Gott spricht die Sprache der Menschen
Franz Rosenzweig als jüdischer Theologe - eine Einführung
von Inken Rühle

Von der zukünftigen Überwindung der Entzweiung
1. Korinther 15 als "christologischer" Schlüsseltext im "Stern der Erlösung"
Daß "das Christentum einmal aufhören wird, zu Christus zu beten, und sich an Gott direkt halten wird, ... steht sogar im Neuen Testament". Diese Feststellung Rosenzweigs, die einen Kernsatz seiner Bestimmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses bildet, bezieht sich auf das 15. Kapitel des 1. Korintherbriefs, wo es in Vers 28 heißt: "Wenn aber alles ihm [Christus] unterworfen sein wird, dann wird auch er selbst, der Sohn, unterworfen sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem." Vielleicht zog Paulus mit diesem erstaunlichen Satz, der in 2.000 Jahren allerdings nur ein geringes theologisches Echo gefunden hat, die Konsequenz daraus, daß es Christus mit Gottes Hilfe zwar gelungen war, den Tod zu überwinden, nicht aber die Mehrzahl der Juden zu sich zu bekehren, deren Liebe zu Gott als dem Einen Herrn noch stärker war als der Tod! Sicher aber enthält der Vers eine Erinnerung daran, daß ein jüdischer Messias von Gott immer nur auf Zeit - und zwar auf Weltzeit - berufen wird.

Jüdischerseits wird dies terminologisch zum Ausdruck gebracht durch die Unterscheidung zwischen "den Tagen des Messias" und "der kommenden Welt", die in christlicher Lehre - etwa unter dem Stichwort einer "präsentischen Eschatologie" - ineinander zu fließen drohen. Als Rosenzweig einmal gefragt wurde, warum der "Stern der Erlösung" ein jüdisches Buch sei, verwies er nicht zufällig auf den zu Grunde gelegten Begriff von Erlösung, der von dem der Offenbarung scharf unterschieden und eben darin zutiefst unchristlich sei. Denn für "den Christen ist doch Christus (der Gekommene) Erlöser und Offenbarer zugleich." Ganz entsprechend heißt es im "Stern", daß sich im christlichen Bewußtsein der klare Unterschied zwischen Offenbarung und Erlösung verwische, da in Christi Erdenwirken die Erlösung als bereits geschehen angesehen werde.

Bereits Tagebuchaufzeichnungen von 1916 stellen einen ausdrücklichen Zusammenhang zwischen jüdischer Erlösungsvorstellung und dem Satz aus 1. Korinther 15 her. Darin ordnet Rosenzweig der christlichen Rede von verschiedenen, aufeinander folgenden Aionen das Begriffspaar "diese Welt" und "Tage des Messias" zu; dagegen entspreche "die kommende Welt" dem "alles in allem" des paulinischen Korinther-Briefes. Zur Begründung spielt Rosenzweig auf den Talmud an, in dem es an mehreren Stellen heißt: "Alle Künder, sie alle kündeten allein von den Tagen des Messias, aber von der kommenden Welt gilt (Jes 64,3): kein Auge hat je gesehen ..." Die hier formulierte, klare Unterscheidung, die sich auch sonst in der jüdischen Tradition findet - nämlich die Überzeugung, daß der Messias nur Vorläufer des Eigentlichen, der Gottesherrschaft, ist -, hatte bei Paulus offenbar ebenfalls eine Spur hinterlassen.

Allerdings verlor sich jene Spur im Heidenchristentum schon bald. Rosenzweig beschreibt in "Stern" III,3 diese Entwicklung in einem Abschnitt, der den Randtitel trägt: "Die christliche Lehre von den letzten Dingen": "Der Sohn, so lehrt es der erste Theolog des neuen Glaubens, wird einst, wenn ihm alles untergetan sein wird, seine Herrschaft dem Vater übergeben, und dann wird Gott sein Alles in Allem. Aber man sieht gleich: das ist ein Theologumen. Es ist für die christliche Frömmigkeit bedeutungslos, es schildert eine entfernte, weit entfernte Zukunft, es handelt von den letzten Dingen, indem es ihnen ausdrücklich allen Einfluß auf die Zeit nimmt, denn noch und in aller Zeit gehört die Herrschaft dem Sohn und ist Gott nicht Alles in Allem; es schildert eine durchaus jenseitige Ewigkeit. Und so hat dieser Satz in der Geschichte der Christenheit auch nie mehr bedeutet als eben ein Theologumen, einen Gedanken. ... Es war zwar ein Gedanke, daß der Menschensohn einmal seine Herrschaft abgeben würde, aber das ändert nichts daran, daß er in der Zeit vergöttert wurde. Es war zwar ein Gedanke, daß Gott einmal Alles in Allem sein würde, aber das ändert nichts daran, daß ihm auf das Etwas im Etwas dieser Zeitlichkeit, wo sein Platzhalter Herr war, recht wenig Einfluß verstattet wurde."

