Schicksale jüdischer Bürger im Gemeindegebiet der Berliner Sophienkirche

Die Hausbücher der gemeindeeigenen Wohnhäuser in der Großen Hamburger Straße 28-31 verzeichnen für die Jahre 1905 bis 1943 insgesamt 156 jüdische Mieter. Recherchen im "Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus" und in der Datenbank von Yad Vashem in Israel ergaben die erschütternde Erkenntnis, dass 17 jüdische Bewohner der Häuser deportiert und ermordet wurden, allerdings nicht direkt aus diesen Häusern heraus. Der Gemeindekirchenrat der Sophiengemeinde hat beschlossen, zum Gedenken an die ermittelten 17 Ermordeten vor den Häusern Große Hamburger Straße 29, 30 und 31 "Stolpersteine" verlegen zu lassen. Die ersten Steine wurden im Juli 2005 im Gehweg-Pflaster eingelassen.

Hier wohnte...
Anmerkungen zu den Stolpersteinen in unserer Stadt
von Ingrid Schmidt

,Magst du deinen Namen? - Gefällt er dir? - Weißt du, warum deine Eltern dir diesen Namen gegeben haben?' - Wenn ich in meiner Schule als Religionslehrerin eine neue Gruppe übernahm, war meine erste Aufgabe: die Namen der Schülerinnen und Schüler kennen zu lernen: Was bedeutet dein Name? - Wo kommt er her? - Wer trug ihn vor dir?'

Von Menschen erzählen wir, indem wir sie bei ihrem Namen nennen. Mit jedem Namen verbindet sich ein Leben, eine Lebensgeschichte. Vielen Menschen ist ihr Namenstag wichtiger als der Geburtstag. Solange wir ihre Namen nicht vergessen, bleiben die Menschen in unserem Gedächtnis: im Gedächtnis einer Familie, einer Gemeinschaft, eines Volkes. "Ich bin getauft auf deinen Namen, Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist" - so singen Menschen, die in die christliche Gemeinde aufgenommen werden und nennen sich nun Christen.

Zu allen Zeiten aber hat es Machthaber gegeben, die dieses Wissen um die elementare Bedeutung unserer Namen missbraucht haben. Menschen wurden Namen aufgezwungen, die sie in den Augen anderer herabsetzten, sie lächerlich, gesellschaftlich unmöglich machten. Und Hitler persönlich entschied Ende der dreißiger Jahre, welche Vornamen jüdischen Neugeborenen gegeben werden durften. Auch wenn das uralte jiddische Namen aus Osteuropa gewesen sein mögen - wie aber klangen sie in den Ohren der Deutschen: Beile, Driesel, Fradchen, Geilchen, Hitzel, Keile, Pessel, Schlämsche...? Vom 1. Januar 1939 an mussten in Deutschland alle jüdischen Frauen den Namen "Sara" tragen, alle jüdischen Männer den Namen "Israel". Zwei wunderbare Namen, verwandt durch die gleiche Wurzel: Sara: Fürstin aller Menschen, Israel: Gotteskämpfer. Das Perfide an dieser Verordnung aber war, der eigene Name, von den Eltern gegeben, galt nicht mehr, es gab keine Ruth, keine Esther und keine Maya mehr, keinen Joel und keinen Wolfgang, es gab nur noch "die Juden"!

Am Ende trugen die Juden keinen Namen mehr. In Auschwitz wurden ihnen Nummern in den Unterarm "eingebrannt", sie waren - in den Augen der Täter - keine Menschen mehr. Mit ihnen, den Juden, wollten sie die Erde nicht länger teilen.

50 Jahre nach Auschwitz. Gunter Demnig, geboren in Berlin, Bildhauer in Köln, entwickelt eine Idee: Ich will uns, den Nachgeborenen, die Erinnerung an die Gemordeten ermöglichen. Ich will ihre Namen ins Gedächtnis rufen. Und ich will es an dem Ort tun, an dem diese Menschen - Erwachsene, Jugendliche, Kinder - zuletzt gewohnt haben. Freiwillig gewohnt haben. "HIER WOHNTE" ... so beginnt der Text auf jedem Stolperstein. Was mag jede Wohnung erzählen von den letzten Wochen und Tagen voller Hoffnung und Angst und Schrecken, bevor die Menschen "abgeholt" wurden, von der Kripo, der Gestapo, der SS? "Holen", "abholen" nannte man das. Was für eine farblose und alltägliche Benennung für einen grausamen Vorgang, der für die allermeisten im Tod endete. Am nördlichen Ende der Großen Hamburger Straße erinnert das Denkmal "Der verlassene Raum" mit dem umgestürzten Stuhl an diese letzten Momente in der eigenen Wohnung. Und wer hatte die jüdischen Bewohner "gemeldet"? Auch dies wieder ein Wort aus der Alltagssprache, die Wirklichkeit verschleiernd. Mit solchen Begriffen konnten die Nachbarn ihr Gewissen beruhigen, das Grauen nebenan verdrängen, abstumpfen. Häufig "meldeten" Hausbewohner die noch in ihrer Nachbarschaft wohnenden Juden. In Berlin wurden 55.000 Juden "abgeholt" und in den KZs ermordet. Eines der schrecklichen Sammellager befand sich am anderen Ende der Großen Hamburger Straße, eine "Wohnung des Todes" mitten in Berlin.

