Martin Buber - Denker des Zwischenraums
von Eveline Goodman-Thau
"Menschtum und Menschheit werden in echten Begegnungen.
Da erfährt der Mensch sich vom Menschen nicht etwa bloß begrenzt,
auf die eigene Endlichkeit, Partialität, Ergänzungsbedürftigkeit
hingewiesen, sondern das eigene Verhältnis zur Wahrheit wird ihm
durch des andern individuationsmäßig Verschiedenes, verschieden
zu keimen und zu wachsen bestimmtes Verhältnis zur selben Wahrheit
erhöht."
Martin Buber; Urdistanz und Beziehung
"Alles wirkliche Leben ist Begegnung."
Martin Buber; Ich und Du
Martin Buber kam in Wien im Jahre 1878 zur Welt und starb
1965 in Jerusalem. Mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod sind seine Schriften
mehr denn je wie für heute geschrieben, im Spannungsfeld von Ost
und West, von Religion und Moderne, von Judentum und Abendland. Seit seiner
frühen Kindheit in Lemberg im Haus seines Großvaters Salomon
Buber - dem berühmten Bibel- und Talmudforscher und streng religiösen
Menschen, der der gemäßigten Richtung der Aufklärer in
Galizien angehörte - erzogen, war diese Spannung von Anfang an Teil
seiner Lebenserfahrung.
Während Buber sich als Kind beim Großvater
das jüdische Wissen aneignete, vermittelte ihm seine Großmutter
eine eingehende Kenntnis der allgemeinen Bildung, besonders der deutschen
Literatur. Als er mit vierzehn Jahren das großelterliche Haus verließ
und nach Wien übersiedelte, wo er später an der Universität
Philosophie studierte, wirkte seine Geburtsstadt als Ort der Begegnung
zwischen Tradition und Moderne, eine Begegnung, die er bereits in Galizien
im Innersten seiner Seele erfahren hatte. Dort wurde der junge Buber von
dem intensiven geistigen Leben und der mannigfaltigen Kultur, einer Mischung
von Gegensätzen aus der ethnischen Zusammensetzung der Völker
der Donaumonarchie und den verschiedenen Geistesströmungen, die sich
hier trafen, beeindruckt. Es waren jüdische Dichter und Denker, die
den unbetreuten Untergrund des Menschen angesichts des aufkommenden Wiener
Antisemitismus am tiefsten ahnten, und Buber wie andere zum Nachdenken
über den Menschen und über sich selbst anregten. Trotz des Gefühls
der äußeren Sicherheit fehlen in jenen Jahren nicht die Symptome
einer geistigen und seelischen Krise, die die Völker Europas auf
dem Gipfel ihrer Entwicklung befiel.
Bereits früh erkannte Buber die Gefahr der sich selbst
erlösenden Übermenschen Nietzsches und fordert eine Rückkehr
zu den eigenen, jüdischen Quellen als Ursprung zur Erneuerung, schreibt
vom werdenden Gott, an dessen Entwicklung wir mitschaffen können.
Unter Einfluss der allgemeinen und jüdischen Mystik,
insbesondere des Chassidismus, wird aus dem werdenden Gott, der durch
den Menschen verwirklichte Gott als Lebensaufgabe. Es geht Buber darum,
eine neue Gestaltung der Möglichkeit vor die Augen der Unendlichkeit
hinzustellen. Die Verbindung zwischen Religion und Moderne wird so zum
Leitmotiv Bubers, ein Zwischendenken, welches eine Brücke legt zwischen
Denken und Wirken.
Für Buber ist die Begegnung mit dem Chassidismus
prägend für seine geistige Entwicklung: 1) "Die chassidische
Lehre ist wesentlich ein Hinweis auf ein Leben in Begeisterung, in begeisterter
Freude. Aber diese Lehre ist nicht eine Theorie, die unabhängig davon
besteht, ob sie verwirklicht wird. Vielmehr ist sie nur die theoretische
Ergänzung eines Lebens, das wirklich von Zaddikim und Chassidim gelebt
worden ist (...)." 2)
Im Klima der geistigen und sozialen Unruhe um die Jahrhundertwende
wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa, insbesondere
in der österreichisch-ungarischen Monarchie, werden die Juden nicht
nur mit den geistig-politischen Kräften des Sozialismus und Nationalismus
konfrontiert, sondern auch mit der Existenz einer sogenannten Judenfrage
in einer radikal veränderten jüdischen Welt. Mitteleuropa bezeichnet
hier einen offenen Raum, der durch die deutsche Sprache zu einer Einheit
wird, in der junge jüdische Intellektuelle von Prag bis Wien und
von Berlin bis Budapest - nachdem die Mauern des Gettos gefallen sind
- sich in einem fruchtbaren Austausch von Ideen engagieren.
