Der Poet als Zeuge des Heiligen
Jiddische Gedichte von Abraham J. Heschel
eingeleitet und übersetzt von Michael Heymel

I. Jüdischer Dichter und Philosoph

Abraham Heschel (1907-1972), in Warschau geborener Sohn eines chassidischen Rebbe, ist neben Martin Buber (1878-1965) und Emmanuel Lévinas (1906-1995) der bedeutendste jüdische Denker des 20. Jahrhunderts. Im Unterschied zu Buber verdankt er seine Kenntnis des Chassidismus nicht nur Büchern, sondern eigener Erfahrung mit lebendiger chassidischer Spiritualität. Er setzt nicht bei der dialogischen Relation von Ich und Du an, sondern bei Gottes Anteilnahme am Menschen. Und anders als Lévinas, der auf der Basis einer primären Verantwortlichkeit gegenüber dem anderen Menschen über dessen Andersheit und die ursprüngliche Sprache nachdenkt, beginnt Heschel mit dem Sinn oder Gefühl für das Unaussprechliche, um dem modernen Menschen Wege zur Erkenntnis der Gegenwart Gottes zu bahnen. Er versucht, das Judentum seiner chassidischen Vorfahren in eine Sprache zu übersetzen, die sowohl der hebräischen und jiddischen Poesie wie der modernen Religionsphänomenologie verpflichtet ist. In Publikationen vor 1933 bediente sich Heschel auch noch der deutschen Sprache. Nach seiner Flucht vor den Nazis und der Übersiedlung in die USA wird er nur noch in Englisch und Hebräisch publizieren.

II. Zur Eigenart des Jiddischen

Um die amerikanische Neuedition der Gedichte des jungen Heschel würdigen zu können, muss man sich über die Eigenart dieser jiddisch geschriebenen Texte im Klaren sein. Das Jiddische ist eine dem Deutschen nahe verwandte, bis heute lebendige Sprache, in die man sich relativ leicht einhören kann. Sich in sie einzulesen ist dagegen um einiges schwieriger. Denn Jiddisch wird wie das Hebräische in einer Schrift geschrieben, die phonetisch nicht eindeutig festgelegt ist. Bei deutschen Wörtern oder Fremdwörtern (wie Heschel sie in seinen Gedichten oft verwendet) wird allerdings, so weit das mit hebräischen Schriftzeichen möglich ist, der Wortklang wiedergegeben, ohne dass man dabei auf die moderne Orthografie Rücksicht nimmt. Daher werden im Jiddischen die Vokalzeichen weit reichlicher als im Hebräischen verwendet. Es ist diese Schreibart, die verbürgte, dass die Juden in Mittel- und Osteuropa trotz ihrer unterschiedlichen Aussprache Texte in jiddischer Sprache lesen konnten.

Heute ist es sowohl in der englisch- wie in der deutschsprachigen Jiddistik üblich, jiddische Wörter in der originalen (hebräischen) Schreibart und in phonetischer Transkription wiederzugeben. Dabei richtet sich die Orthografie jeweils nach der Schreibart derjenigen Sprache, in der die Umschrift erfolgt. Wer jiddische Literatur lesen will, muss also entweder genügend Hebräisch können oder zumindest eine gute Übersetzung haben, die jedoch nur entfernt eine Vorstellung vom besonderen Charakter des Jiddischen vermitteln kann. Um auch ohne Hebräischkenntnisse einen lebendigen Eindruck von jiddischer Literatur zu bekommen, bedarf es der Transkription.

III. Ein chassidischer Poet in Berlin

Die jiddischen Gedichte, die Heschel in der Sammlung "Der Schem-Hamforasch: Mentsch" 1933 veröffentlichte, entstanden zwischen 1926 und 1933, also in der Zeit vor Hitlers Machtergreifung. Sie bilden das erste Buch des jungen Autors. Seit 1927 lebte und studierte Heschel in Berlin. Bereits 1929 veröffentlichte er fünf Gedichte in der New Yorker jiddischen Monatsschrift ‚Zukunft'. Er hatte Kontakt zu jiddischen Dichtern wie Moische Kulbak, Schlomo Beilis, aber auch zu dem berühmten, seit 1924 in Palästina lebenden Chaim Nachman Bialik (1873-1934).

Ein jiddischer Poet aus der Welt der osteuropäischen Chassidim, der im durch und durch säkularen Berlin fromme Gedichte schrieb - so trat der junge Heschel damals in Erscheinung. Er wird als gutaussehender junger Mann mit den dunklen Augen eines Gelehrten geschildert. Was in der persönlichen Begegnung auffällt, sind seine inneren Spannungen.

