34 Jahre Leitung des Evangelischen Arbeitskreises Kirche
und Israel in Hessen und Nassau
Ein Rückblick und der Versuch einer Bilanz
von Ulrich Schwemer
Teil I
Zuvor: Was mich anficht
"Im Frankfurter Stadtteil Rödelheim steht seit
einigen Jahren ein Gedenkstein an der Stelle, an der einstmals die Synagoge
der jüdischen Gemeinde von Rödelheim stand. Er erinnert an eine
Vergangenheit, die bei den Rödelheimer Bürgern kaum noch gegenwärtig,
aber im Bewusstsein jüdischer Menschen noch ganz lebendig ist. Viele
Gebetbücher wurden in Rödelheim gedruckt, und Bücher mit
dem Hinweis auf Rödelheim sind noch heute in Benutzung.
Doch diese kulturelle Bedeutung der Rödelheimer Juden
wird denen kaum bewusst sein, die nun schon seit Monaten immer wieder
den Gedenkstein beschmieren und nun sogar versuchten, ihn zu zerstören."
1
Hiermit habe ich im Jahre 1981 einen Artikel für
die Kirchenzeitung "Weg und Wahrheit" unter der Überschrift
"Solidarität mit den Juden - ein christlicher Auftrag"
begonnen.
Mich macht betroffen, dass ich diesen Text, vielleicht
jeweils mit einem anderen Ort, einer anderen Gedenkstätte oder auch
einem anderen Friedhof auch hätte zwanzig oder dreißig Jahre
früher schreiben können (wenn ich da nicht zu klein dazu gewesen
wäre), genauso wie ich ihn hätte 25 Jahre später schreiben
können.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, danach zu fragen,
was sich an Fragen und Themen im Zeitraum der 34 Jahre, die ich den "Evangelischen
Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau" leitete, verändert
hat.
Die Tatsache des latenten oder auch öffentlich ausgedrückten
Antisemitismus aber hat sich nicht geändert. Nur kann man sich heute
nicht mehr damit trösten, das seien die Ewiggestrigen, nein, auch
junge Menschen lassen sich von dem Gift des Antisemitismus vergiften.
"Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch" - auch
noch fünfzig Jahre nachdem Bertolt Brecht diesen Satz aufschrieb.
2
Persönliche Weichenstellungen
Erste Begegnung
Als ich als junger erstsemestriger Theologiestudent 1964
nach Israel kam, wurde ich recht bald zu einer religiösen jungen
Familie zum Erev-Schabat-Essen eingeladen. Damals war keine einzige Einladung
selbstverständlich . Der Familienvater war schon 1933 aus Hamburg
nach Palästina ausgewandert. Die Mutter hatte das "3. Reich"
in Breslau, teilweise versteckt, überlebt und verdankte diesen Umstand
wohl der Tatsache, dass ihre zum Judentum übergetretene Mutter nach
den Rassegesetzen arisch war.3 Ich arbeitete in der gleichen Siedlung,
in der diese Familie am Rande von Naharija wohnte, in einer nicht religiösen
Familie mit einem schwer erziehbaren Jungen.
Ich besuchte also diese Familie an einem Freitagabend,
der Vater kam aus der Synagoge zurück, segnete seine beiden noch
kleinen Söhne (die ihn dabei immer neckend in den Bauch boxten) und
wir versammelten uns am Abendessentisch, der feierlich gedeckt war. An
herausgehobener Stelle war der Platz besonders schön gedeckt, es
stand dort ein Kidduschbecher, und verdeckt unter einem Schabattuch lagen
zwei geflochtene Weißbrote, Chalot.
Wir standen um den Tisch, der Familienvater nahm den Weinbecher,
sprach einen Segen über dem Wein und jeder trank aus seinem eigenen
Becher. Bei späteren Gelegenheiten, wenn mehr Leute als vorhandene
Becher anwesend waren, trank die Familie aus einem Becher und alle anderen
hatten ihren eigenen.
Anschließend wurde das Brot aufgedeckt und der Familienvater
brach so viele Stücke vom Brot ab, wie Personen am Essen teilnahmen,
salzte es, segnete es und gab es in die Tischrunde, jeder nahm sich ein
Stück. Das ganze war keine sehr lange Zeremonie.
Und ich nahm daran teil, erkannte die Elemente wieder,
die auch wir beim Abendmahl verwenden und war irritiert, verwirrt, elektrisiert,
auch verunsichert. Wo kam diese Ähnlichkeit her? Warum wird zuerst
Wein und dann Brot genommen? Was sind das für Segenssprüche?
Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun? Fragen, auf die ich damals keine
Antwort fand, die mich aber auch nicht mehr losgelassen haben.
Von diesem Augenblick an wusste ich, da gibt es mehr Querverbindungen
zwischen Judentum und Christentum, als ich es in meiner Gemeindefrömmigkeit
für möglich gehalten habe und als mir in dem folgenden Theologiestudium
vermittelt worden ist. Erst im Pfarramt konnte ich anlässlich einer
Fortbildung in Israel diesen Fragen konsequent nachgehen, und eine für
mich akzeptable Antwort finden. Natürlich reichte diese Antwort dann
viel tiefer in den gesamten liturgischen Bereich hinein.
Entscheidend war der Weg vom verwirrten Wahrnehmen und
der Sorge, hier könnte ein christlicher Brauch grundsätzlich
in Frage gestellt werden, hin zu der Erkenntnis, dass ich erst mein eigenes
Christentum recht erkennen kann, wenn ich seine Einbindung in das Judentum
erkenne.
Erste Schritte
Mit der Übernahme der Leitung des Arbeitskreises
im Herbst 1972 wurde das, was während des Studiums irgendwo im Verborgenen
geblieben war und während des weiteren, einjährigen Aufenthaltes
in Israel 1971/72 von anderen, eher politischen Fragen verdrängt
wurde, nun wieder lebendig. Allerdings setzte ich nicht gleich bei diesen
Fragen an, vielmehr galt es zunächst einmal Abschied zu nehmen von
Positionen, die während des Theologiestudiums noch von Professoren
wie Herbert Braun und Ernst Fuchs vertreten wurden. Da lernte man noch
als eine Art Lesehilfe für das NT, dass man bei der Suche nach dem
ursprünglichen Jesus ihm dann am nächsten komme, wenn man danach
frage, was von seinem Reden und Handeln am wenigsten mit dem Judentum
vereinbar ist. Jesus ist dann der, der alles neu und anders macht und
eigentlich schon nicht mehr im Judentum wurzelt.