Die nicht allein bei monophysitischen Christen vorhandene Neigung, über dem Sohn den Vater zu vergessen, dem jener doch alles verdankt, wird hier klar negativ bewertet. Buber hat in einem ähnlichen Zusammenhang, in dem er ebenfalls die Verschmelzung von Offenbarung und Erlösung in Christus kritisierte, einmal betont, daß es stets darauf ankomme, nehmend zu wissen, daß einer gibt. Wer aber nimmt, was ihm gegeben wird, und das Geben des Gebers nicht erfährt, der - so Buber in deutlicher Anspielung an Philipper 2,6 - "empfängt nicht, und die Gabe verkehrt sich in Raub." Genau dies ist nach jüdischer Überzeugung bei den Christen der Fall, weshalb Rosenzweig im "Stern" ihre Christusgläubigkeit als Wahn bezeichnet, den er ihnen in Weltzeit allerdings nachsehen kann, weil ihre eigene Tradition zumindest theoretisch die Vorläufigkeit dieses Zustandes anerkennt.

Und so werden am Ende - wie ja schon Maimonides prophezeit hat - auch Christen zum Glauben an den Einen Gott zurückkehren. Von Versuchen jüdischerseits, diese Umkehr zu beschleunigen und in der Kirche schon jetzt zu bewirken, hielt Rosenzweig übrigens ebenso wenig wie von christlicher Judenmission. Er begründete dies zunächst mit der allgemeinen Säkularisierung der Gesellschaft, indem er schrieb: "ich kann nicht meine Hoffnung und Überzeugung, dass die Christenheit einst sich bekehren wird, in eine Hoffnung für heute und für ihn den Einzelnen umsetzen; denn ich weiss, dass heute der Christ der Christus absagt, dadurch nicht Gott findet, sondern Gott überhaupt verliert; in dieser Beziehung unterscheide ich mich scharf von den meisten Juden heute, die, wie Cohen, in der liberalprotestantischen Verlegenheit um Christus den Anfang der Bekehrung der Christen sehen."

Während er sich hier also von der jüdischen Mehrheitsmeinung absetzte, berief Rosenzweig sich für sein zweites Argument positiv auf die jüdischen Tradition. So schrieb er an Margrit Rosenstock, mit der er gelegentlich über derartige theologische Fragen korrespondierte, weil er in seinem christlichen Freundeskreis bei ihr am ehesten auf Verständnis stieß: "dem jüdischen ›Einzig‹ entspricht das ›Christus allein‹, das ›sola fide‹ der Reformation. Um dessentwillen ist das Christentum ›Monotheismus‹. ... Darin also gibt das Christentum dem Judentum nichts nach. Und deswegen verwehrt das offizielle rabbinische Judentum seit langem, den Begriff des ›Götzendiensts‹ auf das Dogma von der Dreieinigkeit zu beziehen."
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Bereits 1913 hatte Rosenzweig in einem Brief an Rudolf Ehrenberg durch wiederholte Anspielungen auf die Bedeutung von 1. Korinther 15 für das jüdisch-christliche Verhältnis hingewiesen. Dort heißt es zunächst: "Er [Christus] bleibt als der Herr bei seiner Kirche alle Tage bis an der Welt Ende. Dann aber hört er auf, Herr zu sein, und wird auch er dem Vater untertan sein, und dieser wird - dann - Alles in Allem sein." Wieder also ist es die weltzeitliche Begrenztheit des Christentums, die Rosenzweig hervorhebt, wobei er - neben dem ersten Korintherbrief - ausgerechnet auch noch eine Formulierung aufgreift, die dem matthäischen Missionsbefehl entstammt. Dann folgt wenig später ein erstaunlicher Satz: "Das Volk Israel, erwählt von seinem Vater, blickt starr ... auf jenen letzten fernsten Punkt, wo dieser sein Vater, dieser selbe, der Eine und Einzige - ›Alles in Allem‹! - sein wird. An diesem Punkt, wo Christus aufhört der Herr zu sein, hört Israel auf erwählt zu sein".

Da für Rosenzweig Erwählung den wahren Zentralgedanken des Judentums bildet, bedeutet diese Aussage nicht weniger als daß es am Ende nicht nur keine Christen, sondern auch keine Juden mehr geben wird! Wenn Gott seine Herrschaft antritt, werden weder Christentum noch Judentum Bestand haben! Dann wird weder der Christus noch die Tora länger im Zentrum stehen, sondern einzig Gott! Und nur weil die Christen die Vorläufigkeit der Bedeutung Jesu verdrängt haben, sind in der Gegenwart Juden in bezug auf Gott der Wahrheit näher. "Die jüdische Welt, die Welt des Gesetzes, ... zerbricht dann. Aber der jüdische Gott wird nicht zur Lüge. Er bleibt, was er war: Gott. Und darum kann ich das Judentum nicht Wahn nennen ... Dem Christentum gehts umgekehrt. Seine Welt wird ihm nicht zerbrechen. Aber der, den es Gott genannt hat - den wird es nicht mehr so nennen können, sondern wird nur noch Gott selber Gott nennen."