Aus einer kleinen Initiative des Kölner Bildhauers Gunter Demnig ist in den vergangenen zehn Jahren ein weit umspannendes Gedenkprogramm geworden, das er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Uta Franke verwirklicht:

10 x 10 cm große Betonquader werden auf der Oberseite mit einer goldglänzenden Messingtafel, die die Inschrift trägt, bedeckt. Die Steine werden in den Boden eingelassen. Erinnert wird an Vertreibung und Mord von Juden und Zigeunern (wir sagen heute: Sinti und Roma), von politisch Verfolgten, z. B. Kommunisten, von Homosexuellen und Zeugen Jehovas, von Behinderten, die Opfer des sog. Euthanasieprogramms wurden.

Ein Stein. Ein Name. Ein Mensch. Über 6000 Namen in 100 Ortschaften, in Deutschland und in vielen Nachbarländern, wurden bisher der Öffentlichkeit übergeben. Zu jedem Namen gehört eine Lebensgeschichte, die zuvor erforscht werden musste. Der Initiative des Künstlers haben sich viele Menschen angeschlossen: ehemalige Nachbarn, heutige Mieter in den Häusern, Verwandte, Schulklassen in der Nachbarschaft. "Paten" nennt sie der Künstler. Ihre Patenschaft besteht in der Erforschung der jeweiligen Lebens- und Leidensgeschichten, sofern sie in Archiven noch zu finden sind, in Übernahme der entstehenden Kosten, für einen Stolperstein sind 95 € aufzubringen. Zur Verlegung des Stolpersteines werden Nachbarn, Freunde, Politiker, Interessierte eingeladen, die Presse informiert, eine kleine festliche Veranstaltung organisiert, vielleicht mit musizierenden Schülerlinnen aus der nahe gelegenen Schule; eine Ansprache, ein Gebet ... für die Paten, für die Patinnen gibt es viel zu tun!

In manchen Straßen Berlins erinnern heute schon etliche Steine vor Haustüren an diejenigen, die einst mitten unter uns wohnten. In den Zeitungen liest sich das so: Stolpern über Gedenksteine.' ,Steine, die anstoßen.' Stolpern und Nachdenken.' Der Hammermann', Bückt euch und lest.' ,Das Haupt beugen.' Straucheln über die eigene Geschichte.' Tripping an History.' Streets of Sorrow.

Auch die Bibel erzählt von Gedenksteinen, "damit sie ein Zeichen seien unter euch" (Jos 4,ba). "Wenn eure Kinder später einmal fragen: Was bedeuten euch diese Steine?, so sollt ihr ihnen sagen: Weil das Wasser des Jordans weggeflossen ist vor der Lade des Bundes des HERRN, als sie durch den Jordan ging, sollen diese Steine für Israel ein ewiges Andenken sein." (Jos 4,6-7).

Es gibt Menschen, die die Aktion "Stolpersteine" nicht gutheißen: Wir laufen über die Namen von Toten, das entehrt die Toten, sagen manche. Oder: Ihr werdet nie alle Opfer beim Namen nennen können. Andere, aus der rechten Szene, hassen diese Erinnerungsarbeit. Sie zerstörten Steine. "Nur eine Morddrohung in vier Jahren", sagte Gunter Demnig, "das sei doch akzeptabel." Eine Stadtverwaltung erlaubte das Verlegen der Steine aus administrativen Gründen nicht. Sie ließ die Steine wieder ausgraben und auf den Friedhof bringen. ... "Hier wohnte ..." stand auf der Messingplatte.

Eine Begebenheit zum Schluss möchte ich erzählen: Von Ruth. Sie lebt in Israel. Sechzig Jahre hatte sie Deutschland nicht besucht. Einmal vor vielen Jahren - bei einer Zwischenlandung auf dem Flughafen Köln - hörte sie um sich herum erstmalig wieder nur deutsche Stimmen. Das war für sie schrecklich. Sie gab nicht zu erkennen, dass das ja die Sprache ihrer Kindheit gewesen ist. Sie sprach mit den Flughafenbeamten nur englisch. Vielleicht müssen wir uns das so vorstellen: Eine Musik, die wir bei einem schrecklichen Erlebnis, in Todesangst gehört haben, werden wir in späteren Phasen unseres Lebens immer wieder mit diesen Erinnerungen in Verbindung bringen. Wir können sie nicht mehr hören. - Nun aber war Ruth auf Einladung einer jüdischen Freundin doch nach Deutschland gereist, nach Berlin. Am Ende ihres Aufenthalts fragte ich sie nach ihren Eindrücken. Und sie antwortete mir: "Mit der deutschen Sprache hatte ich kein Problem mehr. Ich habe mich in Berlin wohl gefühlt. Meine Freundin hat mir so viele Orte gezeigt, wo ihr euch erinnert, wo ihr der Toten gedenkt. Ich habe vor diesen Mahnmalen gespürt, dass viele Menschen in dieser Stadt die Geschichte nicht verstecken wollen. Sie erinnern sich, sie wollen verstehen lernen ... Das hat mir gut getan."

Die Autorin ist Studienleiterin im Evangelischen Bildungswerk.

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