Im christlich-jüdischen Gespräch lernte ich
nun, dass genau andersherum eine Antwort zu finden ist. Jesus war kein
Revolutionär, der etwas völlig Neues neben das Judentum stellen
wollte. Vielmehr wurzelte seine Verkündigung im Judentum. Und so
wurde nicht mehr nach dem Unjüdischen bei Jesus gesucht, sondern
nach dem Juden Jesus, den Martin Buber (und in seiner Folge Schalom Ben
Chorin) Bruder Jesus nennen konnte.
Diese Suche war sehr erhellend und erleichterte an vielen
Stellen das Verständnis des Neuen Testamentes, ob es um die Darbringung
im Tempel ging oder den zwölfjährigen Jesus im Tempel, ob es
um die Antithesen der Bergpredigt ging oder um das Ährenraufen am
Schabat. Plötzlich war das Leben Jesu eingebettet in seine jüdische
Umwelt und aus ihr weitaus leichter zu deuten, als wenn man Jesus um jeden
Preis in Gegensatz zu seinem Judentum bringen wollte.
An dieser Stelle entstand dann aber die Frage, was Jesus
dann überhaupt noch für den Glauben bedeutete. Joseph Klausner
(1874-1958) hat in seinem wegweisenden Werk "Jesus von Nazareth -
Seine Zeit, sein leben und seine Lehre" (1930) das Kapitel "Die
Kreuzigung" mit dem eindrücklichen Satz beendet: "Hier
schließt die Lebensgeschichte Jesu, und es beginnt die Geschichte
des Christentums"4.
Wie haben wir uns zu diesem Juden Jesus zu stellen, der
vielleicht sein Judentum reformieren wollte, der sich vielleicht für
den Messias gehalten hat und aus dessen Wirken eine Kirche hervorgegangen
ist, die nie ihre Verantwortung für sein jüdisches Volk übernommen
hat? Die Versuchung war groß und mancher wird ihr erlegen sein,
Abschied zu nehmen von einem kirchlich und theologisch überladenen
Jesus Christus und sich damit zu begnügen, in der Nachfolge dieses
Juden Jesus zu stehen, der immerhin die Heiden mit in den Bund Gottes
mit Israel gerufen hat, oder wenn nicht er es war, dann der Jude Paulus.
Die Rolle Jesu hierauf zu beschränken, würde
auch die im christlich-jüdischen Dialog nicht so einfache Frage nach
der Christologie und nach der Trinitätslehre entschärfen. Denn
von jüdischer Seite werden Christen immer wieder gefragt, ob sie
nicht den Monotheismus mit den drei Personen Vater, Sohn und Heiliger
Geist in Frage stellen und auflösen. Und obwohl ich selber ein ganze
Weile diese Lösung bevorzugte, muss ich doch sagen, dass wir es uns
so einfach nicht machen können. Denn wenn wir Jesus auf die Rolle
eines Reformers innerhalb des Judentums beschränken und ihn vielleicht
auch noch als einen Messias sehen, der aber angesichts der Wirklichkeit,
die dagegen spricht, vom Judentum nicht anerkannt wird, bliebe die Frage,
welche Kirche er eigentlich gegründet hat und ob man dann nicht besser
im Judentum beheimatet wäre.
Doch eine Antwort wurde an dieser Stelle nicht so schnell
gegeben. Zunächst einmal galt es, die Erkenntnis zu sichern, wie
sehr der christliche Glaube, wie sehr Jesus, wie sehr auch Paulus im Judentum
beheimatet sind. In dieser Zeit erschienen Bücher wie Rosemary Ruether,
Nächstenliebe und Brudermord - die theologischen Wurzeln des Antisemitismus
oder Krister Stendahl, Der Jude Paulus und wir Heiden - Anfragen an das
abendländische Christentum5. Ruether fragte nach der antijüdischen
Tradition durch die Kirchengeschichte und bezeichnet hierbei die Christologie
als Schlüsselfrage. Damit entfachte sie einen ziemlichen Sturm. Stendahl
zeigte, dass es nicht reicht, das Judesein Jesu zu erkennen, sondern dass
auch das Judesein des Paulus mit in die Paulusdeutung einzubeziehen sei.
Die Systematische Theologie musste erst noch diesen neuen
Denkansätzen folgen, tat dies aber erst in den Jahren danach.
Im Zusammenhang der Erkenntnis des Judeseins Jesu wurde
dann natürlich auch die Frage nach dem Judentum überhaupt bedeutsam.
Tatsächlich wissen Christen herzlich schlecht über das Judentum
Bescheid. Die Gründe hierfür liegen nicht nur im Holocaust,
der es heute schwer macht, überhaupt Juden kennen zu lernen. Auch
schon vor dem Holocaust haben die Christen nur wenig Ahnung vom Judentum
und seinen Bräuchen gehabt, da es eine echte Begegnung so gut wie
nicht gab. Der Dialog fing an, als er gleich schon wieder gewaltsam unterbunden
werden sollte: Dass es wenige Tage bevor das "3. Reich" über
Deutschland und Europa kam, am 14. Januar 1933 im Jüdischen Lehrhaus
in Stuttgart zu einem Dialog zwischen Martin Buber und Karl-Ludwig Schmidt
kam, war eine Ausnahme.
Der Pietismus hatte zwar Interesse am AT und dem Judentum,
sah die Juden aber vor allem doch als Missionsobjekte.
Deshalb war es zunächst notwendig, Informationen
über das Judentum anzubieten. Und erfreulicher Weise waren viele
Jüdinnen und Juden bereit, sich hierfür zur Verfügung zu
stellen. Thematisch gehörten hierzu nicht nur Informationen zu jüdischer
Liturgie, zu Talmud und Midrasch, zu synagogaler Musik, sondern auch Informationen
über Jesus, den Juden.
Diese Informationen konnten ganz unterschiedlich gehört
werden. Die Einen wurden zu richtigen Sachkennern des Judentums, betrachteten
dieses aber isoliert, ohne dass es eine Anfrage an ihre christliche Identität
stellte. Andere wiederum versuchten die Erkenntnisse über das Judentum
auch mit ihrer eigenen christlichen Existenz zu verbinden. Dann war danach
zu fragen, ob die Informationen, die man über das Judentum bekam,
auch einen Einfluss auf das eigene Selbstverständnis oder die eigene
Verkündigung hätten.
