Zeit ists ...
Jüdische Religionspädagogik in Heidelberg
von Daniel Krochmalnik
"Zeit ist's..." So hat Franz Rosenzweig seine
Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks überschrieben.
Mit dem Vers "Zeit ists zu Handeln für den Herrn - sie zernichten
deine Lehre." aus dem Psalm 119, 126 wird traditionell der "Toranotstand"
ausgerufen. Viele pädagogische und didaktische Gedanken aus dieser
kurzen Schrift aus dem Jahr 1917 sind auch noch in der heutigen, unvergleichlich
tieferen jüdischen Bildungskrise relevant. Wir haben deshalb zur
Vorstellung des neuen Faches Jüdische Religionspädagogik an
der Hochschule denselben Titel gewählt.
Jüdische Religionslehrer mit Staatsexamen
Die Kritik am jüdischen Religionsunterricht in der
Bundesrepublik ist so alt wie dieser Unterricht selbst: zu wenige und
zu unqualifizierte Lehrer, unrealistische Lehrpläne und fehlende
Lehrmittel - so lauten nur einige der ewigen Klagen. Gewiß, es ist
ungerecht, dem jüdischen Religionsunterricht alleine die Schuld an
der jüdischen Bildungsmisere in Deutschland zu geben, wo doch häufig
auch die drei anderen tragenden Beine am ungedeckten jüdischen Tisch
versagen: die jüdische Familie, die jüdische Jugendarbeit und
die jüdische Gemeinde. Wie soll der beste Lehrer in einer Doppelstunde
pro Woche nachholen, was alle diese Erziehungs- und Bildungsträger
versäumen. Die Überlastung des Religionslehrers hat sich durch
den massiven Zuzug von jüdischen Flüchtlingen aus dem Osten
noch dramatisch verschärft, weil er nun auch noch in allen Schulstufen
die elementare "Alephbetisierung" der Flüchtlingskinder
erledigen muß.
Es besteht aber kein Zweifel, daß ein langfristiger
Ausweg aus der Krise nur mit in Deutschland geschulten akademisch, pädagogisch
und fachdidaktisch ausgewiesenen Lehrkräften möglich sein wird.
Die Zeiten, wo etwa Hebräisch als Muttersprache oder eine gute Kantorenstimme
schon zum jüdischen Religionslehrer qualifizierten, sind endgültig
vorüber. Derartige Notlösungen schaden letztlich dem Ansehen
des Faches an der Schule und bei den Schülern. Eine erste Hilfe war
seinerzeit die außerordentliche Lehr- und Prüfungserlaubnis
für Magister der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.
Heute arbeiten unsere Absolventen in vielen Gemeinden als verdiente Religionslehrer.
Aber es waren immer zu wenige, um den ständig steigenden Bedarf auch
annähernd zu decken. Im übrigen fehlte bei aller wissenschaftlichen
Qualifikation in jüdischen Studien und allem guten Willen in der
Regel die pädagogische, fachdidaktische und praktische Ausbildung,
die bei den christlichen Kollegen selbstverständlich und für
den Staatsdienst unabdingbar ist.
Demgegenüber stellt die Einrichtung des Studiengangs
für Religionslehrer mit dem Abschluß Staatsexamen an der Hochschule
im Wintersemester 2001/02 eine wahrhaft historische Wende dar. Zum ersten
Mal seit Kriegsende besteht damit die Möglichkeit, daß staatlich
geprüfte jüdische Religionslehrer in den Staatsdienst übernommen
werden. Die HJS hat einen Lehrstuhl für jüdische Religionspädagogik
eingerichtet und bildet seither mit großzügigen Stipendien
geförderte Lehramtskandidaten aus, die zum großen Teil selbst
aus dem Flüchtlingskontingent stammen. 2006 steht der erste Kandidat
für den 18-monatigen Vorbereitungsdienst am staatlichen Lehrerseminar
in Heidelberg an. Ein derartige Möglichkeit ist in Verbindung mit
dem an der HJS gebotenen breiten Fächerspektrum Jüdische Studien
in Deutschland, ja, im deutschsprachigem Raum einzigartig.
Die Anzahl der Lehramtskandidaten in Heidelberg ist noch
klein und nach derzeitigem Stand rechnen wir mit ein bis zwei Examenskandidaten
pro Semester. Diese neue Chance wird noch viel zu wenig wahrgenommen und
genutzt, obwohl es für die jüdischen Gemeinden und die Lehramtskandidaten
eine schlagartige Verbesserung bringt. Jüdische Religionslehrer im
Staatsdienst entlasten einerseits die Gemeinden finanziell, anderseits
kommt ein qualifizierter und verbeamteter jüdischer Religionslehrer
in ein verläßliches Arbeitsverhältnis und hat einen ganz
anderen Stand in der Schule und im Lehrerkollegium als bisher. Die gezielte
Förderung von Lehramtskandidaten ist für die jüdische Gemeinschaft
dringend erforderlich.