Der junge Heschel liebte Gedichte von Rainer Maria Rilke, vor allem aus dessen ‚Stundenbuch' (1905), das damals viel gelesen und bewundert wurde. Doch seine eigene Poesie ist eine von Rilke unabhängige, originelle Schöpfung. In einem Brief an Abraham Liessen, den Herausgeber der Zeitschrift ‚Zukunft', bekräftigte er selbstbewusst, seine religiösen Gedichte seien nicht von Rilkes Werken oder anderer Literatur inspiriert, sondern durch Erfahrung. "Ich musste nicht in Rilkes cheder studieren, um zu erkennen, dass ein Gott in der Welt ist. Ich hatte andere Lehrer, andere Pfade, andere Bilder" (24. Februar 1930). Heschel bestand darauf, seine Gedichte seien nicht als künstlerische Übungen, sondern als Ausdruck persönlicher Einsichten zu verstehen. Diese poetisch formulierten Einsichten sind, wie im Rückblick erkennbar wird, die Quelle seiner Theologie.

In den jiddischen Gedichten zeigen sich bereits einige Züge, die für den späteren Religionsphilosophen charakteristisch sind. Einmal ist es die Verbindung von religiösem Denken und poetischer Sprache, die auch Heschels Hauptwerke "Der Mensch ist nicht allein" (1951) und "Gott sucht den Menschen" (1955) auszeichnen wird. Zum anderen sind es bestimmte Grundgedanken seiner Theologie, die schon in den Gedichten ausgesprochen werden: das göttliche Pathos, Gott auf der Suche nach dem rechtschaffenen Menschen, der Mensch als heiliges Bild Gottes, das für Religion und Ethik wesentliche Grundverhältnis von Ich und Du (das Heschel, anders als Buber, von der Initiative Gottes her erfasst).

Gleichwohl wäre es verkehrt, Heschels Gedichte lediglich als tastende poetische Versuche eines religiösen Denkers zu interpretieren. Ihre besondere Qualität erschließt sich nicht aus Übersetzungen, sondern aus dem Klang der jiddischen Originalsprache. Insofern ist es von vornherein verfehlt, ihren literarischen Rang zu beurteilen, ohne das Original zu kennen und vor allem: ohne es zu hören.

Ähnlich wie Sören Kierkegaard, dem er in seinem letzten Buch "A Passion for Truth" (posthum 1973) ein erhellendes Kapitel widmet, ist Heschel ein Autor, dessen Werke laut gelesen sein wollen. Denn erst durch das Vorlesen kommen die eigentümliche Melodie und der Rhythmus seiner Sprache heraus und werden adäquat wahrgenommen. Wer Heschels Schriften verstehen will, muss sie im Idiom ihres Autors hören. Jiddisch ist seine Muttersprache, seine "mame-loschn". Ein Fernsehinterview mit ihm, nur wenige Wochen vor seinem Tod aufgezeichnet, vermittelt einen guten Eindruck davon, wie Heschel sprach. Sein Englisch ist in der Aussprache deutlich gefärbt: man hört den jiddischen Tonfall eines osteuropäischen Juden. Meines Erachtens muss man diesen Tonfall im Ohr haben, um Heschels Gedichte angemessen würdigen zu können. Erst dann begreift man, weshalb etwa Chaim Nachman Bialik dem jungen Dichter zu seinen Versen gratulierte.

IV. Zur amerikanischen Neuausgabe

Die nun vorliegende Sammlung bietet alle Gedichte Heschels in hebräischer Schreibweise und englischer Übersetzung. Morton F. Leifman, emeritierter Professor für Liturgie und Dekan der Kantorenschule des Jewish Theological Seminary New York, hat die Gedichte so wörtlich wie möglich übersetzt, sich zugleich aber auch um eine der Poesie des jiddischen Originals nahe kommende Fassung bemüht. Bedauerlicherweise fehlt eine phonetische Transkription der Gedichte, die den Wortlaut in lateinischen Lettern wiedergibt. Wer kein Hebräisch versteht, kann die Gedichte nicht in der originalen Sprache mit dem für sie so charakteristischen Klang und Pathos hören.

Dennoch ist diese Publikation ein unschätzbarer Gewinn, erlaubt sie doch nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal, die Bedeutung der Poesie für Heschels spätere religionsphilosophische Arbeit an frühen Beispielen zu studieren. Abraham Heschel erweist sich in diesen 66 Gedichten als ein echter Poet, der einen radikalen geistlichen Drang hat, die Übel der Welt zu heilen, und als ein Prophet, der wie die alten hebräischen Propheten von einer Vision der Gerechtigkeit und der Mitleidenschaft bewegt ist.