Da ich die Leitungsarbeit des Ev. Arbeitskreises Kirche
und Israel immer parallel zur Gemeindearbeit betrieben habe, war es unvermeidlich,
die eigene Verkündigung an dem Gelernten zu messen. Nun waren die
Klischees eben nicht mehr möglich, die das Christentum über
Jahrhunderte geprägt hatten, nun erkannte man den Gott der Gnade
auch im AT und im Judentum und den rächenden und strafenden Gott
auch im NT, nun wurde einem bewusst, dass das Gebot der Nächstenliebe
keine Neuentdeckung Jesu und damit eine spezifisch christliche Botschaft
ist, sondern dass Jesus hier auf das AT (Lev 19,18) zurückgreift.
"Was Christum treibet"? - Exegese im christlich-jüdischen
Dialog
Die Auslegung des Alten Testaments stand in der Ev. Kirche
lange unter dem Lutherwort, man müsse es lesen unter dem Gesichtspunkt,
"was Christum treibet". Im September 2005 führte der Arbeitskreis
gemeinsam mit der Ev. Akademie Arnoldshain einen Studientag unter dem
Thema "'Was Christum treibet' (Luther) - ein Deutungsmuster für
alttestamentliche Texte?" durch. Aus dem christlich-jüdischen
Dialog kommend kann man alttestamentliche Texte nicht ungebrochen christologisch
deuten. Schon im Jahr 1974 hatten wir gemeinsam mit der Ev. Akademie Arnoldshain
eine Tagung zu Jes 52/53 durchgeführt. Den Teilnehmer/innen wurden
Predigttexte unter anderem von Bischof Hermann Dietzfelbinger vorgelegt,
in denen über Jes 52/53 ohne jeden Bezug auf Israel gepredigt werden
konnte. Am Karfreitag, an dem dieses einer der Predigttexte ist, wurde
der Leidende Gottesknecht ohne jede Scheu auf Jesus, und nur auf Jesus
hin gedeutet.
Diese Auslegung ist in christlich-jüdischer Perspektive
nicht möglich, selbst wenn der Text gerade wegen der christlichen
Vereinnahmung in den jüdischen liturgischen Lesungen nicht vorkommt.
Dass er ein Deutungsmuster für das Leben und Sterben Jesu sein kann
und deshalb auch von der Kirche verwendet wird, steht außer Zweifel
und kann auch verkündigt werden. Aber es ist ein Unterschied, ob
ein alttestamentlicher Text ein Deutungsmuster ist oder ob bei den Hörerinnen
und Hörern der Eindruck entsteht, der Prophet Deuterojesaja habe
hier bereits Jesus Christus mit seiner Prophezeiung gemeint.
Genau an dieser Stelle entscheidet sich aber der rechte
Umgang mit alttestamentlichen Texten: Sie müssen in ihrer ursprünglichen
Aussage ernst genommen werden. Dann können sie auch zur Deutung des
Jesusgeschehens herangezogen werden. Nichts anderes haben die Jünger
gemacht, als sie nach Kreuzigung und Tod Jesu in ihrer Bibel, dem Alten
Testament, die Deutungsmuster fanden, die ihnen den Glauben an die Auferstehung
ermöglichten.6
Und nichts anderes macht auch Matthäus, dessen Geburtsgeschichte
Jesu ohne die alttestamentlichen Zitate überhaupt nicht zu verstehen
ist. Umso schlimmer ist es allerdings, dass in der Verkündigung gerade
an Weihnachten genau dieser Zusammenhang zwischen alttestamentlichen Zitaten
und der Geburtsgeschichte oft nicht beachtet wird. So wird dann der Kindermord
von Bethlehem unversehens zu einem historischen Ereignis (mit den antijüdischen
Konnotationen), anstatt dass hier deutlich wird, dass Matthäus die
Geschichte Jesu genau einpasst in die Heilsgeschichte Gottes mit seinem
Volk Israel. Hier steht der Kindermord in Bethlehem nämlich in Parallele
zum Mord an den Söhnen Israels durch die Ägypter.
Als Deutungsmuster wird diese Verwendung des Alten Testamentes
biblisch in der Geschichte von den Emmausjüngern gut vorgeformt.
Der nicht erkannte Auferstandene deutet den beiden Jüngern die Ereignisse
aus der Schrift. Und sogar die Passionsgeschichten finden ihre Deutung
über weite Teile in der Bibel Jesu, dem Alten Testament (Lk 24, 13-35).
Theologie nach dem Holocaust
Zwei Erlebnisse vorweg:
1. Schon 1964 begegnete ich bei meinem ersten Israelbesuch
der Frage, wie ich mich der deutschen Geschichte zu stellen habe. Damals
galt es aber weniger, Ereignisse der Vergangenheit bewusst zu halten,
vielmehr begegnete ich damals Menschen, die den Holocaust, den man damals
noch nicht so nannte, überlebt hatten. Es waren sozusagen hautnahe
Begegnungen, die auch ganz anders als in späteren Jahren verliefen,
zumeist Zufallsbegegnungen beim Trampen oder Reisen. Und diese Begegnungen
reichten von schroffer Ablehnung über distanziertes Sprechen und
spätes Hinweisen auf die eintätowierte Nummer am Arm bis hin
zu ganz freundlicher Aufnahme, z.T. zu Kontakten, die noch bis heute bestehen.
Einen Bezug zu Glauben und Theologie stellte ich aber nicht her.
2. In den siebziger Jahren war die Debatte um das rechte
Gedenken nach Auschwitz und die Konsequenzen für die Theologie in
vollem Gang. Der Begriff "Holocaust" wurde von Amerika aus eingeführt,
blieb aber weitgehend ein Insiderbegriff. Dann wurde der 4teilige Film
"Holocaust" angekündigt. In Insiderkreisen wurde ausgeschlossen,
dass ein Spielfilm das Grauen des Holocaust angemessen wiedergeben könne.
Die ersten beiden Folgen sah ich im Rahmen der zweiten Delegiertenversammlung
der Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden - KLAK.
Wir erfuhren eine merkwürdige Verwandlung. Waren wir alle im Vorhinein
eigentlich der Meinung, dass das ganze nur ein Hollywood-Schinken sein
könne, wurden wir dann von der Darstellung der Ereignisse am Beispiel
einer Familie in Bann gezogen. Die verbleibenden Teile sah ich zu Hause.