Zwar kann auch der Talmud davon sprechen, daß am Ende die Tora keine Bedeutung mehr haben wird, wenn es in Nidda 61b etwa heißt: "In der Zukunft, die da kommt, hören die Gebote auf." Dennoch ist es für jüdische Ohren unerhört, wenn hier von einem Juden das Ende Israels angekündigt wird; gibt es doch nach Menachot 53b "für Israel nimmermehr ein Aufhören, nicht in der hiesigen Welt und nicht in der kommenden Welt." Die Zumutung der Rosenzweig'schen Äußerung wird noch dadurch gesteigert, daß dieses Eingeständnis ausgerechnet im Angesicht eines Christentums erfolgt, welches das Ende Israels - wenn auch in einem anderen Sinn - allzu oft gepredigt hat. Falls es wahr ist, daß Aussagen von Juden über die Völker immer davon abhingen, wie sie von diesen behandelt wurden, dann bildet Rosenzweig eine Ausnahme von der Regel. Denn allem Antisemitismus in Deutschland und aller Judenfeindschaft seiner Freunde zum Trotz war er schon 1913 bereit, als Entsprechung zu seiner Relativierung des Christentums auch das Judentum, für das er sich doch gerade erst entschieden hatte, als etwas Vorläufiges anzusehen - ein Gedanke, den er im "Stern der Erlösung" ausführlicher entfaltete.
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Daß der Sohn einst auf sein Amt verzichten und alles dem Vater übergeben wird - dieser Satz des Paulus ist in seiner Deutlichkeit der Relativierung Christi wohl einmalig innerhalb des Neuen Testaments. Doch es gibt noch einen weiteren Text, in dem Christus - nun allerdings nicht allein in heilsgeschichtlicher Perspektive, sondern sogar auf der Textebene selbst - eigentümlich zurücktritt zugunsten des Vaters. Das ist der Fall in Römer 11,25ff, dem Abschluß des paulinischen "Traktats über die Juden". Im Zusammenhang mit der Rettung "Ganz-Israels", die erfolgen wird, sobald die "Fülle der Heiden eingegangen ist", schreibt Paulus unter Verwendung mehrerer Bibelzitate von einem "Erlöser aus Zion", der kommen wird, um die Gottlosigkeit von Jakob zu nehmen. Es ist in der Forschung recht umstritten, ob Paulus damit den wiederkehrenden Christus meine, der die Juden gleichsam direkt zum Heil führen wird, oder ob Israels Rettung an Christus vorbei erfolge. Für beide Deutungen lassen sich gute Argumente finden, so daß diese Frage letztlich nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann. Auffällig ist aber allemal, daß Paulus es offenbar vermeidet, Christus beim "Namen" zu nennen. Dasselbe gilt auch für den direkt anschließenden Hymnus, in dem er Gottes wunderbare, aber geheimnisvolle Wege preist und wiederum Christus nicht erwähnt. Dies ist umso bemerkenswerter, als Römer 11,33-36 der einzige paulinische Hymnus ist, in dem jener nicht ausdrücklich vorkommt.

Im "Stern der Erlösung" greift Rosenzweig auch Römer 11 auf und verbindet diesen Text mit 1. Korinther 15, wodurch er sich - trotz seiner vehementen Abneigung gegen das Neue Testament - abermals als subtiler Kenner und souverän-eigenwilliger Interpret dieses Buches erweist. Denn durch eine solche Textkombination erreicht er folgendes: wenn "Paulus die Juden bleiben läßt bis zum Ende, - bis ›die Fülle der Völker eingegangen ist‹, eben bis zu jenem Augenblick, wo der Sohn die Herrschaft dem Vater zurückgibt", dann bleibt dem Christus praktisch gar keine Zeit mehr, die Juden "zu retten". Und so erübrigt sich die innerchristliche Diskussion über einen Sonderweg Gottes mit Israel. Durch seine Art der Zusammenschau kann Rosenzweig aus dem Neuen Testament ableiten, was er zuvor schon als jüdische Tradition dargestellt hatte: daß "das Judentum in seinem ewigen Fortleben durch alle Zeit, das Judentum, das im ›alten‹ Testament bezeugt wird und selber von ihm lebendig zeugt, der Eine Kern ist, von dessen Glut die Strahlen unsichtbar genährt werden, die im Christentum sichtbar und vielgespalten in die Nacht der heidnischen Vor- und Unterwelt brechen."

Und so leuchtet am Ende der Rosenzweig'schen "Christologie" der Stern der Erlösung auf: mit seinem jüdischen Kern und seinen christlichen Strahlen Sinnbild für das Zusammenwirken der beiden Gemeinden, Judentum und Christentum, vor Gott.

