Die neue Strategie des Messias nach dem Neuen Testament:
Errettung Israels von seinen Feinden durch Versöhnung der Völker
im Leib Christi
von Klaus-Peter Lehmann
Dieser Aufsatz konzentriert sich in Kürze auf den
Nachweis, dass das Zeugnis des NT als Zeugnis von dem Christos Jesus ganz
im Horizont des jüdischen Messiasglaubens zu verstehen ist und innerhalb
desselben nur eine neue - rein theostrategische (1) - Variante ins Spiel
bringt. Diese besteht darin, dass die Aufrichtung Israels der Bekehrung
der Völkerwelt nicht vorangeht, sondern dass die apostolische Völkermission
und die weltweit praktizierte Völkerversöhnung im Geist und
im Leib Christi (Kol 3,5-15) das zionistische Projekt der Wiedererrichtung
der zerfallenen Hütte Davids (Am 9,11; Apg 15,16) vorantreibt und
auf diesem Wege die jüdisch-messianische Hoffnung zur Erfüllung
bringt: die Befreiung Israels von seinen Feinden und die Versöhnung
der Völker im Schalom des Gottes Israels.
Es ist vor allem F. W. Marquardts Darstellung der lukanisch-paulinischen
Messianologie, (2) die diesen Horizont der theologischen Reflexion eröffnet
hat. Außerdem lassen sich in diesem Licht bekannte, bislang antijudaistisch
verstandene Stellen im NT (z.B. 1 Thess 2,15f) neu deuten. Zudem gewinnt
ein alter Satz H. Kremers konkrete Gestalt, demzufolge der Messias Jesus
der Erretter Israels von seinen Feinden sei (Luk 1,71). (3)
Zurecht hat B. Klappert das Doppelamt des Gottesknechtes
betont: die Wiederaufrichtung Israels und die Einbeziehung der Völkerwelt
in die Verheißungsgeschichte Israels. (4) Doch alle Verhältnisbestimmungen
der Kirche Jesu Christi zu Israel laufen fast immer auf ein Anschlussmodell
an das Bundesvolk und seinen geschichtlichen Auftrag hinaus (Miterben
der Verheißung, gemeinsame Sendung). Das Problem, das bleibt, ist
die Verhältnisbestimmung der nun vergleichbaren Partner. An dieser
Stelle erweist sich das NT aber als sperrig. Die naheliegende Konsequenz
einer Vereinheitlichung wird nicht gezogen. Das Bundesvolk Israel und
die Kirche (ekklhsia), der Leib Christi (swma Cristou, Kol 1,24), werden,
wie diese Benennung zeigt, nicht gleichgestellt, sondern deutlich unterschieden.
Die Kirche ist wohl in Israels Geschichte als Miterbe hineingenommen (einai
ta eqnh sunklhronoma kai susswma, Eph 3,6), aber Israel ist in keiner
Weise mit dem Leib Christi identisch. Angesichts dieser asymmetrischen
Differenz ist das Anschlussmodell nicht ausreichend, weil es sie nicht
zu erklären vermag. Außerdem bleibt in der Schwebe und unbestimmt,
wie der erste Teil des messianischen Werkes, die Wiederaufrichtung Israels,
in Gang kommen soll. Aus diesem Dilemma hilft Marquardts Hinweis auf das
Amos-Zitat in Apg 15 heraus: Das Hinzukommen von judaisiertem Heidenvolk
dient dem Aufbau der zerfallenen Hütte Davids. Die Hinzunahme von
Kol 3,5-15 und Gal 3,26f vervollständigt das Bild: Der Leib Christi,
die Gemeinschaft von im Geist der Thora Israels, in Nächstenliebe,
versöhnten Gläubigen aus Israel und den Völkern, die in
aller Welt zerstreut leben, wendet die Israel verfeindete Völkerwelt
nun Israel zu und ermöglicht seine ungefährdete Wiederaufrichtung.
Mit dieser Bestimmung würde der Leib Christi dem Doppelamt des messianischen
Gottesknechtes gerecht werden. Ihr Vorteil ist weiter eine differenzierte
und klare heilsgeschichtliche Bestimmung des Auftrages der Kirche für
Israel und die Völkerwelt, die alles weitere Fragen nach ihrer Identität
im Blick auf Israel erübrigt.