Ich war sehr ergriffen, erschüttert. Am folgenden Sonntag war als
Predigtext vorgeschrieben: die Sturmstillung. Nach der aufwühlenden
Woche sah ich mich außer Stande, diese Botschaft "Ihr Kleingläubigen,
warum seid ihr so furchtsam?" (Mt 8, 26) weiterzugeben. Ich predigte
den Text dennoch, aber ich predigte gegen ihn: Ich beendete die Predigt
mit dem Text von Zwi Kolitz , "Jossel Rackower redet mit Gott"
(Originaltitel in jiddisch: Josl Rakovers Vndung tsu Got"), in dem
die Geschichte eines Rabbiners erzählt wird, der während der
Inquisition aus Spanien mit seiner Familie flieht und in einem Gewittersturm
durch einen Blitzschlag seine Frau verliert und dessen Kind vom Sturm
über Bord gespült wird. Er selbst wird auf eine steinige Insel
verschlagen. Zu Gott spricht er: "Magst Du mich auch beleidigen,
magst Du mich auch schlagen, magst Du mir auch wegnehmen das Teuerste
und Beste, das ich hab' auf der Welt, magst Du mich zu Tode peinigen -
ich werde immer an Dich glauben. Ich werde Dich immer lieb haben, immer,
Dich, Dich allein, Dir zum Trotz!"7
Für meinen Umgang mit dem Gedenken und dem Erinnern
an die Nazizeit und den Konsequenzen für den Glauben waren dieser
Film, dieser Text und meine Predigt ein Schlüsselerlebnis.
Vor vielen Jahren hat Johann Baptist Metz formuliert:
"Mein handliches, scheinbar einfaches, aber eigentlich viel zu anspruchsvolles
Kriterium - wie ich inzwischen längst weiß - ist, dass ich
den jungen Leuten immer wieder sage: Fragt euch, wenn euch da eine
neue Theologie begegnet, fragt euch: Ist das eine Theologie, die man vor
und nach Auschwitz gleich treiben könnte?' Und wenn ja, dann lasst
sie, mit welchem Namen sie auch immer verbunden sein mag, dann lasst sie
liegen!"8, Wenn also gefordert wird, dass die Theologie nach Auschwitz
eine andere sein muss als vor Auschwitz, dann sagt dies vor allem: die
Theologie vor Auschwitz kann sich nicht freisprechen von einer Mitschuld
am Holocaust. Angesichts von Zwangsdisputationen, Ritualmordvorwürfen
und Vorwürfen von Hostienschändung ist der Zusammenhang ziemlich
deutlich. Wenn man dann noch den Antisemitismus des Hofpredigers Adolf
Stoecker (1835-1909), sind es eben nicht nur mittelalterliche Vorkommnisse
(die übrigens auch bis in die Neuzeit reichten), sondern es ist auch
eine Theologie nach der Aufklärung, die sich hinterfragen lassen
muss.
Angesichts dieses Befundes ist der Tatbestand mehr als
befremdlich, dass gegen diese Forderung immer wieder der Einwand erhoben
wird, hier werde Auschwitz zu einem Offenbarungsereignis hochstilisiert.
Hier wird verkannt, dass es bei einer Theologie nach Auschwitz nicht um
die Korrektur von Offenbarungsereignissen geht, sondern um die Korrektur
von zeitbedingten Fehlentwicklungen der Theologie und des christlichen
Glaubens.
Gerade eine Kirche wie die Ev. Kirche in Hessen und Nassau
(EKHN) hat als Nachfolgekirche der deutsch-christlichen (DC) Ev. Landeskirche
Nassau-Hessen (EKNH) allen Grund, ihre theologischen Positionen nach dem
Holocaust zu hinterfragen.
Und wenn sich christlicher Glaube als ein Glaube in dieser
Welt und dieser Geschichte manifestiert, dann wird er sich immer auch
an der Geschichte und der Verantwortung der Christen in ihr messen lassen
müssen.
Bereits 1978 hat der Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel
in einem Gottesdienstheft zum 10. Sonntag nach Trinitatis einen Text "Christliche
Theologie nach dem Holocaust" von Ulrike Berger9 abgedruckt. Sie
sieht als dringlichste Aufgabe, sich theologisch der Tatsache zu stellen,
dass im Holocaust die Theodizeefrage gestellt wird. Sie zitiert Richard
L. Rubinstein, der in seinem Buch "After Auschwitz" nur noch
das Schweigen aller menschlichen Möglichkeiten angesichts des Todes
Gottes sieht, wohingegen Robert R. Geis in dem Buch "Gottes Minorität"
die Forderung nach einem gemeinsamen Kampf von Christen und Juden um das
Königtum Gottes auf Erden erhebt.
Auch Elie Wiesel spricht vom Tod Gottes in dem Buch "Die
Nacht", in dem er von dem kleinen Jungen erzählt, der gehenkt
wird, aber zu leicht ist, um von dem Strick erdrosselt zu werden. In der
Reihe der KZ-Insassen, die an dem Galgen vorbeiziehen müssen, fragt
einer: Wo ist Gott? und erhält die Antwort: "Wo er ist? Dort
- dort hängt er am Galgen".10
Dass diese Geschichte nicht spurlos am christlichen Glauben
vorüber gehen kann, wurde nicht nur in der exegetischen Arbeit erkannt,
sondern, wenn auch leider noch nicht verbreitet anerkannt, in der systematischen
Theologie. So ist der Ansatz von Friedrich-Wilhelm Marquardt in seiner
noch kurz vor seinem Tod fertiggestellten Systematik von der Frage durchdrungen,
wie überhaupt Theologie nach Auschwitz möglich sei. Es überrascht
dann allerdings, dass er ausgerechnet in seiner Christologie diesen Bezug
nicht herstellt. Er tut dies, so Barbara U. Meyer in ihrem Buch "Im
Schatten der Shoah - Im Lichte Israels"11, sehr bewusst, um auch
nur im Entferntesten den Eindruck zu vermeiden, er könne womöglich
nachträglich Auschwitz theologisch einen Sinn verleihen (wie z.B.
Moltmann, der der Versuchung erlegen ist, die oben erwähnte Geschichte
des Knaben am Galgen auf das Leiden Christi zu deuten).