Von der Vielgestaltigkeit der Wahrheit
Rosenzweigs Absage an jeden von Menschen erhobenen, absoluten Wahrheitsanspruch

"Gott ist der Herr der Wahrheit. Er teilt sie uns aus, je nachdem wo wir sind, so dass sie stets unsre Wahrheit ist oder besser: so dass wir stets Teil an ihr haben ... Gott ist die Wahrheit."
Rosenzweig an Eugen Rosenstock am 24.2.1919

In einem Midrasch von der Schaffung des ersten Menschen wird erzählt, wie die Dienstengel Gott davon abrieten, den Menschen zu machen, da dieser voll Lüge sein werde. Gott soll daraufhin die Wahrheit auf die Erde geworfen haben, was erneut den Protest der Engel hervorrief und sie zu der Frage veranlaßte, warum er sein eigenes Wahrzeichen derart verachte. Darauf antwortete Gott: "damit die Wahrheit von der Erde aufsteige, wie geschrieben ist (Ps 85,12): Wahrheit wachse aus der Erde hervor." Indem die jüdische Tradition Gott die Wahrheit auf die Erde geben läßt, noch bevor der Mensch geschaffen wurde, wird deutlich, daß die Wahrheit zu groß ist, als daß ein Mensch oder ein Volk oder eine Glaubensweise sie erfassen könnte. Sie alle ergreifen gerade in ihrer Verschiedenheit immer nur bestimmte Aspekte der Wahrheit, deren Fülle allein bei Gott ist. Juden bekennen daher am Neujahrstag im Gottesdienst mehrfach: tma Myhla hta yk - "denn Du, Gott, bist Wahrheit"; und in Schabbat 55a wird die Wahrheit als das Siegel Gottes bezeichnet.

Dies beides greift Rosenzweig im dritten Teil des "Stern der Erlösung" nach seiner Darstellung der vor Gott stehenden Gemeinden mehrfach auf, um so zu betonen, daß nicht die Religionen - sei es das Judentum, sei es das Christentum - "im Besitz" der Wahrheit sind. Sondern die ganze Wahrheit ist allein bei Gott; er "ist die Wahrheit ... Die Wahrheit ist von Gott. Gott ist ihr Ursprung." In der Offenbarung aber läßt er den Menschen jeweils ihren Teil an der Wahrheit zukommen, so daß die weltliche Gestalt der Wahrheit viele Formen annehmen kann. Doch bedeutet dies keine Verflüchtigung oder Relativierung der Wahrheit, die stets eine bleibt. Denn ihre Vielgestaltigkeit wird durch die Gemeinschaft zusammengehalten, welche von der Offenbarung gestiftet wird. In dieser Gemeinschaft stehen auch Juden und Christen, aller Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit zum Trotz.

Im "Stern" heißt es dazu: Der Mensch muß leben, wohin er gestellt ist; denn er ist von der Hand des Schöpfers hingestellt. Das gilt nach Rosenzweig für einen Juden ebenso wie für einen Christen. Als Individuum, das sich in einem der beiden "-tümer" bereits vorfindet, ist es seine Aufgabe, zu seiner besonderen Sendung Amen - "Wahrlich" - zu sagen. Denn die Wahrheit, die von Gott urspringt, muß dem Menschen als seine Wahrheit zukommen, er muß sie sich persönlich zueignen. Erst dann gilt einem Menschen - ob Jude oder Christ - die Wahrheit für die Wahrheit Gottes, indem er sie im Wahrlich zu seiner eigenen macht. Ob das, was ihm zuteil wird, die ganze Wahrheit ist, braucht ihn nicht zu kümmern. Genug, daß sie ihm "zu Teil" wurde. Und so läßt er die ganze Wahrheit auf sich beruhen und erkennt dennoch den Teil, an den er selbst sich hält, für ewige Wahrheit. Diese aber soll und muß im eigenen Leben bewährt werden.

Von dem Substantiv Wahrheit leitet Rosenzweig also das Verb "bewähren" ab und bringt damit seine Überzeugung zum Ausdruck, daß Wahrheit nicht etwas Statisches, sondern etwas zutiefst Dynamisches ist. Mit solcher Rede von der Bewährung der Wahrheit wird im Deutschen nachgeahmt, was im Hebräischen bereits vorgezeichnet ist und was Rosenzweig neu ins Bewußtsein bringen will: nämlich den etymologischen Zusammenhang zwischen ÄMÄT, tma - "Wahrheit" - und dem Ausruf AMEN, Nma - "wahrlich", einem Ausdruck des Sich-zu-eigen-Machens. Wegen dieser sprachlichen Zusammengehörigkeit gilt: "Der Wahrheit, die Gottes Siegel ist, entspricht als Siegel des Menschen das Wahrlich. Sein Wahrlich, sein Ja und Amen, darf er sagen und soll es."

An dieser Stelle kehrt Rosenzweigs Verknüpfung von Objektivität und Subjektivität, die er anhand seiner Forderung nach einem neuen Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie entwickelt hatte, in anderer Form wieder. Entsprechend der Subjektivität des neuen Denkens kann es gar nicht nur eine Wahrheit geben. Sie muß vielmehr stets "Wahrheit für jemanden sein ... Und damit wird es zur Notwendigkeit, daß unsre Wahrheit vielfältig wird und daß ›die‹ Wahrheit sich in unsre Wahrheit wandelt. Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ›ist‹, und wird das, was als wahr - bewährt werden will. Der Begriff der Bewährung der Wahrheit wird zum Grundbegriff dieser neuen Erkenntnistheorie, die an die Stelle der Widerspruchslosigkeits- und Gegenstandstheorien der alten tritt und an Stelle des statischen Objektivitätsbegriffs jener einen dynamischen einführt".

