Bayern aus. Die Synagogen brennen heute im Gaza-Streifen. Der Präsident der islamischen Republik Iran forderte auf einer Konferenz in Teheran mit dem Titel "Die Welt ohne Zionismus" jüngst offen zur Ausradierung Israels. Wenn Gedenken etwas mit Denken, Andenken etwas mit Nachdenken zu tun hat - dann sollte der 9. November dazu dienen, den antisemitischen Wiederholungszwängen und Vernichtungsphantasien offen entgegenzutreten.

Fußnoten
1 Peter Loewenberg, The Kritallnacht as a public Degradation Ritual, in: Leo Baeck Institute Year Book XXXII (1987), S. 309-323 und unabhängig davon Verf., 9. November 1989, 14. Mai 1948. Zur Entmythologisierung von zwei historischen Ereignissen, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Heft 5(1989) S. 7-21.
Rita Thalmann, Emmanuel Feinermann, Die Kristallnacht, Frankfurt/M 1988, S. 92-93.

aus: Jüdisches Leben in Bayern. Mitteilungsblatt des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Dezember 2005

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