Zum kollektiven Selbstmord entschlossen
von Henryk M. Broder
Während sich die Welt wieder einmal über die
israelischen Reaktionen empört zeigt, wird übersehen, dass nicht
einmal die Araber ihren palästinensischen Brüdern helfen wollen.
Nachdem eine libanesische Hisbollah-Einheit eine israelische
Armee-Patrouille auf israelischem Gebiet überfallen und zwei Soldaten
entführt hatte, titelte die "Süddeutsche Zeitung":
"Israel greift an zwei Fronten an". Die erste Front war Gaza,
woher seit dem israelischen Rückzug vor fast einem Jahr einige Hundert
Raketen nach Israel abgefeuert worden waren, zuletzt bis in das Zentrum
der Stadt Ashkelon. Nach allen Regeln der Logik, die sowohl bei privaten
Raufereien wie bei militärischen Auseinandersetzungen gelten, hätte
die "SZ" titeln müssen: "Israel schlägt an zwei
Fronten zurück", aber das wäre zu sachlich gewesen. "Israel
greift an zwei Fronten an" klang besser, weil der Aggressor beim
Namen genannt wurde.
Vor einigen Wochen, nachdem Shimon Peres erklärt
hatte, Israel werde nicht warten, bis Iran seine Drohung wahr macht und
seine Vision einer "Welt ohne Zionismus" in die Tat umsetzt,
titelte "FOCUS online": "Israel droht Iran mit Selbstverteidigung".
Auch diese Schlagzeile war kein Versehen. Denn die Rollen in dem Nahost-Drama
sind so festgelegt wie in einem Krimi: Der Täter hört immer
auf denselben Namen: Israel.
So wird auch die laufende Diskussion von einem Gedanken
dominiert: Israels Reaktion auf die Entführung seiner Soldaten, auf
den Beschuss mit Hamas-Kassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen und mit Hisbollah-Katjuschas
aus dem Südlibanon, sei "überzogen", "unverhältnismäßig",
treibe die "Eskalation der Gewalt" voran und verletzte die Regeln
des Völkerrechts.
Nur die Wahl zwischen falsch und verkehrt
Mag sein, dass eine solche Sicht der Dinge objektiv richtig
ist, dann aber muss man die Frage stellen und beantworten: Was wäre
die richtige, die angemessene Antwort gewesen, eine Antwort, welche die
Situation entschärfen würde, statt sie weiter anzuheizen? Eine
Beschwerde beim Sicherheitsrat der Uno? Eine Einladung an die Hamas und
die Hisbollah zu einem Runden Tisch irgendwo auf halber Strecke zwischen
Gaza und Metulla? Ein Appell an die kollektive Vernunft der freien Welt
verbunden mit der Bitte, mäßigend auf die Hamas und die Hisbollah
einzuwirken?
Schon möglich, dass Israel alles falsch macht, aber
so ist das eben im Leben, wenn man nur die Wahl zwischen falsch und verkehrt
hat. Würde Israel überhaupt nicht reagieren oder sich nur auf
verbale Proteste und die Drohung mit "Sanktionen" beschränken,
wie es der Westen gegenüber Iran tut, käme das einer Kapitulation
gleich.
Im politischen Wörterbuch der arabischen Fundamentalisten
kommen die Begriffe "Kompromiss" oder "Niederlage"
nicht vor. Es gibt nur den "Sieg" und den "Tod als Märtyrer".
Deswegen wurde der Abzug Israels aus dem Libanon vor sechs Jahren und
die Räumung von Gaza vor einem Jahr als "Sieg" gefeiert,
ohne dass sich an der Situation etwas änderte: Israel war und blieb
der Aggressor.