Diese Definition Rosenzweigs von Wahrheit ist wohl der langfristig fruchtbarste Gedanke des "Stern der Erlösung" bezüglich des Verhältnisses zwischen Juden- und Christentum. Dies gilt um so mehr, als gerade manche Christen sich zur Rechtfertigung ihrer judenmissionarischen Gelüste gern auf "die Wahrheit" berufen, die gerade den "jüdischen Schwestern und Brüdern" nicht vorenthalten werden dürfe. Rosenzweig lehnt solch einen starren und anmaßenden Wahrheitsanspruch ab. Stattdessen hält er dagegen die Subjektivität und Stückhaftigkeit jeder menschlichen Wahrheit. "Die" Wahrheit gibt es nicht, sondern immer nur Wahrheit für jemanden. Natürlich ist er für sich persönlich davon überzeugt, daß der jüdische Weg der richtige ist. Aber er weiß, daß solch eine Gewißheit stets subjektiv bleibt und allein im überzeugenden Lebensvollzug - eben nicht bewiesen, aber bewährt werden kann, unter Juden und Christen gleichermaßen.

Als Maßstab der Bewährung bezeichnet Rosenzweig zum einen den Preis, den ein Mensch für seine Wahrheit bereit ist zu zahlen, wobei er wohl an die vielen jüdischen Opfer christlicher Willkür denkt. Da aber auch Fanatiker oft bereit sind, für ihre nicht eben lebensförderliche Sicht der Wahrheit ihr Leben einzusetzen, nennt Rosenzweig als zweites und noch wichtigeres Kriterium von Wahrheit das Band, das diese unter Menschen zu stiften vermag. Damit aber wird - soweit es die Christen betrifft - das Verhältnis der Kirche zu Israel zu einem ganz wesentlichen Katalysator für die christliche Teilhabe an der Wahrheit.

An dieser Stelle macht Rosenzweig noch einmal deutlich, daß es ihm zwar um ein partnerschaftliches Miteinander geht, daß er aber keineswegs eine Verschmelzung oder ein Ineinanderaufgehen der "-tümer" erwartet oder gar fordert. Vielmehr betont er abermals, daß die von der Wahrheit gestiftete Gemeinschaft zwischen Juden und Christen niemals hinausführen kann "über die beiden in aller Zeit unversöhnlichen Messiaserwartungen selber: die des kommenden und die des wiederkommenden; ... Nur bei Gott selber steht da die Bewährung, nur vor ihm ist die Wahrheit Eine. Irdische Wahrheit bleibt also gespalten".

Es ist wohl kein Zufall, daß gerade ein Jude in dieser Weise von einer Gemeinschaft in Gespaltenheit schreibt; vermögen doch Juden aufgrund ihrer Jahrhunderte alten Traditionen Spaltungen und Gegensätze besser zu ertragen als Christen. Darauf weist auch Rosenzweig in seiner Charakterisierung beider Gemeinden hin. In der jüdischen Sicht von Gott, Mensch und Welt ist demnach alles voll von Gegensätzen, weshalb sich die Frage nach dem jüdischen Wesen - wenn man sie denn überhaupt stellen will - nach Auskunft des "Stern der Erlösung" "nur durch solche Aufzeigung von Widersprechendem beantworten" läßt. Denn Gott ist nach dem Zeugnis der hebräischen Bibel ein Gott der Liebe und der Vergeltung, Gott Israels und zugleich König der Welt, erhaben und demütig in Einem. Der jüdische Mensch erweist sich ebenfalls als eine Herberge von Widersprüchen: denn im Bewußtsein, als Israel Gottes Erwählter und Liebling zu sein, steht er in der Gefahr zu vergessen, daß Gott sich nicht allein den Juden zuwendet; und doch ist es seine eigene Bibel, die Gott auch zu den Feinden Israels, Ägypten und Assur, sagen läßt: "mein Volk". Schließlich die Welt - auch sie erscheint im Judentum als ganz durchdrungen vom Zwiespalt zwischen dieser und der kommenden Welt, zwischen Heilig und Gemein, Schabbat und Werktag, "Thora und Weg der Erde", Leben im Geist und Geschäft, Israel und den Völkern. Und doch "ist es nicht einfach so, daß das Heilige das Gemeine draußen ließe, sondern der Gegensatz ist ganz ins Innere hineingenommen, und wie der Segen alles Gemeine erfaßt und nichts mehr gemein bleiben läßt, sondern alles heiligt, so werden auch des ewigen Lebens der künftigen Welt, das eben noch Israel allein vorbehalten schien, plötzlich nicht anders auch die Frommen und Weisen der Völker teilhaftig und die Gesegneten selber ein Segen." Die Gegensätze werden also nicht geleugnet oder übertönt, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit zusammengehalten. Diese integrierende Kraft im Judentum entspringt letztlich der Erkenntnis, daß gerade in einander widersprechenden Wahrheiten die Wirklichkeit am angemessensten zum Ausdruck kommt.