Eine andere Entscheidung fällte Johann Baptist Metz,
der die Christologie in ihrer durch die hellenistische Philosophie geprägten
Soteriologie zwar als "sündenempfindlich" bezeichnet, sie
also zu schnell nach der Vergebung für die Täter fragen lässt.
Er vermisst aber die Leidempfindlichkeit der Christologie, die sich mit
der Theodizeefrage verknüpft. "Das aber lähmte die elementare
Empfindlichkeit für das fremde Leid und verdüsterte die biblische
Vision von der großen Gottesgerechtigkeit."12
Es mag sein, dass die Frage in der nächsten Generation
schon wieder etwas anders gestellt werden wird, dass vor allem theologische
Schlussfolgerungen aus dem Erschrecken über den Holocaust noch einmal
überdacht werden. Aber alle zukünftigen Generationen werden
sich grundsätzlich der Frage stellen müssen, welche Rolle das
Christentum gespielt hat und welche Konsequenzen daraus für den christlichen
Glauben zu ziehen sind. Denn es geht hierbei auch um die Zukunft: nämlich
das Christentum dafür zu wappnen, in ähnlichen Situationen verantwortlich
zu handeln und nicht wieder zu versagen.
Mit einer arroganten Glaubensgewissheit allerdings wird
das Christentum offenen Auges auch in die nächste Katastrophe rennen.
"Wir dürfen ihnen doch das Beste nicht vorenthalten."
Mission oder Dialog
Eine andere Debatte vergiftete lange Zeit das Klima zwischen
denen, die eigentlich die gemeinsame Sorge um ein rechtes Verhältnis
zum Judentum verband. Es ging um die Frage der Mission. Tatsächlich
waren die ersten Gruppen, die sich um eine Erneuerung im Verhältnis
zum Judentum kümmerten, aus Missionsgesellschaften hervorgegangen.
Auch der Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel war in seinen Anfangsjahren
judenmissionarisch ausgerichtet, ohne aktiv Judenmission zu betreiben.
Je mehr aber die Debatte sich verallgemeinerte und vor allem jüdische
Gesprächspartner/innen hinzukamen, wurde die Forderung lauter, auf
eine Mission an Juden zu verzichten.
Dies bedurfte allerdings einer neuen theologischen Ausrichtung.
Gab es eine Möglichkeit, theologisch begründet auf Judenmission
zu verzichten? Der Arbeitskreis vertritt in diesem Sinne, ausgehend von
der bleibenden Erwählung der Juden und dem weiterhin bestehenden
Bund Gottes mit Israel, die Überzeugung, dass es keine theologische
Begründung einer Mission an Juden gibt.
Wer theologisch nicht so weit gehen will oder kann, sollte
aber wenigstens aufgrund der deutschen Unheilsgeschichte gegenüber
den Juden auf jede Art von Mission an Juden verzichten. Wie verlogen müssen
die Heilsversprechungen, die Christen Juden machen, angesichts des gigantischen
Versagens der Christenheit in der Zeit des Holocaust klingen.
Der Konflikt zwischen "Mission" und "Dialog"
entbehrte nicht einer gewissen Blindheit. Gerade die kirchlichen Gruppierungen,
die den Namen Mission noch trugen, suchten und fanden in einem schwierigen
Diskussionsprozess Formulierungen, die an die Stelle von Mission das eigene
"Zeugnis" stellten oder später den Begriff "Begegnung".
Sie ihrerseits fragten die Vertreter des "Dialogs",
wie sie es mit der eigenen Identität des christlichen Glaubens hielten.
Der Verdacht wurde geäußert, dass man um der Nähe zum
Judentum willen auf essenzielle Glaubenssätze des Christentums verzichten
würde. Hier benannten die Kritiker sicher ein schwerwiegendes Problem
des Dialogs. Zumindest gab es die Versuchung z.B. im Bereich der Christologie,
auf christliche Lehrsätze zu verzichten, da es ja doch vor allem
um Jesus den Juden gehe. Man meinte, damit die Einheit Gottes eindeutiger
ausdrücken zu können. Allerdings musste mit Recht gefragt werden,
welchen Grund es dann für die Existenz der Kirche gäbe, wenn
Jesus zwar ein frommer Jude gewesen war, aber sein Wirken keine Offenbarungsqualität
hatte.
Dass diese beiden Richtungen zueinander gefunden haben
(zumindest in weiten Bereichen), ist gut, denn sie haben ein gemeinsames
Gegenüber: all die Christen nämlich, die glauben, mit dem Christentum
sei das Volk Israel abgetan und überholt. Diese Überzeugung
gibt es trotz aller Erklärungen und Grundartikelerweiterungen nach
wie vor in unseren Kirchen.
Heute taucht das Problem der Judenmission aber wieder
aus einer ganz anderen Perspektive auf. Nach der Einwanderung vieler Jüdinnen
und Juden aus Russland, von denen viele desorientiert sind, entdecken
zunehmend evangelikale Gruppierungen hier ein neues Betätigungsfeld.
Jüdische Gemeinden schlagen bereits Alarm und bitten die Kirchen
um Hilfe. Es ist an der Kirche, dieser Proselytenmacherei in einer Phase
der Desorientierung einen Riegel vorzuschieben.
In den Gruppen, die über viele Jahre hin miteinander
im Dialog standen, das gilt vor allem für die "AG Juden und
Christen beim DEKT", kam irgendwann einmal die Frage auf, was der
Inhalt des Dialogs eigentlich sein müsse, nachdem man zunächst
die Phase des Kennenlernens des Judentums hinter sich gelassen und erkannt
hatte, dass bestimmte Glaubenssätze auch in Zukunft unvereinbar bleiben
würden, wie z.B. die Messianität Jesu.
Hier wurde vor allem von christlicher Seite der Wunsch
laut, aufgrund der gemeinsamen Bibel Alten Testaments nach dem zu fragen,
was Juden und Christen an ethischer Verantwortung in der Welt gemeinsam
wahrnehmen können. Dazu gehörten Fragen nach der Verantwortung
für die Schöpfung, Friedensfragen, aber auch Fragen nach dem
Umgang mit Tod und Sterben bis hin zu den Fragen nach Sterbehilfe und
Organtransplantation.