Hamas und Hisbollah sind nicht am Frieden interessiert
Jede Konzession, die Israel anbietet, jeder Schritt zu
einer Veränderung des Status quo, den Israel ankündigt, beweist
nicht, dass eine Verhandlungslösung im Konflikt möglich wäre,
sondern nur, dass der Aggressor müde und weich wird und deswegen
umso heftiger weiter in die Enge getrieben werden muss. Diesen Mechanismus
zu begreifen, fällt zumal Europäern schwer, die fest davon überzeugt
sind, dass man sich nur zusammen setzen und einen Dialog anfangen müsse,
um alle Differenzen gütlich beizulegen. Dieser Gedanke ist nicht
ganz abwegig, er setzt nur voraus, dass alle Seiten an einer Beilegung
des Konflikts interessiert sind und den Status quo ändern wollen,
wie es zwischen Ägypten und Israel und Jordanien und Israel der Fall
war.
Mögen die Beziehungen nicht gerade herzlich sein,
die Friedensverträge haben sich als erstaunlich stabil erwiesen,
weil alle Vertragspartner an einer dauerhaften Lösung interessiert
waren.
Genau das kann man der Hamas und der Hisbollah nicht unterstellen.
Beide Organisationen, dazu der Dschihad und Teile der
Fatah, wollen alles, nur keinen palästinensischen Staat. Was sie
wollen, ist eine Fortsetzung des bewaffneten Kampfes und dafür sind
die bereit, viel Blut zu vergießen, wobei sich die militanten Wortführer
in sicherer Distanz vom Kampfplatz aufhalten und lieber Minderjährige
in den Märtyrertod schicken.
Doppelzüngiger Arafat
Arafat war ein Heuchler und Betrüger, dazu ein Meister
des double talk. Während er auf der großen Weltbühne wie
ein Staatsmann ohne Staat auftrat ("We are not asking for the moon...")
und am Ende sogar die Oslo-Verträge unterzeichnete, redete er daheim
auf Arabisch ganz anders. Da ließ er keinen Zweifel daran, dass
ein palästinensischer Staat in den von Israel 1967 eroberten Gebieten
nur eine Zwischenlösung war, der erste Schritt zu einer Befreiung
von ganz Palästina.
Viele Arafat-Freunde und Exegeten, allen voran Uri Avnery,
erklärten diese Doppelzüngigkeit, die auch sie nicht überhören
konnten, als ein Manöver, mit dem der "Rais" die Palästinenser
langsam auf den richtigen Weg bringen wollte. Hätten sie erst einmal
einen eigenen Staat in der Westbank und Gaza, wären sie so mit dem
Aufbau des Gemeinwesens beschäftigt, dass sie keine weiteren Forderungen
mehr stellen würden.
Die Wirklichkeit belegt eher das Gegenteil. Der frei gewählte
palästinensische Ministerpräsident Ismail Hanija ist dagegen
ein grundehrlicher Mann. Er sagt, was er denkt und er tut, was er sagt.
Zuletzt hat er in einem Beitrag für die "Washington Post"
vom 11.7. ("Aggression Under False Pretenses") klar gesagt,
dass es nicht um eine Rückkehr zu den Grenzen von 1967 geht, "the
core dispute", der Kern der Sache, sei das "historische Palästina".
An einer anderen Stelle sagt Hanija, wenn Israel bereit wäre "the
core 1948 issues" zu lösen, statt der "secondary ones from
1967", dann wäre ein "fairer und dauerhafter Frieden möglich".
Hanijas Klarstellungen
Im Klartext: Der historische Sündenfall, der rückgängig
gemacht werden muss, ist nicht die Besetzung der 1967 eroberten Gebiete,
sondern die Gründung Israels im Jahre 1948. Nur die Aufhebung dieses
Unrechts ermöglicht einen fairen und dauerhaften Frieden. In einem
früherer Text, der auf einer pro-arabischen Website erschien, hatte
Hanija sogar eine totalitäre Vision: Der Frieden in Palästina
würde zu einem Frieden in der ganzen Welt führen.
Man muss Ismail Hanija für solche Klarstellungen
dankbar sein. Es geht ihm nicht darum, den Konflikt, der schon lange kein
israelisch-arabischer, sondern nur noch ein israelisch-palästinensischer
ist, zu beenden, sondern ihn ad infinitum zu führen. Man muss sich
auch von der Illusion verabschieden, es sei die Aussichtslosigkeit auf
ein normales Leben, die zur Verzweiflung führe und Gewalt erzeuge.