Im Christentum dagegen werden die gleichfalls vorhandenen Gegensätze und die aus ihnen resultierende Spannung nicht ausgehalten. Stattdessen kommt es zu einer Zweiheit des christlichen Wegs, weshalb im "Stern" das Wesen des Christentums durch die Worte "Die zwei Straßen" charakterisiert wird. Am sichtbarsten wird diese Zweiheit nach Meinung Rosenzweigs im christlichen Gottesverhältnis mit seiner Unterscheidung von Gott Vater und Gott Sohn, die allerdings nicht vorschnell gleichgesetzt werden dürfe mit der Trennung zwischen Schöpfung und Offenbarung oder Strenge und Liebe. Rosenzweig widersteht also der Versuchung einer zwar naheliegenden, aber theologisch doch unzulässigen Vereinfachung, gemäß der im Christentum das "Gesetz" allein Gott Vater, das "Evangelium" dagegen, auf das es letztlich ankomme, dem Sohn zugeordnet werde. Im Gegenteil: er weist ausdrücklich darauf hin, daß nach christlichem Selbstverständnis ein derartiger Dualismus ausgeschlossen werde: denn im Neuen Testament heißt es vom Vater, er habe die Welt "also geliebt", daß er sogar seinen Sohn hingab; und gleichzeitig wird vom Sohn gesagt, daß er sowohl bei der Schöpfung mitwirke als auch als Weltrichter fungiere.

In der Theorie werden also auch hier - wie im Judentum - die Gegensätze in die eigenen Grenzen hineingezogen. Erneut erweist sich der Jude Rosenzweig als äußerst verständnisvoller Interpret christlicher Theologie. Dies hindert ihn allerdings nicht, kritisch darauf hinzuweisen, daß in der Praxis christlicher Frömmigkeit eine derartige Synthese nicht gelinge - ein Urteil, welches das Dilemma aller klassischen Christologie, deren theologischer Anspruch der praktischen Umsetzung nicht gerecht wird, wohl treffend auf den Punkt bringt. Im Alltag - so die Auskunft des "Stern" - teilt sich der "Weg der Christenheit ... in zwei Wege - eine Zweiheit, die dem Juden schlechthin unbegreiflich ist, auf der aber gleichwohl das christliche Leben beruht." Denn gefühlsmäßig sehnt sich ein Christ stets nach einer Aufhebung des Unterschieds zwischen Gott und Mensch. Gott mußte Mensch werden, damit er für aus dem Heidentum kommende Christen jene wahrhaftige Lebendigkeit erhielt, die intime Vertrautheit erst möglich machte. Nur im Sohn wird darum die geschwisterliche Gottesnähe erfahrbar, weshalb das Johannes-Evangelium behaupten kann, daß er allein der Weg zum Vater sei.

"Aber gleichzeitig geht er [der Christ] noch einen andern Weg, den Weg unmittelbar mit dem Vater. Wie er sich im Sohn Gott unmittelbar in die brüderliche Nähe seines eignen Ichs herangeholt hat, so mag er sich vor dem Vater wieder alles Eignen entledigen. In seiner Nähe hört er auf, Ich zu sein. Hier weiß er sich im Kreise einer Wahrheit, die alles Ichs spottet. Sein Bedürfnis nach der Nähe Gottes ist am Sohn befriedigt; am Vater hat er die göttliche Wahrheit." Die Person des Vaters steht gleichsam für die Sachlichkeit des Erkennens und Handelns, in ihr sammelt sich das Wissen wie das Tun in feste Ordnungen. Die so bezeichnete "Zuständigkeit" Gott Vaters schafft Distanz; diese wiederum läßt in der Volksfrömmigkeit den Vater zugunsten des Sohnes an Bedeutung gewöhnlich zurücktreten. So entsteht ein christozentrisches Ungleichgewicht, das ein ausgewogenes und dynamisches Miteinander zwischen den beiden Personen der Trinität - von der dritten Person, dem Geist, ganz zu schweigen - verhindert.

Rosenzweig formuliert dies in Abgrenzung zum Judentum folgendermaßen: "Es ist unchristlich, diese beiden Wege zu Gott miteinander zu vermengen. Es ist Sache des ›Takts‹, sie auseinander zu halten und zu wissen, wann es gilt, den einen zu gehen, wann den andern. Jene blitzschnell unerwarteten Umschläge aus dem Bewußtsein der göttlichen Liebe in das der göttlichen Gerechtigkeit und umgekehrt, wie sie für das jüdische Leben wesentlich sind - der Christ kennt sie nicht; sein Gang zu Gott bleibt doppelt, und zerreißt ihn der Zwang dieses doppelten Wegs, so ist es ihm eher gestattet, sich klar für den einen zu entscheiden und ihm sich ganz zu widmen, als im Zwielicht zwischen beiden hin und her zu flackern."

So steht also im "Stern der Erlösung" das Unvermögen der Christen, das Paradox der eigenen Theologie - wie es etwa in der Lehre von den drei göttlichen Personen oder den zwei Naturen Christi einst formuliert wurde - im Alltag angemessen umzusetzen, jüdischerseits eine in Jahrhunderten eingeübte Praxis gegenüber, mit Gegensätzen zu leben, von der vor allem Talmud und Midrasch beredtes Zeugnis ablegen. Diese Fähigkeit war für Rosenzweig ein so wesentlicher Faktor nicht nur des Judentums allgemein, sondern auch seiner eigenen Jüdischkeit, daß er sie für seine Darstellung des jüdisch-christlichen Verhältnisses fruchtbar machte.