Jüdische Religionspädagogik
Das neue Fach Jüdische Religionspädagogik an
der Hochschule sucht natürlich wissenschaftlichen Anschluß
an die allgemeine religionspädagogische und - didaktische Forschung
und Lehre, es blickt aber auch auf eine uralte Tradition des Lernens zurück.
Es ist kein Zufall, daß die grundlegenden Werke des Judentums alle
den Lehr- und Lernbegriff irgendwie im Titel führen: Tora, Talmud,
Mischna, Gemara, Mischne Tora, Mischna Brura usw.. Das Lernen wiegt nach
einem Wort der Weisen alle anderen Pflichten auf (Talmud Tora KeNeged
Kulam, mPea 1,1) und nach einer berühmten talmudischen Aggada lernt
selbst Gott Tora (bAbZa 3b). Für die jüdische Religionspädagogik
ergibt sich aus dieser einzigartigen Hochschätzung des Lernens, die
Aufgabe, ihre lerntheoretischen Grundbegriffe systematisch aus den jüdischen
Lerntraditionen heraus zu entwickeln und so auch einen eigenen Stand in
der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion zu gewinnen.
Die Institutionalisierung des Lernens war und ist ein
Hauptanliegen der jüdischen Gemeinde. Seid der Aufklärung war
die Lern- und Schulfrage allerdings häufig Anlaß zu ideologischen
Auseinandersetzungen und institutionellen Spaltungen und so haben denn
auch sämtliche "Richtungen des Judentums" eigene Lernformen,
Schulsysteme und Lehrer- und Rabbinerausbildungsstätten hervorgebracht.
Hier bietet sich der Geschichte der jüdischen Religionspädagogik
ein reichhaltiges Material zur wissenschaftlichen Analyse und programmatischen
Auswertung an. Gewiß, wir können uns mit unserer Doppelstunde
und gelegentlich etwas mehr Religionsunterricht nicht mit den jüdischen
Ganztagsschulen in den Vereinigten Staaten oder den Ganzlebensschulen
in Israel vergleichen, aber die wissenschaftlichen und pädagogischen
Impulse von dort sind auch für unser Fach von vitalem Interesse.
Oberstes Gebot für die Lehrplankonzeption und -
kritik in unserem sehr viel bescheideneren Rahmen muß sein: im Religionsunterricht
wird Religion unterrichtet! Iwrit, Bibel, Geschichte des jüdischen
Volkes, Geographie des Landes Israel, Sozialkunde, Lebenshilfe usw., dürfen
im Religionsunterricht kein Selbstzweck sein. Die erworbene Sprachkompetenz
etwa dient der Erschließung religiöser Quellen und nicht die
Quellen der Mehrung des Sprachschatzes; es ist, um noch ein weiteres Beispiel
zu nennen, im Religionsunterricht nicht wichtig, was in der Zeit Salamanassars,
Nebukadnezzars oder Vespasians geschah, sondern was der damals erlittene
Verlust der Mitte für Israel und die Juden bis heute bedeutet. Einen
jüdischen Stempel bekommen die disparaten Stoffe, die vielfach die
Lehrpläne verstopfen, erst durch ihre rabbinische Verarbeitung. An
der HJS sind die traditionelle Bibelauslegung und die rabbinischen Literatur
Kernfächer.
Bezüglich der Lehrmethoden gibt es in der allgemeinen
Religionsdidaktik der letzten Jahrzehnte viele interessante Neuansätze
und entsprechende neuartige Lehrmittel. Freilich ist sich auch hier der
letzte Schrei oft nichts anderes als der Urschrei. Die Forderungen etwa
der Symbol- und Liturgiedidaktik das sokratische Lehrgespräch am
Leitfaden der religiösen Erfahrungen und Erlebnisse zu führen,
entspricht zugleich dem ältesten biblischen Lehrgebot: "Wenn
dich dein Kind morgen fragt, was das für Zeugnisse, und Satzungen
und Vorschriften sind (...) so sprich zu ihm (...) (Deut 6, 20-21), sowie
der traditionellen Didaktik des altersgemäßen Antwortens. Lehrveranstaltungen
zur modernen Unterrichtstheorie und - praxis begleiten den Kandidaten
vom Beginn des Studiums an. Ein Schwerpunkt bildet die Jüdische Fachdidaktik
dann nach Abschluß des Studiums im Referendariat am staatlichen
Lehrerseminar in Heidelberg.