Zentral für die folgenden Thesen ist, dass die Verheißung
der Völkerversöhnung (1 Mos 12,3; 17,5) durch Jesus Christus
aktualisiert wird (Röm 4), d.h. im Leib Christi als versöhnte
Gemeinschaft von Beschnittenen und Nichtbeschnittenen geschichtliche Gestalt
gewinnt (Eph 2,14f; Kol 3,10f) und auf diesem Weg die Entfeindung der
Welt in ihrem Verhältnis zu Israel und seinem Gott in Gang setzt.
1.) Die Christologie ist eine Form jüdischer Messianologie.
Alle Motive jüdischer Messiaserwartung finden sich in der Christus-Verkündigung
des NT: der Messias kommt aus dem Hause Davids nach einer Zeit großer
Trübsale, die Wiederaufrichtung des Königtums für Israel
und der Untergang der mächtigen Königtümer dieser Welt,
die Errettung Israels von seinen Feinden und der Beginn des weltumfassenden
endzeitlichen Schalom. Demzufolge wäre die Christologie nicht weniger
politisch - auf die Aufhebung der Römerherrschaft über Israel
zielend - als jede andere Messianologie im Judentum. Die Zurückhaltung
der Christusgemeinden beim Aufstand im Jahre 70 legt die Vermutung nahe,
dass sie die direkte politische und militärische Konfrontation vermieden
und stattdessen eine andere Strategie verfolgt hatten. Welche?
Man könnte hier an Jochanan ben Sakkai denken, der
mit der Gründung von Javne jenseits des Jordans das Überleben
Israels als pharisäisches Judentum in die Wege geleitet hatte. Auch
die Pharisäer umgingen die politische Konfrontation, blieben dem
Messianismus gegenüber aber skeptisch. Wir vermuten im NT im Unterschied
zum pharisäischen Weg der Sammlung Israels um die Thora eine neue
messianische Strategie zur Rettung Israels aus der Hand seiner Feinde
2.) Die neue messianische Strategie in drei Punkten
A.) Die zionistische Aufbauhoffnung
Die Errettung Israels von bzw. seine Versöhnung mit seinen und seines
Gottes Feinden ist durchgehendes Motiv der Christusverkündigung (Luk
1,71.74; Röm 5,10; 15,10f; Eph 2,14; Kol 1,21). Das Königtum
für Israel wieder zu errichten, ist ein Werk des Messias (Luk 24,21;
Apg 1,6), unklar ist nur die Zeit seiner Verwirklichung (Apg 1,7).
"Die zionistische Hoffnung war für die Jünger eine erste
Gestalt ihrer Jesushoffnung: Die Befreiung des Volkes von der Römerherrschaft
... Jesu Tod und Erweckung haben etwas zu tun mit der Wiederherstellung
des Reiches für Israel" (5)
B.) Die Helfer beim Aufbau der zerfallenen Hüte Davids
Marquardt lenkt den Blick auf Apg 13,23, wo von Jesus als dem Erretter
Israels die Rede ist. Wie sein Rettungswerk in Gang kommt, findet sich
in Apg 15. Die zu Jerusalem versammelten Apostel diskutieren über
die Bedeutung der überraschend vielen Heidnischstämmigen, denen
Gott seinen Heiligen Geist gegeben hat (Apg 10,45; 11,1.18.24; 14,1.27)
und die am Herzen Beschnittene geworden sind (Apg 15,8f; Röm 2,15.27f).