In der 1923 geschrieben Vorrede zu "Die Frühen
Reden (1909-1918)" (3), von der er 1951 betont, wie wichtig sie ihm
geblieben ist, (4) reflektiert Buber über seine sieben "Reden
über das Judentum", um einige aufgekommene Missverständnisse
aufzulösen. Die Reden handeln vom Judentum als einem Phänomen
der religiösen Wirklichkeit. Das bedeutet, dass es eine religiöse
Wirklichkeit gibt, die sich im Judentum und durch es kundgetan hat und
um derentwillen, aus deren Kraft und in deren Sinn das Judentum besteht."
(5) Es geht Buber, wie er im Weiteren bemerkt, nicht um das Judentum als
"Kultur" oder "Lehre", auch nicht um das "geschichtliche
oder seelische Wesen", sondern um die "religiöse Wirklichkeit",
die es unmöglich macht, das "Judentum als Abstraktion"
zu verstehen. Dies ist ein Schritt über das Verständnis des
Judentums als "religiöses Phänomen" hinaus, da dies,
wie Buber zeigt, sich nur in der "Innerlichkeit" abspielen oder
auf sie zurückwirken würde. "Ich meine aber etwas, was
sich zwischen Menschen und Gott, in der Wirklichkeit des Verhältnisses,
der gegenseitigen Wirklichkeit von Gott und Mensch begibt". (6)
Theophanie also nicht als ein Ereignis in der Vergangenheit,
sondern als Grundlage der Geschichte ist ein Weg, Vergangenheit und Gegenwart
zu verbinden, aber auch Zeit und Ewigkeit: die ewige, unveränderliche
Existenz Gottes erfährt ihre zeitliche Dimension in der Geschichte.
Es gibt, so Buber, eine Theophanie von "oben nach unten" wie
in der Schöpfung und Offenbarung, aber es gibt auch eine Theophanie
von unten nach oben, wenn die Schechina, als Einwohnung Gottes mit dem
Volk ins Exil geht und an der Welt leidet und "mitharrend" auf
die Erlösung hofft. Das Leid des Einzelnen verbindet sich hier mit
dem Schicksal des Volkes. "Das ist die Geschichte Israels, wie es
die Geschichte der menschlichen Person ist, aber es ist wohl die Geschichte
der Welt, das von ihr, was wir bisher zu lesen und zu schreiben bekommen
haben." (7)
Erst in der Verbindung zwischen Persönlichem und
Geschichtlichem, wie sie in der Geschichte des jüdischen Volkes weiterlebt,
spiegelt sich die Weltgeschichte als offenes Ende. Es geht nicht um ein
religiöses Erlebnis, sondern um das Leben selbst "im wirklichen
Umgang mit Gott und Welt" (8). Zum Schluss kommt Buber auf den Begriff
der "Verwirklichung" zu sprechen, und auch hier zeigt sich seine
indirekte Ablehnung der christlich geprägten Gottesidee. Es geht
nicht darum, so Buber, "Gott aus einer Wahrheit zu einer Wirklichkeit
zu machen", als ob Gott nur eine "Idee" wäre, die
dann erst durch den Menschen zu einer "Realität" werde.
Buber plädiert dafür, von einem engen Begriff des Subjekts Abschied
zu nehmen, um vorzustoßen zu einer Selbstverwirklichung, die "Gott
verwirklichen" heißt, und dies bedeutet, "Gott die Welt
zu einem Ort seiner Wirklichkeit bereiten" (9). Wir erkennen hier
den prophetisch-messianischen Kern des Buberschen Denkens, der darauf
ausgerichtet ist, die Geschichte zu öffnen, sie nicht als ein bereits
abgeschlossenes Kapitel zu betrachten, und das an einem jeden Menschen
als Wirklichkeit zu zeigen. "In diesem unsrem Dienst am Werden des
Reichs erscheint die Entgegenkunft des Menschen zu welthaftem Wirken erhöht."
