Tora und deutsche Tugenden Neve Hanna:
Ein Kinderheim mit ganz besonderem Konzept
von Benita von Kyaw
Auf dem Tisch dampft die Tomatensuppe. Daneben stehen
Brot und Salat. Zehn Kinder warten darauf, endlich loszulegen. Schule
macht hungrig. Aber noch dürfen sie nicht. "Wer spricht den
Segen?" fragt die Erzieherin. Keiner reißt sich um diese Aufgabe.
Die Jungen und Mädchen bleiben zunächst still, starren auf die
Suppe. Nicht nur ihr Alter ist ziemlich unterschiedlich, sie kommen auch
aus sehr unterschiedlichen Familien und aus aller Herren Länder:
Marokko, Iran, Rußland. Immanuel, der Junge aus Äthiopien schließlich
ist es, der den Segen spricht. Natürlich mit Kippa.
Es ist Mittag im Kinderheim Neve Hanna. Die Familie "Parparim"
(Schmetterlinge) ist vollzählig in der eigenen Wohneinheit versammelt.
Nebenan im Haus tafelt die Familie "Re'im" (Zukunft). Hier verteilen
sich 65 Kinder des Heims, zwischen 4 und 21 Jahre alt, auf fünf Wohneinheiten,
fünf "Familien".
Zum ersten Mal in ihrem Leben haben viele von ihnen damit
überhaupt so etwas wie eine richtige Familie. Trotz eigener Wohnung
gibt es klare Gemeinschaftsregeln und Abläufe, für die schon
die Erzieher und Jugendarbeiter sorgen, die ständig präsent
sind. Regeln, wie das gemeinsame Beten etwa: "Religion spielt in
Neve Hanna eine große Rolle", erläutert die Deutsche Antje
Naujoks. Sie gehört seit zwanzig Jahren zum Kinderheim, kümmert
sich um Spenden, auf die das Heim angewiesen ist, wie um die Kinder selbst.
"Wir versuchen den Kindern, egal woher sie kommen, das konservative
Judentum nahezu bringen. Denn Religion soll vor allem eins: Eine Basis
geben, Werte vermitteln. Kinder, die Respekt und Toleranz lernen, sind
im späteren Leben nicht so leicht manipulierbar".
Werte, die die Kinder in ihren eigenen Familien nicht
mit auf den Weg bekommen haben. Nach Neve Hanna kommen Kinder aus ärmsten
Verhältnissen, die Schreckliches erlebt haben zu Hause: Mißhandlungen
in jeder Form, Drogenabhängigkeit der Eltern, Kriminalität.
In Neve Hanna finden sie ein neues Zuhause, mit Therapiemöglichkeiten,
Ausbildung, aber auch klaren Richtlinien für ihre eigene Zukunft.
"Dabei spielt nicht nur Religion eine große
Rolle - sondern auch das Deutsche", erklärt Antje beim anschließenden
Gang über das Gelände. Lachend sagt sie: "Wir versuchen,
den Kindern auch einige deutsche Tugenden beizubringen. Hier werden Pünktlichkeit,
Ordnungssinn und Sauberkeit groß geschrieben."
Der Blick über das Gelände bestätigt dies.
Obwohl hier täglich viele Dutzend Kinder auf dem Hof spielen und
toben, sieht alles aus wie geleckt. Kein Papier, keine Cola-Dose liegt
herum. Die Wohnhäuser und das Schulgebäude, die den Hof und
den Spielplatz einrahmen sind liebevoll mit bunten Eisenfiguren verziert.
"Das Ergebnis eines Sommer-Camps" erläutert Antje und fügt
hinzu: "Auch wenn man wenig Geld hat, kann man es sich schön
machen. Das ist eins der Vermächtnisse von Hanni". "Hanni",
das ist Hanni Ullmann, eine Jüdin aus Berlin. Mit ihr fing alles
an. Dudu Wegner, seit 26 Jahren Leiter des Kinderheims "Neve Hanna",
zeigt auf das gerahmte Schwarzweißfoto einer älteren, weißhaarigen
Frau an der Wand seines Büros: "Sie ist allgegenwärtig",
sagt der Israeli Dudu auf deutsch über Hanni, die Gründerin
des Heims. "Sie war eine typische Jekkin, so deutsch und doch so
jüdisch", beschreibt er seine längst verstorbene Vorgängerin.