Das wurde allerdings nicht von allen Gesprächspartnern
so gesehen. Die vor einigen Jahren verstorbene jüdische Gesprächspartnerin
Dr. Pnina Nave-Levinson beispielsweise sagte während einer Tagung
der "AG Juden und Christen beim DEKT": Ich führe den Dialog,
um eine Wiederholung des Holocaust zu verhindern. Und ganz gewiss hatte
sie Recht, dass dies eine vorrangige Aufgabe des Dialogs ist. Wenn allerdings
der Dialog sich darauf beschränkt, können Christen in diesem
Dialog immer nur die Hörenden sein, ohne selber gestaltend mitzuwirken.
Israel - Land der Verheißung
Wenn ich behaupten würde, ich wäre nach meinem
ersten Israelaufenthalt 1964/65 in irgendeiner Weise israelkritisch gewesen,
würde ich nicht die Wahrheit sagen. Ich habe in den sieben Monaten
meines Aufenthaltes noch etwas von der Pionierstimmung mitbekommen, die
angesichts der atemberaubenden Grenzen Israels mit seiner Wespentaille
bei Nethanja nicht nach Recht und Unrecht während des Unabhängigkeitskrieges
fragte. Noch war man einfach begeistert, dass dieser junge Staat sich
gegen eine arabische Übermacht hatte behaupten können und überhaupt
existiert. Zerstörte arabische Dörfer südlich von Naharija,
nördlich von Naharija und an vielen anderen Stellen brachten mich
nicht wirklich zu der Frage, was eigentlich mit den Menschen geschehen
ist, die dort gelebt hatten. Namen wie Deir Jassin, wo im April 1948 über
100 Personen ermordet wurden, oder Kfar Kassem, wo im Oktober 1956 48
arabische Menschen durch die israelische Grenzpolizei getötet wurden,
waren mir zu dem Zeitpunkt nicht geläufig. Erst viel später
sollte mir diese problematische Seite der Existenz Israels deutlich werden,
auch wenn diesen Vorfällen andere entsprachen, in denen jüdische
Menschen von Arabern umgebracht wurden, wie. z.B. in Gusch Etzion.
Doch auch dann blieb es und bleibt es bis heute dabei:
Dieser Staat hat ein Recht auf Existenz an diesem Ort. Nicht Uganda, nicht
Madagaskar, nicht Kanada oder welche Orte als mögliche Plätze
für einen jüdischen Staat auch sonst noch genannt worden sein
mögen, nur dieser von Wüsten umgebene und seit Jahrtausenden
umkämpfte Landstrich konnte es tatsächlich sein. An keinem anderen
Ort der Erde hätte wohl die Kraft gereicht, um diesen Staat zu gründen,
denn kein Ort ist mit der Verheißungsgeschichte verknüpft,
die Israel an dieses Land am Mittelmeer bindet.
Und wenn die Liste der Orte, an denen Israel versagt hat,
Unrecht getan hat, Schuld auf sich geladen hat, inzwischen noch um einige
Plätze länger geworden ist, ist nicht zu bezweifeln, dass die
Landverheißungen eng auch mit der Gründung des neuen Staates
Israel verknüpft sind, obwohl der Staat in seinen Anfängen noch
viel säkularer war, als er es heute ist.
Doch mit der Verheißung ist's wie mit der Erwählung,
sie ist immer auch Verpflichtung. Der Talmud hat sich darüber Gedanken
gemacht, die allerdings nicht notwendig auf einen Staat zulaufen. Wichtig
ist das Leben im Land der Verheißung, nicht die politische Struktur.
In bT baba batra 91a geht es um Wirtschaftsfragen: "Man darf nur
dann aus dem Israellande nach dem Ausland ziehen, wenn zwei Sea Getreide
einen Sela kosten (also unerschwinglich sind). Rabbi Simon sagte aber:
Nur dann, wenn man nichts zu kaufen findet, wenn man aber noch etwas zu
kaufen findet, so darf man nicht fortziehen, selbst wenn eine Sea einen
Sela kostet"13. Auch die Frage, wie viel Land man benötige,
um der Heilsbedeutung des verheißenen Landes sicher zu sein, wird
auf ein Minimum beschränkt, auf wenige Ellen und schließlich
reichte es auch, nur dort begraben zu sein.
In diesen Gedanken wird sowohl die ungeheure Bedeutung
des Landes hervorgehoben, als auch deutlich gesagt, dass es hier nicht
um irgendwelche Grenzen geht, die unbedingt erreicht werden müssen.
An dieser Stelle können die talmudischen Diskussionen in der aktuellen
Debatte helfen. Die religiöse Friedensbewegung hat sich im Blick
auf die besetzten Gebiete auch darauf berufen, dass der Gesichtspunkt
"verheißenes Land" nicht notwendig Groß-Israel meint.
Abzuwägen seien das Recht auf das Gelobte Land und das Recht der
Menschen, die in dem Land leben.
So ist die Landverheißung eine wichtige Triebfeder
für die Errichtung des jüdischen Staates gewesen, zugleich aber
setzt sie auch eindeutige Grenzen in der Debatte um Grenzen und Gebiete.
Und wenn wir auch immer wieder betonen, dass der Staat Israel ein Staat
wie jeder andere ist, bleibt diese Besonderheit doch mit seiner Gründung
und seiner Existenz verbunden.
Schritte in die Zukunft
Mit aller Vorsicht kann man vielleicht sagen: Der christlich-jüdische
Dialog ist an einem Punkt angekommen, an dem es in der christlichen Theologie
möglich und nötig ist, grundsätzliche Aussagen der christlichen
Lehre neu auszurichten.
Barbara Meyer hat in ihrem oben bereits erwähnten
Buch "Christologie im Schatten der Shoah - im Lichte Israels"
eindrücklich herausgearbeitet, wie neue theologische Ansätze
möglich sind, wenn die historischen Ereignisse ernst genommen werden
und theologisch gedeutet werden. Bei den zwei analysierten Theologen sind
es die Shoah und die Gründung des Staates Israel, ohne dass diese
historischen Ereignisse als Offenbarungsquelle dienen. Denn im Blick auf
die Shoah würde so der Massenmord an Juden noch eine theologische
Überhöhung erfahren. Diese Ereignisse lösen aber ein neues
theologisches Nachdenken aus. Bei den beiden genannten Theologen geschah
dies vor allem im Blick auf die Christologie, Gleiches gilt aber auch
für die Trinitätslehre, wo das Nachdenken erst am Anfang steht.