(10)
Ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schreibt.
Buber: In der Selbstprüfung "erkennen wir, dass wir Juden allesamt
Abtrünnige sind. Nicht deshalb, weil uns Landschaft, Sprache, Kultur
anderen Volkstums Seele und Leben durchdrungen haben; es könnte uns
die eigene Landschaft, die eigne Sprache, die eigene Kultur geschenkt
werden, ohne dass wir jenes innerste Judentum wiedergewännen, dem
wir untreu geworden sind."(11) Es geht Buber um das Wiedererkennen
eines inneren Kerns des Judentums und um die Kernfrage zwischen Judentum
und Abendland, um die Frage der möglichen oder unmöglichen Verbindung
zwischen Aufklärung und Judentum im tiefsten Sinn.
Erst der Mensch, der die ihm möglichen Beziehungen
mit seinem ganzen Wesen in seinem Leben verwirklicht, hilft uns wahrhaftig,
den Menschen zu erkennen. Dem menschlichen Denken ist eine neue Aufgabe
gestellt: die Bejahung der Einsamkeit und die Bejahung der menschlichen
Gesellschaft. Beide, der Individualismus und der Kollektivismus sind notwendig,
um den Menschen aus dieser Lage zu retten und ihm eine lebensfähige
Weltanschauung zu bieten. Aus dem Zusammenhang beider kann eine neue Welt
erwachsen.
So dient die Beschäftigung mit dem Denken und Wirken
Martin Bubers nicht nur der Erinnerung an die Zerstörung und den
Verlust, sondern öffnet ein Tor für eine Wiederbelebung eines
kulturkritischen Paradigmas, basierend auf einem verantwortungsvollen
Umgang mit der Geschichte vom Menschen.
Die Beziehung zwischen menschlichen Personen muss von
jetzt an weder in der Innerlichkeit des Einzelnen noch in der Allgemeinheit
der Gesellschaft, sondern zwischen diesen beiden gefunden werden. Für
Buber ist dieser Zwischenraum keine philosophische Hilfskonstruktion,
sondern ein Ort des zwischenmenschlichen Geschehens auf allen Ebenen der
menschlichen Existenz. Dieser Zwischenraum verbindet den Menschen mit
seinen Mitmenschen und mit seiner Umwelt als Ort der Einwohnung Gottes.
Das hebräische Wort für ,Ort' ist: Makom, welches in rabbinischer
Sprache auch einer der Gottesnamen ist, wie es heißt "Er ist
der Ort der Welt, aber die Welt ist nicht sein Ort". Buber hat dieses
Zwischen in seinem Denken und Wirken gefunden und es als europäischen
Zwischenraum eröffnet.
1) Vgl. Eveline Goodman-Thau, "Zwischen Ost und West.
Chassidismus und Aufklärung als zwei Wege in der Suche nach Identität
am Beispiel Martin Bubers", in: Ingrid Lohmann/Wolfram Weiße
(Hg.), Dialog zwischen den Kulturen, Münster 1994.
2) Martin Buber, Einleitung zu "Die Erzählungen der Chassidim",
Zürich 1949. S. 16.
3) Martin Buber, "Reden über das Judentum", in: Der Jude
und sein Judentum, Gerlingen 1993, S.3-181; Die ersten drei Reden 1909-1991:
.,Drei Reden über das Judentum": die zweiten drei 1911-1924,
veröffentlicht 1925: "Vom Geist des Judentums" und die
siebte: "Der Heilige Weg" (Mai 1918), veröffentlicht 1919,
vgl. hier: Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, S. 3.
4) Ebd., S. 144.
5) Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, a.a.O., S. 3.
6) Ebd.. S. 4.
7) Ebd.. S. 6.
8) Ebd., S. 7.
9) Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, a.a.O.. S. 8.
10) Ebd.. S. 9.
11) Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, a.a.O., S. 89.
Illustrierte Neue Welt, Juni/Juli 2006
Die Autorin ist Professorin für Jüdische
Religions- und Geistesgeschichte und Rabbinerin. Geboren in Wien. Sie
lehrt an der Universität Wien und ist Direktorin der Hermann-Cohen-Akademie
für Religion, Wissenschaft und Kunst in Buchen/Odw.
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