Und mit Blick auf das Foto fügt er schwärmerisch hinzu: "Hanni
war eine resolute Frau mit klaren Visionen, mit Herz, aber auch mit klaren
Regeln. Sie hatte stets den richtigen Riecher."
Mit den "richtigen Riecher haben" meint Dudu
das Erfolgskonzept für Neve Hanna: "Vor mehr als dreißig
Jahren", erklärt er, "gab es in Israel nur diese typischen
Kinderheime mit einem Schlaf- und Eßsaal. Hanni kam in dieses arme
Gebiet am Rande der Negevwüste und gründete nicht nur das erste
Kinderheim, sondern auch eins, das inzwischen Vorbild ist, weil es ganz
anders ist als die anderen."
Dazu gehört das Wohnen wie in einer "Familie",
genauso wie der Blick über den eigenen Tellerrand: "Wir haben
einen großen Freundeskreis in Deutschland, der oft hier vorbeischaut
und die Kinder unternehmen Reisen nach Europa", zählt Antje
auf: "Wir haben von Anfang an ständig deutsche Volontäre
hier, die den Blick von außen mitbringen. Auch die Bäckerei
gehört zu diesem Konzept."
Damit ist die hauseigene Bäckerei gemeint. Nach deutschem
Standard wird sie von einer deutschen Bäckereimeisterin geführt.
Unter ihrer Anleitung backen die älteren Kinder des Heims die Brote,
Kekse und Brötchen, mit denen dann unter anderem die israelische
Fluggesellschaft EL AL beliefert wird.
"In der Bäckerei lernt man pünktlich zu
sein", sagt Shai, 16 Jahre alt, einer der jugendlichen Heimbewohner.
"Es gibt eine Stechuhr. Es ist wie später im richtigen Berufsleben:
Am Ende des Monats gibt es auch Geld. Das ist fair und motiviert",
sagt er.
Seit acht Jahren wohnt der Sohn von Einwanderern aus Rußland
in Neve Hanna. Da sein Vater starb, mußte seine Mutter die Familie
ernähren. Zeit für den Sohn Shai blieb da nicht, er kam ins
Kinderheim. "Ich mag diesen Ort", sagt Shai. "Als ich hierher
kam, war das alles sehr eigenartig: So viele unterschiedliche Kinder,
aus Rußland, Äthiopien, dann noch die Araber. Ich habe hier
gelernt, daß diese Kinder genauso sind wie ich. Ich weiß jetzt,
was Respekt und Toleranz ist."
Inzwischen versucht Neve Hanna, dies auch den Jüngsten
beizubringen. Seit zwei Jahren gibt es den Tageshort "Pfad des Friedens"
für zehn jüdische und beduinisch- moslemische Jungen aus ähnlich
problematischen Familien. Lernförderung nach der Schule, gemeinsames
Essen und Spielen und das Erlernen der jeweils anderen Sprache stehen
hier auf dem Programm. "Ob Beduine oder Jude - viele Eltern sehen,
daß sie mit ihren Problemen nicht alleine sind, daß die ,Gegenseite'
genauso mit Legasthanie, Armut und anderen Problemen zu kämpfen hat
und schon ist eine Basis da", erzählt Antje. Inzwischen treffen
sich auch die Mütter untereinander.
Verständigung über religiöse und ethnische
Unterschiede hinweg - im Kinderheim Neve Hanna gehört das zum Programm.
www.nevehanna.org Spielend lernen: Das Kinderheim bietet 65 Kindern und
Jugendlichen in fünf Wohneinheiten ein neues Zuhause. Fotos: Antje
Naujoks
Jüdische Allgemeine, 30.3.2006
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