Jakobus gibt der Aussprache die entscheidende Wende, indem er das Zeugnis
des Simeon, dass Gott ... aus den Heiden Volk für seinen Namen gewonnen
hat, mit dem Hinweis auf Amos 9,11f deutet: Danach will ich mich zurückwenden
und wieder aufbauen die zerfallene Hütte Davids (Apg 15,16). Der
Gewinn von heidnischem Gottesvolk wird gedeutet als Moment am zionistischen
Aufbauwerk, an der Wiedererrichtung des Reiches für Israel. (6)
C.) Die Gestalt der Hilfe für Israel: der Christusleib
der versöhnten Völker
Marquardt betont den Zusammenhang von christlicher Völkermission
und der Auferstehung des jüdischen Volkes. Christen "bereiten
mit dem Werk ihrer Völkermission eine Welt, in der auch Israel atmen
kann". (7)
Wie kann diese Welt aussehen? Indem in den Jesusgemeinden Heiden und Juden
im Glauben an die Verheißungen Abrahams (Röm 4; Gal 3,26-29)
zu einer Gemeinschaft versöhnter Völker (Eph 2,13-16; Kol 3,9-11)
im Geist der Tora (Kol 3,12-15) zum Lob des Gottes Israels (Kol 3,16f)
vereint werden! Kol 3 schildert diesen einen Leib (V. 15) als die im neuen
Menschen nach dem Bilde Gottes (V. 10) in der Erfüllung des Gebotes
der Liebe vereinte Völkerwelt, als den Leib Christi.
Der Völkerleib Christi umfasst Juden, Griechen, Barbaren, Skythen,
Sklaven, Freie. Die Hierarchien und Vorurteile antiker Herrschaft sind
ohne Geltung. Ihre kulturelle Unterhöhlung zeichnet sich ab. Die
Strategie der Völkerversöhnung durch den wachsenden Leib Christi
umgeht die militärische Konfrontation mit dem Imperium und beschleunigt
seinen Zusammenbruch durch den Aufbau eines internationalen gegenkulturellen
Völkerleibes. Der Leib Christi ist Erfüllung der Thora unter
den Völkern und dadurch Aufhebung der Feindschaft zwischen Juden
und Heiden und so auch ein neuer Weg der Befreiung Israels von seinen
Feinden. Die Kirche Jesu Christi ist die Aktion des Erbarmens Gottes gegenüber
seinem Volk Israel. (8)
3.) Einige Folgerungen
Die Christologie des NT unterscheidet sich von anderen jüdischen
Messiaslehren durch ihre originelle Strategie: die Befreiung Israels von
bzw. seine Versöhnung mit seinen Feinden durch das messianische Werk
weltweiter Völkerversöhnung im Geist des universal zur Geltung
gebrachten Liebesgebotes.
Die traditionelle Strategie des Judentums wollte durch
vorbildhaftes Leben nach der Thora im Land Israel die Völker zum
Völkerfrieden führen. Als Voraussetzung dafür galt weithin
die politische Autonomie Israels. Dieser Weg der Werke hatte sein Ziel
nicht erreicht (Röm 2; 3,20). Paulus setzte bei den Heiden an, die
durch die Predigt vom Messias Jesus zum Glauben an die Verheißungen
Abrahams gekommen sind und ohne Beschneidung mit Juden in vorbildlicher
Gemeinschaft leben. Diese ist für ihn der Leib Christi, die antizipierte
Versöhnung der Völker. Das ist für ihn der Weg des Glaubens
(Röm 3,30).
In einer Gemeinschaft der mit Israel versöhnten Heiden
ist die Beschneidung für letztere überflüssig geworden.
Es geht im Leib Christi nicht um ein internationales orthodoxes Judentum,
sondern um die Versöhnung der verschiedenen, ihre Identität
behaltenden Völker mit dem Gott Israels. Das ist nur möglich
mit judaisierten, aber nicht mit jüdisch gewordenen Heiden. Paulus
will keine Zugehörigkeit der Heidenchristen zum Judentum, sondern
ihre Berufung zu Rettern Israels durch die gelebte Völkerversöhnung
im Leib Christi. Der Verzicht auf die Beschneidung erscheint hier nicht
mehr an Abgrenzung vom Judentum, sondern als besondere Form der Einung
(10) mit ihm unter dem Vorzeichen der Völkerversöhnung.
Angeblich antijüdische Stellen können im Licht
dieser Messiaskonzeption neu gelesen werden, z.B. 1 Thess 2,15f: Der Hinweis,
den Herrn getötet und die Propheten verfolgt zu haben, steht in der
Tradition alttestamentlicher Kritik, Israel habe immer wieder seine Schalom
und Völkerfrieden einfordernden Propheten drangsaliert und verfolgt.