"Beide sind Worte des lebendigen Gottes"

"... wo finden Sie es noch, daß in einer Kontroverse nicht einer hier, einer dort steht, sondern jeder sowohl hier als dort. Es ist, als wenn hier ein ganz andrer Wahrheitsbegriff waltet als der übliche logische, der index sui et falsi ist. Ein ganz unbuchmäßiger Begriff der Wahrheit."
Franz Rosenzweig, Der jüdische Mensch
Gegensätzliche Wahrheit als Strukturmerkmal jüdischer Hermeneutik und ihre Weiterentwicklung durch Rosenzweig
Zu Beginn dieser Arbeit ist schon dargestellt worden, wie sehr Rosenzweig von der traditionellen jüdischen Hermeneutik fasziniert und beeinflußt war. Die in Talmud und Midrasch begegnende Eigenart jüdischen Denkens lebt ganz wesentlich davon, die bereits in der hebräischen Bibel vorhandene Stimmen- und Meinungsvielfalt noch zu vergrößern, ohne dabei vor recht unterschiedlichen oder gar einander widersprechenden Aussagen zurückzuschrecken. In solch einem Nebeneinander von konkurrierenden Aussagen, die in Auslegung desselben Textes entstehen, kommt ein fundamentaler Sachverhalt zum Ausdruck, der nicht allein für die Hermeneutik wesentlich ist. Vielmehr wurde in neuerer Zeit innerhalb des Judentums im Zusammenhang mit der Entwicklung und Etablierung einer jüdischen Theologie das Potential dieses Ansatzes erkannt, so daß die für die Aggada charakteristische Pluralität in der Fülle und Verschiedenheit moderner theologischer Entwürfe weiterwirkt. Die aggadische Vielfalt wurde gewissermaßen aus der Mikrostruktur der midraschischen Textbeobachtung projiziert in die Makrostruktur konkurrierender Theologien.

Die von Rosenzweig bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Theologie des jüdisch-christlichen Verhältnisses läßt sich in diesem Kontext als Versuch deuten, über den rein innerjüdischen Rahmen noch hinauszugehen und ein jüdisches Verstehens- und Deuteprinzip sogar auf das Christentum auszuweiten, dem diese Denkweise doch weitgehend fremd ist. Rosenzweigs Grundsatz, dem gemäß Gott den Menschen jeweils ihren Teil an der Wahrheit zukommen läßt, erscheint dadurch als eine äußerst gewagte Ausweitung eines für das Judentum kennzeichnenden Prinzips. Dies gilt umso mehr, als Rosenzweig sogar denen Teilhabe an der Wahrheit zugesteht, deren Lehren er persönlich für Wahn hält und deren teilweise penetrantes Beharren auf dem Besitz der ganzen Wahrheit nicht eben dazu einlädt, derart großzügig bedacht zu werden.

"Stern" II, der jenseits der "tümer" steht, hatte deutlich gemacht, daß Offenbarung nicht auf eine Religion beschränkt ist, sondern dem einzelnen Menschen unabhängig von seiner institutionellen Zugehörigkeit geschieht. Dem entspricht Rosenzweigs Bemerkung, daß Offenbarung nur - biblisch gesprochen - "Er stieg herab" umfasse; alles weitere sei bereits Interpretation. Wenn dieser Satz auch die alltägliche Konkretisierung der Offenbarungserfahrung auf der Ebene der Gemeinde mit einschließt, dann ist es ihm als Juden möglich, selbst das Christentum in gut aggadischer Manier als eine zulässige Möglichkeit der Interpretation von Offenbarung anzusehen - aber eben nur als eine Möglichkeit neben anderen. Rosenzweigs Ansatz erreicht also beides: eine Anerkennung der Christen bei gleichzeitiger Beschneidung ihres Alleinvertretungsanspruchs.

Es ist gelegentlich kritisch angemerkt worden, daß Rosenzweig sich bei seinem Geltenlassen des Christentums zu Unrecht auf Jehuda Halevi oder Maimonides berufe. Denn diese gingen klar von einem Gegensatz zwischen der einen wahren, jüdischen Religion und den Lügenreligionen aus. Christentum und Islam hätten nur insofern eine Sonderstellung, als sie durch den besonderen Charakter ihrer natürlich-selbsterfundenen Lehren den Menschen Begriffe näher brächten, die diese einst am Ende der Tage für die wahre Offenbarung empfänglicher machten. Solcher Kritik ist, soweit es die Rezeption der beiden mittelalterlichen Lehrer angeht, zuzustimmen. Doch Rosenzweig beschränkt sich eben nicht darauf, anerkannte Lehrmeinungen zu zitieren, um so seine eigene Theologie zu rechtfertigen. Sondern er entwickelt das, was an Tradition auf ihn gekommen ist, für seine Gegenwart weiter - eine Vorgehensweise, die in den jüdischen Lehrhäusern Israels in Jahrhunderten geübt wurde. Indem er die Fähigkeit, auch gegensätzliche Wahrheit zu ertragen, ins Zentrum seiner Erwägungen über das Verhältnis von Juden und Christen stellt, erweist er sich ein letztes Mal als Denker, der tief in der jüdischen Tradition von Talmud und Midrasch wurzelt und ganz wesentlich von ihr lebt.