V. Zum Aufbau und Inhalt des Buches

Das Buch gliedert sich in sechs Abteilungen: I. Der mentsch is hailik (Der Mensch ist heilig), II. Edut-sagn (Zeugnis ablegen), III. Zu a froj in kholom (An eine Frau im Traum), IV. Zwischn mir un welt (Zwischen mir und der Welt), V. Natur-pantomimen (Naturpantomimen), VI. Tikkunim (Die Welt wieder herstellen).

Edward K. Kaplan, der bereits als Heschel-Biograph und Verfasser einer ausgezeichneten Studie über die biblisch-jüdischen Wurzeln von Heschels Sprachkunst hervorgetreten ist, zeigt in seiner Einleitung zu den Gedichten, wie der junge Poet Heschel sich mit der Spannung zwischen sakraler und säkularer ‚Jiddischkajt' auseinandersetzt und in seinen frommen Gedichten den Spuren eines Gottes folgt, der in der modernen Welt im Exil ist. "Er trat ein in die Moderne, während er dem ewigen Geist seiner Kindheit und Jugend treu blieb". In seiner säkularen Umgebung ragte Heschel heraus als ein ‚Sohn der Thora', d.h. ein frommer Mensch, der sich in religiöses Lernen vertiefte. In seinen Gedichten erweist er sich als aufgeklärter, moderner Chassid.

Schon der Titel des Buches (in Verbindung mit der Überschrift der ersten Abteilung: "Der mentsch is hailik") ist programmatisch. Er steht für die mystische Heiligkeit menschlichen Lebens. Heiligkeit ist für Heschel das Wesen des Menschseins. Das erste Gedicht, "Ich und du", bringt aus der göttlichen Perspektive mit spürbarem Pathos die enge Verwobenheit Gottes mit dem Menschen zum Ausdruck. Gott sorgt sich um die Welt - das ist ein Grundgedanke, den Heschel sowohl aus der Bibel und den rabbinischen Kommentaren wie aus Chassidismus und Kabbala gewinnt. Der Poet verspricht, wie sich dem Gedicht "Gott geht mir überall nach" entnehmen lässt, die Welt zu heiligen. In dem folgenden Stück, "Das kostbarste Wort", erscheint die menschliche Sprache als ein potentielles Werkzeug göttlicher Kraft. Jedes Wort will der Dichter zu einem Namen für Gott machen, dessen Name doch unaussprechlich ist. Darin deutet sich der reiche poetische Stil an, in dem Heschel später seine philosophischen Werke schreiben wird.

Mancher mag überrascht sein, wie Heschel im dritten Teil der Sammlung von der Beziehung zu einer Frau spricht. Ist die Unbekannte eine imaginäre oder eine reale Gestalt? "Wir wissen nicht, ob Heschel in Berlin eine wirkliche Frau liebte; die geheimnisvolle Muse bleibt ‚in einem Traum'". Die ihr gewidmeten Gedichte könnten in ihrer zarten Sensibilität einfach als Liebesgedichte erscheinen. Doch sie sind es nur in jenem Sinn wie das von Heschel betend rezitierte Hohelied Salomos, das in der jüdischen Bibel Schir-ha-schirim, das Lied der Lieder, heißt. Wie im Hohenlied die Liebe zwischen Frau und Mann transparent wird für das Geheimnis der göttlichen Liebe, so wird in Heschels Gedichten das sinnenhaft-körperliche Begehren nach der Frau zu einem geheiligten Verlangen: "Schenk mir einen Atemhauch, / die Berührung eines Fingers; / für tausend Stunden Sehnsucht / gib mir ein Wort! […] Deine Augen sind Grüße von Gott. / Dein Körper - eine Oase in der Welt, / Freude für meine heimatlosen Blicke". Die Frau ist eine poetische Macht. In "Recht auf Wunder" wird ihre Schönheit für den Dichter zum Gottesbeweis. Später wird er erklären: "Musik, Poesie, Religion - sie alle weihen ein in die Begegnung der Seele mit einem Aspekt der Wirklichkeit, für den der Verstand keine Begriffe und die Sprache keine Namen hat".