Für einen gelehrten Juden, der wie Paulus Moses und die Propheten
so auslegt, dass der Gott Israels, weil er der Gott auch der Heiden (Röm
3,29) ist, die Völkerversöhnung durch seinen Messias Jesus jetzt
in Gang setzen will, erscheinen diejenigen, die sich dieser Mission entgegenstellen
in dieser theo-logischen Optik als solche, die Gott nicht zu gefallen
suchen und allen Menschen entgegen sind, indem sie uns hindern, zu den
Heiden zu reden, das messianische Rettungswerk für Israel unter den
Völkern voranzubringen.
Für Juden gibt es tatsächlich Gründe, diese
Sicht des Paulus strikt abzulehnen, auch wenn sie von antijüdischen
Motiven frei ist. Der Messianismus hat Israels Feinde meist provoziert
und eher Probleme gebracht anstelle der erhofften Befreiung. Durch die
messianische Konzeption des praktizierten auch die Griechen drohte ein
unkontrollierbarer Zulauf von unsicheren Freunden, der das Bundesvolk
von innen unterhöhlen und von außen erdrücken könnte.
Gibt es für den, der an die Herzensbeschneidung der Heidenchristen
nicht glauben möchte, eine andere Sichtweise?
Paulus, der darum sicher wusste, sagte deshalb, sie bleiben
in Hinsicht auf die Erwählung Geliebte um der Väter willen,
für euch aber, die Heiden, sind sie in Hinsicht auf das Evangelium
(Botschaft der messianischen Völkerversöhnung um Israels willen)
Feinde um euretwillen. Denn dadurch habt ihr schon Teil an den Verheißungen
Israels, bevor sie für Israel erfüllt sind, aber das nur, um
sie Israel zuzutragen. So sind sie jetzt ungehorsam gewesen, damit infolge
der Barmherzigkeit gegen euch auch sie Barmherzigkeit erlangen (Röm
11,31).
Anmerkungen:
(1) Ich benutze dieses Wort in Anlehnung an M. Bubers Rede von der Theopolitik
Israels. Das theopolitische Programm des AT bestand in der Hoffnung, dass
durch das beispielhafte Vorleben des Friedens in Israel auch die Völkerwelt
vom Kriege abgehalten werde. Seine Strategie ist die Völkerwallfahrt
zum Zion (Jes 2,1-5). Paulus vertritt einen anderen Weg zum weltweiten
Schalom: Der Leib Christi bringt durch die in ihm gelebte Nächstenliebe
nach der Thora das AT-Friedensprojekt zu den Völkern und bringt so
ihre Versöhnung mit Israel auf den Weg.
(2) F. W. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?
Eine Eschatologie, Bd. 2, Gütersloh 1994, S. 286 - 392.
(3) "Wozu ist Jesus gekommen? Zum Schutz des Volkes Israel. Er ist
von Gott gesandt, um dem Volk Israel Errettung von seinen Feinden, aus
der Hand aller, die es hassen, zu bringen, damit Israel, errettet aus
der Hand unserer Feinde, ohne Furcht Gott dienen kann." H. Kremers,
Liebe und Gerechtigkeit. Gesammelte Beiträge, hg. v. A. Weyer, Neukirchen
1990
(4) B. Klappert, Miterben der Verheißung, Neukirchen 2000, S. 229
(5) Marquardt, a.a.O., S. 307
(6) a.a.O., S. 376
(7) a.a.O., S. 378
(8) Vgl. K. Barth, Kurze Erklärung des Römerbriefes, München
1956, S. 146: "Indem die Heidenchristen da als solche, deren Gott
sich erbarmt hat, ist auch die Aktion des Erbarmens Gottes den Juden gegenüber
schon eröffnet und Gang gebracht ... das bedeutet, dass sie heute,
jetzt dafür verantwortlich sind, dass durch die ihnen widerfahrene
Barmherzigkeit auch jene, die Juden, Barmherzigkeit erlangen." S.a.S.
142: "Antisemitismus ist die Sünde wider den Heiligen Geist."
(10) Vgl. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus dem Juden. Eine
Christologie, Bd. 1, München 1990, S. 202.
zur Titelseite
zum Seitenanfang
|
|