Von der Bescheidenheit

Der "Stern der Erlösung" schließt - nachdem er sich in der Schau des göttlichen Antlitzes für einen kurzen Augenblick in das Innerste des Heiligtums gewagt hatte - mit einem Ausblick in den Alltag des Lebens. Über diesem Leben steht ein Gebot der Bibel, denn "im Lichte des göttlichen Antlitzes zu wandeln, wird nur dem, der den Worten des göttlichen Mundes folgt." Was aber spricht dieser Mund? "Er hat dir gesagt, o Mensch, was gut ist, und was verlangt der Ewige dein Gott von dir als Recht tun und von Herzen gut sein und einfältig wandeln mit deinem Gott." In diesem Ausspruch des Künders Micha (Kapitel 6,8) ist für Rosenzweig alles Entscheidende enthalten, was er zuvor auf hunderten von Seiten in immer neuen Anläufen dargestellt hatte: "einfältig wandeln mit deinem Gott - das ist ... so ganz Heute und also ganz ewig wie Leben und Weg, und darum so unmittelbar der ewigen Wahrheit teilhaft wie Leben und Weg. Einfältig wandeln mit deinem Gott - nichts weiter wird da gefordert als ein ganz gegenwärtiges Vertrauen. Aber Vertrauen ist ein großes Wort. Es ist der Same, daraus Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Allereinfachste und grade darum das Schwerste. Es wagt jeden Augenblick zur Wahrheit Wahrlich zu sagen. Einfältig wandeln mit deinem Gott - die Worte stehen über dem Tor, dem Tor, das aus dem geheimnisvoll-wunderbaren Leuchten des göttlichen Heiligtums, darin kein Mensch leben bleiben kann, herausführt. Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben."

Es fällt die eigentümliche Übersetzung des Micha-Spruchs durch Rosenzweig auf: einfältig soll der Wandel des Menschen vor und mit Gott sein. Das Wort "einfältig" hat im Deutschen erst allmählich die Bedeutung von "töricht" erhalten. Ursprünglich meint es (im Sinne des lateinischen simplex) "einfach" im Gegensatz zu "vielfach". Und so begibt Rosenzweig sich von der Vielfältigkeit der Wahrheit im Zusammenhang der beiden Offenbarungsgemeinden nun wieder auf die Ebene des Einzelnen, der nicht jene Vielfalt, sondern - im Wissen um die Vielfalt - seinen ganz besonderen Teil an der Wahrheit in seinem Leben zu bewähren hat, als Jude wie als Christ. Denn Gott ist zwar die Wahrheit, aber die Offenbarung will nach Auskunft Rosenzweigs nicht vor allem Wahrheit, sondern Leben geben.

Der hebräische Ausdruck für das Rosenzweig'sche "einfältig", onxh, kommt in der Bibel nur dies eine Mal in Micha 6,8 vor und bedeutet so viel wie "demütig, zurückhaltend, bescheiden". In Bubers Verdeutschung der Schrift lautet der Vers daher: "Angesagt hat mans dir, Mensch, was gut ist, und was fordert ER von dir sonst als Gerechtigkeit üben und Holdschaft lieben und bescheiden gehen mit Deinem Gott!"

Von Bescheidenheit ist auch im Talmud die Rede, und zwar in einem berühmten Abschnitt, in dem sich vieles von dem, wofür Rosenzweig lebte und arbeitete, noch einmal bündelt. In Eruwin 13b heißt es:

"Drei Jahre lang diskutierten die vom Lehrhaus Schammais und die vom Lehrhaus Hillels.
Die einen sagten: Die Lebensregel geht nach unserer Meinung, und die anderen sagten: Die Lebensregel geht nach unserer Meinung.
Da ging eine Himmelsstimme hervor und sprach: Diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes, die Lebensregel aber geht nach Meinung derer vom Lehrhaus Hillels.
Nachdem diese und jene Worte des lebendigen Gottes sind - warum wurden allein die vom Lehrhaus Hillels gewürdigt, daß die Lebensregel nach ihrer Auslegung festgelegt wurde?
Weil sie sanftmütig und bescheiden waren: sie lernten ihre Worte und die Worte derer vom Lehrhaus Schammais. Aber nicht nur das, sondern sie stellten die Erwähnung derer vom Lehrhaus Schammais ihrer eigenen voran ...

Dies lehrt: Jeden, der sich selbst erniedrigt, den erhöht der Heilige, gesegnet Er; und jeden, der sich selbst erhöht, den erniedrigt der Heilige, gesegnet Er."

Inken Rühle: Gott spricht die Sprache der Menschen. Franz Rosenzweig als jüdischer Theologe. ISBN 3-933373-07-7, Tübingen 2004, geb. 578 S. 18 Euro. Direkt erhältlich beim Bilam-Verlag, Postfach 2101465, 72027 Tübingen; Fax 07071 61484; www.bilam-verlag.de

Auf die Anmerkungen und auf die hebräischen Wörter musste für die Online-Ausgabe verzichtet werden.

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