Eines der wichtigsten didaktischen Konzepte der letzten
Jahrzehnte ist die Korrelation, d. i. die Verbindung von religiöser
Lehre und Leben, in jüdischen Kategorien ausgedrückt "Tora
Im Derech Erez". Voraussetzung und Maßstab eines erfolgreichen
jüdischen Religionsunterrichts ist in der Tat sein Echo im Privat-,
Familien- und Gemeindeleben. Das heißt nicht, daß der Lehrer
jüdische Lebensführung erzwingen soll, aber er kann durch eine
praktische Orientierung des Unterrichts die Umsetzung in außerschulischen
Lebensbereichen zumindest vorbereiten und anregen. In den neuen Bildungsstandards
Jüdische Religionslehre für die Primar- und Sekundarstufe I
aller Schulen 1 bis 10 (G8) in Baden-Württemberg etwa haben wir übrigens
im Anschluß an Franz Rosenzweigs erwähnter Programmschrift
die Kalenderorientierung für die Grund- und Mittelstufe verbindlich
fest geschrieben. Das macht Sinn, weil jüdisches Leben in der Diaspora
ein Leben gegen den Uhrzeigersinn ist, und die Einübung der jüdischen
Zeit- und Erinnerungsrhythmen sich daher vorzüglich eignen, um jüdische
Identität in und außerhalb der Schule zu vermitteln. Die "Praktische
Religionslehre" in ihrer ganzen Breite ist auch an der HJS neben
Pädagogik und Didaktik der dritte wichtige Zweig der Religionslehrerausbildung.
Religion hat auch immer etwas mit letzten Entscheidungen
und Geheimnis zu tun. Deshalb ist der Beruf des Religionslehrers nicht
im gleichen Maß erlernbar, wie der des Sport- oder Geographielehrers.
Das traditionelle Verhältnis von Lehrer zum Schüler gleicht
der Beziehung des Meisters zum Novizen (Schimmusch Talmide Chachamim)
und Lernen hat dort mehr den Charakter einer religiösen Initiation
als einer sachlichen Information. Etwas davon darf natürlich in keinem
Religionsunterricht fehlen. In diesem Zusammenhang hat die Religionsphilosophie,
die in der Hochschule auch in enger Verbindung mit der Religionspädagogik
gelehrt wird, eine doppelte hermeneutische und kritische Aufgabe. Sie
soll einerseits die Glaubensgeheimnisse so weit wie möglich verständlich
machen, andererseits aber auch Pseudogeheimnisse und ungerechtfertigte
Absolutheitsansprüche in Frage stellen. Auch nach solcher Aufklärung
bleibt ein dunkler, nicht aufhellbarer Rest. Schließlich ist "Religionslehrer"
mehr als ein Beruf, es ist eine religiöse Berufung und Sendung!
Was Not tut
Es wird sicher noch lange dauern, bis der staatlich geprüfte
jüdische Religionslehrer in allen jüdischen Gemeinden angekommen
ist. Inzwischen dürfen aber die amtierenden jüdischen Religionslehrer
mit ihren pädagogischen und didaktischen Schwierigkeiten nicht alleine
gelassen werden. Wir brauchen dringend eine regelmäßige Lehrerfortbildung
auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft und Religionspädagogik.
Einzelne Landesverbände, etwa in Bayern und Baden, bieten bereits
derartige Veranstaltungen an. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie
disparat die Lehrerschaft ist, die bei solchen Gelegenheiten zusammenkommt:
neben Hochschulabsolventen sitzen Rabbiner, die niemals eine Universität
betreten haben; neben Chassidim von Chabad-Lubawitsch säkulare Israelis,
neben Studienräte radebrechende Einwanderer. Es gibt ehrliche Wanderlehrer,
die keine Ahnung vom deutschen Schulssystem haben und andere, die sich
jeder Auseinandersetzung mit der modernen Pädagogik und Didaktik
verweigerten. Hier kann eine obligatorische Fortbildung eine Angleichung
der Niveaus, eine Auseinandersetzung mit aktuellen Schulproblemen, eine
Berührung mit der lebendigen Wissenschaft fördern und nicht
zuletzt Raum für einen Erfahrungsaustausch bieten - gemäß
dem Prinzip Rosenzweigs, daß nur ein Lernender auch ein Lehrender
sein kann.
Darüber hinaus brauchen wir eine zentrale Koordination
in Lehr- und Schulfragen. Deshalb haben wir die Schaffung einer Kultusbeauftragtenkonferenz
beim Zentralrat an der Hochschule aus Delegierten der Landesverbände
und selbständigen Gemeinden, sowie Vertretern aller interessierten
jüdischen Erziehungs- und Bildungsträger vorgeschlagen, die
sich parallel zur Kultusministerkonferenz regelmäßig einschlägigen
Fragen von überregionalem Interesse widmet. Auf diese Weise können
regionale Initiativen gebündelt; die Aus- und Fortbildung der Lehrer,
sowie ihre spätere Verwendung gesteuert werden. Aus der Konferenz
können Expertenausschüsse gebildet werden, die sich etwa mit
Lehrmitteln oder Lehrplänen befassen. Das erste derartige Treffen
ist schon in Vorbereitung und wir erhoffen uns durch das gedeihliche Zusammenwirken
aller Stellen einen neuen Schub für den jüdischen Religionsunterricht
in Deutschland.
aus: Mussaf. Magazin der Hochschule für Jüdische
Studien Heidelberg 1/2005
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