Das Gegenteil ist der Fall. Wann immer sich in der jüngsten
Vergangenheit eine Chance auftat, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen,
schickten die Hamas, die Hisbollah, der Dschihad oder die al-Aksa-Brigaden
ihre Selbstmordkommandos nach Israel. Man konnte die Uhr danach stellen:
Stand der Abschluss eines Teilabkommens zwischen Israel und der PLO oder
der Besuch eines internationalen Vermittlers auf der Agenda, mussten gleich
zerfetzte Leichen aus ausgebrannten Bussen geborgen werden. Sogar Joschka
Fischer war tief erschüttert, als bei einem seiner Besuche in Israel
und Palästina gegenüber seinem Hotel in Tel Aviv eine Bombe
hoch ging, die zwei Dutzend Israelis das Leben kostete.
Die jetzige, demokratisch gewählte Regierung der
Palästinenser nennt solche Terrorakte "legitime Selbstverteidigung".
Was immer Israel dagegen unternimmt, wird automatisch von der Welt verurteilt.
Gezielte Tötungen mutmaßlicher Drahtzieher des Terrors sind
ungesetzlich, weil sie sozusagen "auf Verdacht", ohne fairen
Prozess erfolgen; die Abriegelung palästinensischer Gebiete gilt
als völkerrechtswidrig, weil sie eine "Kollektivbestrafung"
bedeutet.
In dieser asymmetrischen Situation, in der die Terroristen
alles dürfen, Israel dagegen gemahnt wird, sich an das Völkerrecht
zu halten und nicht "zu überreagieren", kann es eine angemessene,
maßvolle und richtige Reaktion nicht geben. Auch dann, wenn Israel
auf einen Terroranschlag nicht reagiert, geht der Terror weiter.
Die Kassamraketen werden nicht von Abschussrampen, sondern
aus den Hinterhöfen inmitten bewohnter Gebiete abgefeuert. Kommen
bei einem israelischen Angriff Zivilisten ums Leben, heißt es: Die
Israelis greifen zivile Ziele an.
Solidarität als rhetorische Übung
Warum die Palästinenser eine politische Führung
gewählt haben, die zum kollektiven Selbstmord entschlossen ist, darüber
kann man nur spekulieren. Klar dagegen ist, dass die Araber ihre palästinensischen
Brüder inzwischen vor allem als Störenfriede betrachten. War
die Solidarität mit ihnen schon immer vor allem eine rhetorische
Übung, ist sie heute kaum mehr als eine Geste, zu der sich die Arabische
Liga im Krisenfalle herablässt. Auch in dieser Beziehung haben sich
die Palästinenser gewaltig verkalkuliert.
"Liebe palästinensisch-arabische Brüder,
der Krieg mit Israel ist vorbei, ihr habt verloren, ergebt euch und fangt
an, über eine sichere Zukunft für eure Kinder zu verhandeln."
Mit diesen Worten fängt ein Offener Brief an, den Youssef Ibrahim,
ein in Ägypten geborener und in den USA lebender Journalist, am 7.
Juli in der "New York Sun" veröffentlicht hat. Es ist eine
bitterböse Abrechnung mit einer Politik, die zwischen Fakten und
Fiktionen nicht unterscheiden kann oder will.
Zum Schluss seines Briefes an seine palästinensischen
Brüder schreibt Youssef Ibrahim: "Was für ein Kampf ist
das? Ist er es wert, dass er geführt wird? Was für eine elende
Zukunft bringt er euren Kindern, der vierten und fünften Generation
der Habenichtse unter den Arabern? Wir, eure Brüder, sind schon weiter.
Diejenigen von uns, die mit Öl Geld gemacht haben..., bauen Universitäten
und Schulen. Diejenigen, die Grenzen mit Israel haben..., werden für
euch nicht in den Krieg ziehen. Und denjenigen, die weit weg leben, ist
es egal, was mit euch passiert."
SpiegelOnline, 15.7.2006
zur Titelseite
zum Seitenanfang
|
|