Bertha Pappenheim half "gefallenen Mädchen"
von Marianne Brentzel

Die Armenpflegerinnen der Stadt Frankfurt machten um 1900 eine erschreckende Entdeckung: Es gab immer mehr unehelich geborene Kinder. Ihre Mütter - häufig geschlechtskrank - kamen aus Osteuropa, lebten in ärmlichen Behausungen oder kaserniert in Bordellen.

Aus ihren Lebensläufen wurde deutlich, dass sie nicht freiwillig als Prostituierte arbeiteten. Von wöchentlich am Hauptbahnhof eintreffenden "Ladungen" war die Rede. Wer schickte die jungen Frauen? Es musste kriminelle Händlerringe geben, die sie mit falschen Versprechungen in den Westen lockten und zur Prostitution zwangen. Man munkelte, dass die Opfer meist Jüdinnen waren und auch die Täter in der Mehrzahl aus jüdischer Tradition stammten.

Bertha Pappenheim, Tochter aus gutem Hause, war städtische Armenpflegerin. Als sie mit dem Problem der jungen Jüdinnen konfrontiert wurde, war sie außer sich vor Empörung: "Welch furchtbare Kämpfe gegen Scham, Schande und Erniedrigung von vielen Tausenden menschlicher Geschöpfe durchfochten werden mussten, ehe sie so ,gesunken' sind." Den Vorwurf der Unmoral gegen die Mädchen ließ sie nicht gelten: "Könnten die Frauen sich denn verkaufen, wenn es keine Käufer gäbe?" Und wer ihr vorwarf, mit ihren Ausführungen dem Antisemitismus Vorschub zu leisten, entgegnete sie: "Totschweigen kann eine Todsünde sein."

Bertha Pappenheim, 1859 in Wien geboren, stammte aus einer orthodox-jüdischen Familie. Mütterlicherseits gehörte sie zur Frankfurter Familie der Goldschmidts. Als junges Mädchen erlitt sie wegen der Krankheit ihres Vaters eine tiefe seelische Störung und wurde unter dem Pseudonym "Frl. Anna O." als erste Patientin der Studien über Hysterie von Josef Breuer und Sigmund Freud berühmt. Dank ihrer inneren Kraft und Klugheit und mit Hilfe einer "Redekur", die sie mit ihrem Arzt Josef Breuer entwickelte, befreite sie sich aus ihrer Krankheit und wurde eine bedeutende Kämpferin gegen soziales Unrecht.

Reisen in den Vorderen Orient

Auf mehrmonatigen Reisen nach Galizien, in den Vorderen Orient und nach Rumänien untersuchte sie die Ursachen und Folgen der Zwangsprostitution, regte Hilfsaktionen an - und traf auf Unverständnis und Kopfschütteln.

Um dem Frauenhandel organisiert entgegenzutreten, gründete Pappenheim 1902 in Frankfurt den Verein Weibliche Fürsorge. 1904 folgte der Jüdische Frauenbund, dessen prägende Vorsitzende sie wurde.

Der Jüdische Frauenbund richtete für jüdische, allein reisende Mädchen einen Bahnhofsdienst ein, wie er längst in allen großen Städten für evangelische und katholische Mädchen bestand. Pappenheim war die erste, die den Mut aufbrachte, öffentlich davon zu sprechen, dass es auch in jüdischen Kreisen uneheliche Kinder gab, für die niemand sorgte. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich in der großen Jüdischen Gemeinde Frankfurts gegen die Aktivistin, weil sie es wagte, von "den gefallenen jüdischen Mädchen und der jüdischen Dirne im Bordell" zu schreiben.

Man hätte sie am liebsten mundtot gemacht. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Im Kampf gegen den Mädchenhandel gründete sie in Neu-Isenburg bei Frankfurt ein Heim für jüdische Mädchen und Frauen, die dort ihre Kinder zur Welt bringen und mit ihnen leben konnten. Ein Vorbildprojekt für soziale Arbeit. Heute ist dort eine Gedenkstätte zu Ehren Pappenheims eingerichtet.

In Frankfurt rief sie auch den Israelitischen Mädchenclub und eine Stellenvermittlung für Mädchen und Frauen ins Leben, gründete die Tuberkulosevorsorge, war führend an der Neuorientierung der Sozialarbeit unter den Bedingungen des Industriezeitalters beteiligt.

Neben ihrer vielseitigen sozialen Arbeit übersetzte sie wichtige Texte aus dem Jiddischen ins Deutsche, unter anderem die "Memoiren der Glückel von Hameln". Dabei zeigte sie ihr hoch entwickeltes Gespür für die Schönheit und den Rhythmus der Sprache.

Garantin des Judentums

Wie keine vor ihr nahm die Aktivistin den uralten Grundsatz ernst, dass die Zugehörigkeit zum Judentum von der Mutter her begründet wird. Nur die jüdische Frau schien ihr die Garantin für die Bewahrung und Weiterentwicklung des Judentums.

Pappenheim starb am 28. Mai 1936 im Alter von 77 Jahren. Noch wenige Wochen vor ihrem Tod musste sie, bereits schwerkrank, ein Verhör der Gestapo über sich ergehen lassen. "Es ist nicht genug", lautete trotzige Lebensbilanz. Auf dem Frankfurter Friedhof an der Rat-Beil-Straße ist sie neben ihrer Mutter Recha begraben.

Die Identität von Anna O. und Bertha Pappenheim wurde erst 1953 - eher beiläufig - in der Fußnote einer Freud-Biografie enthüllt. Doch hat es die Sozialpionierin im Gegensatz zu dem immer neu analysierten "Frl. Anna O." bis heute schwer, angemessen gewürdigt zu werden.

Ihr Lebenswerk aber ist hoch aktuell. Stark wie nie zuvor betreiben Händlerringe das verbrecherische Geschäft des Frauenhandels. Eine Sisyphusarbeit nannte Pappenheim zeitlebens ihren Kampf dagegen. Damit hat sie Recht behalten.

  • · Bertha Pappenheim stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, was ihr ein Leben voller Annehmlichkeiten in Wien ermöglichte. Als sie mit 21 Jahren ihren todkranken Vater pflegte, erkrankte sie jedoch schwer. Neben Symptomen wie Sehstörungen und Halluzinationen nahm sie bei sich zwei Bewusstseinszustände ("zwei Ichs") sowie einen ruhigen Beobachter im Gehirn wahr.
  • · Ihr Arzt Josef Breuer behandelte sie mit Hypnose und einer "Redekur". Pappenheims Zustand verschlechterte sich jedoch. Sie unternahm mehrere Selbstmordversuche und wurde monatelang in einem Sanatorium behandelt. Was ihre Heilung bewirkte, ist umstritten.
  • · Das "Fräulein Anna 0." gilt als Schlüsselpatientin der Psychoanalyse, die Sigmund Freud maßgeblich zu seinen theoretischen Überlegungen inspirierte.
  • · Zum Weiterlesen: Marianne Brentzel: Sigmund Freuds Anna 0. Das Leben der Bertha Pappenheim, Reclam Verlag, 12,90 Euro.

Frankfurter Rundschau, 26.5.2006

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