Im Schatten der Shoah werden die christlichen Positionen
selber als mit dunklen Flecken behaftet deutlich. Wenn auch das Wort von
Peter v. d. Osten-Sacken vom "christologischen Besitzverzicht"14
heftig diskutiert wurde, geht es doch darum, von einer triumphalistischen
Christologie weg zu einer mitfühlenden Christologie zu kommen, die
die Offenbarung Gottes in Christus als die Offenbarung des einen und einzigen
Gottes versteht, der seinem Volk Israel treu bleibt in Bund und Erwählung.
"Jede der Sache angemessene christologische Aussage wird deutlich
machen müssen, dass sie eine Bestätigung des Bundes zwischen
Gott und Israel ist".15
Martin Stöhr weist in Thesen zu "Neues Verstehen
der Trinitätslehre im Horizont des christlich-jüdischen Dialogs"16
darauf hin, dass das "Kriterium einer biblisch angemessenen Rede
von Gott (...) die Einhaltung des Ersten Gebotes (ist), wonach der befreiend
sich offenbarende Gott keine anderen Götter neben sich anerkennt"
(These 11). Eine Trinitätslehre hat also darauf zu achten, dass sie
die Einheit Gottes wahrt, indem sie wahrnimmt, dass gerade die Dogmen
zur Trinität in den frühen Konzilien sich gegen einen Tritheismus,
also gegen eine Auflösung des Glaubens an den einen und einzigen
Gott, wendeten (These 9).
In These 33 sagt Stöhr schließlich, was heute
im christlich-jüdischen Dialog notwendig ist: "Es geht heute
nicht um die Eliminierung der Trinitätslehre, wohl aber angesichts
der christlichen Vergessenheit des Gottesnamens und der damit immer ausgesagten
Israelgeschichte um ihre Neuformulierung."
Teil II
Übernahme der Leitung des Ev. Arbeitskreises Kirche
und Israel in Hessen und Nassau
Nach dem Vikariat in Offenbach, während dessen ich
am Rande von der Existenz des "Ev. Arbeitskreises Kirche und Israel
in Hessen und Nassau" erfahren, aber keinen Kontakt aufgenommen hatte,
bat ich die Kircheleitung darum, mein Spezialpraktikum in Israel absolvieren
zu können und zwar für ein Jahr. Für mich war das eine
Ergänzung zu meinem ersten Israelaufenthalt von August 1964 bis März
1965, während dessen ich soziale Arbeit in einer Familie und in einem
Kibbuz, sowie auf einem Kloster verrichtet habe.
In der Ev. Kirche in Hessen und Nassau war es damals noch
nicht üblich, das reguläre halbe Jahr Spezialpraktikum im Ausland
prinzipiell als ganzes Jahr anzusetzen. Die einzige Rückfrage des
zuständigen Oberkirchenrates war, ob ich den Aufenthalt womöglich
als Sprungbrett für eine andere Karriere nutzen wolle. Damals herrschte
nämlich noch Pfarrerknappheit. Mit bestem Gewissen konnte ich versichern,
dass ich Gemeindepfarrer werden wolle. Und davon bin ich bis heute nicht
abgewichen. Da damals die Ordination noch nicht an die Übernahme
eines Gemeindepfarramtes gebunden war, musste ich nach dem offiziellen
Ende des halbjährigen Spezialpraktikums ordiniert werden. Diese Ordination
wurde von Propst Glatte am 4. Juni 1972 in der ev.-luth. Erlöserkirche
in der Altstadt von Jerusalem durchgeführt.
In dem letzten Teil des Praktikums Mitte 1972 erhielt
ich von der Landeskirche die Anfrage, ob ich die Leitung des Ev. Arbeitskreises
Kirche und Israel übernehmen wolle, vielleicht mit halber Stelle
in einer Gemeinde und halber Stelle beim Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel
oder vielleicht neben einer Schulpfarrerstelle. Meine Antwort: Leitung
gerne, aber nur mit einer Gemeindepfarrstelle, ob es nicht eine kleine
Gemeinde gebe?
Nach meiner Rückkehr im August 1972 erhielt ich eine
Pfarrvikarsstelle in der Dreifaltigkeitsgemeinde in Frankfurt/Main und
die Leitung des Arbeitskreises. Pfarrer Wirth, mein Amtsvorgänger,
der in Frankfurt Studierendenpfarrer war und ins Ruhrgebiet wechselte,
führte mich in der Sitzung vom 11. Oktober 1972 in den Arbeitskreis
ein. Als Thema stellten wir uns "Das christlich-jüdische Gespräch
über und in Israel".
Die Einladung zur ersten Sitzung unter meiner Leitung
erfolgte für den 17. Januar 1973. Es sollte über die Konzeption
der Arbeit in den nächsten Jahren gesprochen werden. Aus diesen ersten
Jahren gibt es aber keine Protokolle, sodass kaum über Ergebnisse
dieses Beratungsprozesses berichtet werden kann. Indirekt ist aber aus
der Einladung zur nächsten Sitzung am 16. Mai 1973 erkennbar, dass
drei Arbeitsgruppen gebildet worden sind, die Konzepte erarbeiten sollten.
Die Konkretisierung und damit auch Ausweitung der Arbeit
des Arbeitskreises führte 1975 mit meinem Pfarrstellenwechsel nach
Frankfurt/Main-Westhausen zur Einrichtung einer Teilzeitstelle einer Schreibkraft.
Auch das Selbstbewusstsein des Arbeitskreises zeigte sich
verstärkt darin, dass nach einem Logo (damals: Signé genannt)
gesucht wurde. Gefunden wurde eine Kombination aus Fisch und Menora:
Bewusst wurde auf die Verwendung des Kreuzes verzichtet.
Positionen seit der Gründung des Ev. Arbeitskreises
Kirche und Israel
Die Positionen des Arbeitskreises haben sich im Laufe
der Jahre nicht grundsätzlich verändert: Der Arbeitskreis kann
sich aus theologischen Gründen keine Judenmission vorstellen. Dahinter
steht die Überzeugung, dass zwar Christus das Heil der Welt ist,
dass aber die Heilsverheißungen für die Juden nach wie vor
gültig sind. Damit haben Christen keine Veranlassung, Juden ein anderes
Heil zuzusprechen als das Heil, welches ihnen ihr Gott, den auch wir Christen
anbeten, verheißen hat. Alles andere wäre Spekulation. Auch
der Satz des Apostels Paulus, am Ende "wird ganz Israel gerettet
werden" (Röm 11,26), ist nicht zwingend auf Jesus Christus zu
beziehen, selbst wenn Paulus selber es so gesehen haben sollte. Zumindest
aber ist diese paulinische Aussage dahingehend zu verstehen, dass die
Rettung Israels offensichtlich nicht das Problem der Christen ist, wenn
sie nur begreifen, dass Paulus mit diesem Satz vor allem einen Aufschub
für die noch nicht bekehrten Heiden schafft.