In "Bruder Gott" formuliert Heschel einen bedeutsamen Grundsatz religiösen Lebens: Handlungen bringen die Menschen näher an die Heiligkeit heran als es abstrakte Theologie oder äußerlicher ritueller Gehorsam vermag. Heschels Glaube ist modern, insofern er erwartet, dass Gott der Menschheit hilft. Dem korrespondiert, dass die Menschen Gottes Zeugen sind, die für oder gegen ihn sprechen. Der Dichter ist Zeuge des Heiligen. Er spricht für einen schweigenden Gott, ohne den Widerspruch zwischen Gottes Mitleidenschaft und seinem Schweigen auflösen zu können. Heschel weigert sich, das Leiden Unschuldiger zu rechtfertigen. Er antwortet darauf, indem er sich mit Gottes Gefühlen identifiziert. Im vorletzten Gedicht, das den Titel Teschuwa (Reue) trägt, sagt er: "Ja, manchmal tropft der Regen wie eine Träne. / Ein Sündenbekenntnis Gottes in der Welt - / Aber ich fühle: Gott ist traurig-verlegen, / um seinetwillen wie um unsertwillen". Hier erweist sich der Poet so, wie Heschel später die Gestalt des biblischen Propheten beschreiben wird: als ein homo sympathetikos, ein Mensch, der von Gottes Pathos ergriffen ist und seine Empfindungen mitfühlt.

Für Christen aus den nichtjüdischen Völkern (gojim) ist es nachvollziehbar, dass Menschen Gott um Vergebung bitten. Befremden muss jedoch die Wechselseitigkeit der Vergebung, wie sie in dem zitierten Gedicht angesprochen wird. Dort heißt es nämlich weiter, Gott und Mensch müssten "gemeinsam Reue empfinden (man könnte auch übersetzen: Buße tun)". Die Menschen bitten: "Vergib uns unsere Sünden / wie wir Dir die Deinen vergeben". Verständlich wird diese Bitte nur, wenn man mit dem Dichter Gott und Mensch als aufeinander angewiesene Partner begreift. Gott braucht den Menschen, um erlöst zu werden - ein überraschender Gedanke, der auch christliche Leser zu einem tieferen Verständnis ihrer Gottesbeziehung herausfordert! "Für Heschel unterstützt wahre Dichtung das jüdische rituelle und persönliche Gebet, indem sie einen Ort der Begegnung liefert, wo Gott und der Einzelne mit- oder gegeneinander um wechselseitige Erlösung ringen".

In "Mein Lied" bekundet der junge Poet seinen Willen, ein Freund der Welt zu sein und ihr als Knecht zu dienen, um nicht Gott in der Welt zu beschämen. Wie andere große Mystiker fühlt Heschel sich den weltlichen Vergnügungen gegenüber umso fremder, je mehr er sich Gott annähert. Er sucht nach heiliger Intimität und spürt schmerzlich seine Einsamkeit, den tiefen Riss, der sich durch sein innerstes Wesen zieht. Das Gedicht "Einsam" spricht von sozialer und metaphysischer Einsamkeit. Es lässt erkennen, wie sehr Heschel darum rang, seine Dichterexistenz als Berufung zu verstehen: "Noch singt eine Flamme in mir, die zum Altar strebt. / Ich bin ein Opfer für Gott oder eine finstere Gefahr …". Edward Kaplan hält die zentralen Gedichte des vierten Teils für Heschels persönlichstes Bekenntnis. Sie verraten am meisten von seiner geistlichen Qual und von der Einsamkeit, die er ein Leben lang zu ertragen hatte.

VI. Eine Auswahl für deutsche Leser

Die von mir aus der Sammlung ausgewählten Gedichte sind in lateinischer Transkription wiedergegeben, so dass es auch für der hebräischen Schrift Unkundige möglich ist, die Gedichte in ihrer jiddischen Sprachmelodie kennen zu lernen. Meine Transkription ist ein persönlicher Versuch, heutigen deutschen Lesern Heschels Jiddisch zugänglich zu machen; es ist im Deutschen durchaus auch möglich, die Texte anders zu transkribieren. Wer wissen will, wie die Gedichte in der international akzeptierten YIVO-Trans-kription notiert werden, kann dies am Text des Gedichts "Julisonntag in Berlin" studieren.

Zum anderen habe ich jedem Gedicht eine möglichst wortgetreue deutsche Übersetzung beigefügt. Ich folge dabei weitgehend der englischen Übersetzung von Leifman und bin nur an wenigen Stellen von ihr abgewichen. Da sich die Eigenart von Heschels Gedichten wesentlich im gesprochenen, klingenden Jiddisch mitteilt, ist es außerordentlich schwierig, in einer hochdeutschen Version den poetischen Reiz des Originals zu bewahren. Allenfalls einem in jiddischer Literatur versierten Übersetzer könnte dies annähernd gelingen. Meine Übersetzung verfolgt ein bescheideneres Ziel. Ich wollte lediglich erreichen, dass auch diejenigen Heschels Gedichte verstehen, die im Jiddischen nicht bewandert sind.

Auf die Anmerkungen musste für die Online-Ausgabe verzichtet werden.

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