Ansonsten hat der Arbeitskreis schon früh die Positionen
eingenommen, die schließlich durch die Synode der Ev. Kirche in
Hessen und Nassau als Bekenntnis im Grundartikel formuliert wurden. Insofern
war es folgerichtig, nach 1991 den im Grundartikel ergänzten Satz
in die Position des Arbeitskreises zu übernehmen und den Ev. Arbeitskreis
Kirche und Israel damit auch im Bekenntnis der Landeskirche eindeutig
zu positionieren: "Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt
sie (die Ev. Kirche in Hessen und Nassau) neu die bleibende Erwählung
der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus
schließt dieses Zeugnis ein."
Damit ist die Arbeit aber natürlich nicht erledigt.
Die theologische Debatte geht weiter. Aber die Pionierzeit des christlich-jüdischen
Dialogs ist zu Ende. Vor allem nimmt allmählich eine Generation Abschied,
die ganz konsequent ihren Glauben gemessen hat an der Wirklichkeit, dass
nach Auschwitz kein theologischer Satz mehr unhinterfragt so formuliert
werden kann wie vor Auschwitz. Theologen wie Johann Baptist Metz, Paul
van Buren und Friedrich Wilhelm Marquardt haben hier Schneisen geschlagen.
Jüdische Gesprächspartner wie Nathan Peter Levinson, Albert
Friedländer, Jonathan Magonet haben in der Diskussion geholfen, wichtige
Schritte zu gehen. Christliche Dogmen wurden hinterfragt und zunächst
einmal beiseite gelegt oder es wurde versucht, sie in den christlich-jüdischen
Dialog einzubringen. Nun ist wohl die Zeit gekommen, hier neue Wege zu
gehen und die Dogmatik auf den Prüfstand zu stellen.
Die Einbindung des Arbeitskreises in die Ev. Kirche
in Hessen und Nassau
Der Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel hat sich seit seiner
Gründung als eine Gruppe verstanden, die innerhalb der Ev. Kirche
in Hessen und Nassau arbeitet, Anregungen gibt, theologische Vorstöße
macht und Hilfen anbietet. Er hat sich von Anbeginn aber auch nicht als
landeskirchliche Institution gesehen, sondern als ein unabhängiger
Arbeitskreis, der seine theologischen Positionen eigenverantwortlich einnimmt.
Insofern war es vielleicht richtig, dass zwar der Vorsitzende einen speziellen
Auftrag für die Leitung des Ev. Arbeitskreises Kirche und Israel
bekam und auch hierfür von den Pflichtstunden Religion freigestellt
wurde, aber letztlich seine Funktion nicht als offizielle Pfarrstelle
übernommen hat.
Dennoch ergaben sich immer enge Berührungspunkte
mit der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, wenn sie sich auch im Lauf der
Jahre verändert haben. Wurden in den Anfangsjahren noch Predigtmeditationen
von Mitgliedern des Ev. Arbeitskreises Kirche und Israel im Amtsblatt
veröffentlicht, verselbstständigten sich die Veröffentlichungen
des Ev. Arbeitskreises Kirche und Israel ab den siebziger Jahren in eigener
Verantwortung.
Zugleich aber kam es zu regelmäßigen Kontakten
mit den Kirchenpräsidenten, dem "Leitenden Geistlichen Amt (LGA)",
mit dem zuständigen Oberkirchenrat bzw. Oberkirchenrätin für
Mission und Ökumene und schließlich auch mit der Synode.
Auf diese Weise war es dem Ev. Arbeitskreis Kirche und
Israel möglich, Gesichtspunkte des christlich-jüdischen Dialogs,
aber auch Fragen des Staates Israel und des Nahostkonfliktes in Gesprächen
mit dem Kirchenpräsidenten oder dem LGA zu erläutern. Inhaltlich
gab der Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel Anregungen, ohne selber kirchenpolitische
Initiativen zu ergreifen.
Als die Frage nach Konsequenzen aus dem christlich-jüdischen
Dialog für die Kirche auch in der hessen-nassauischen Landeskirche
aktuell wurde, beteiligte sich der Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel
an der thematischen Vorbereitung und Durchführung von Synoden. Das
galt insbesondere für die Synode 1981, als es um die Vermittlung
von Wissen über das Judentum und Konsequenzen für unseren christlichen
Glauben aus dem Judentum heraus ging und für den synodalen Prozess,
der 1991 in die Ergänzung des GA mündete.
Im Vorfeld der Synode 1981 war schon klar gemacht worden,
dass keine synodale Erklärung das Ergebnis dieser Synode sein solle,
was dieser Synode eine etwas isolierte Stellung gab. Denn nun stellte
sich die Frage, was mit den erarbeiteten Themen gemacht werden sollte.
Nur sehr begrenzt war es möglich, den Schwung in den kirchlichen
Alltag zu retten.
Folgende Themenbereiche wurden verhandelt:
- Der Jude Jesus von Nazareth als Frage an unser Glaubensverständnis
- Judenfeindschaft in der Kirche als Frage an das heutige Verhältnis
der Kirche zum Judentum
- Die Jüdische Bibel als Basis des christlichen Glaubens
- Christlicher Glaube/Christliches Leben vor Auschwitz/nach Auschwitz
- Der Staat Israel als politische und religiöse Herausforderung an
die Christenheit
Die dort angeschnittenen Fragen hätten es verdient
gehabt, in der Landeskirche breit diskutiert zu werden. Vor allem die
Frage einer "Theologie nach Auschwitz", die in jenen Jahren
noch sehr jung war, hätte bis tief in die Gemeinden hinein diskutiert
werden müssen. Die Argumente der Gegner dieser Debatte, die den Vertretern
einer Theologie nach Auschwitz vorwarfen, sie würden neben Jesus
Christus ein weiteres Offenbarungsereignis stellen und damit Auschwitz
sogar aufwerten, hätten kontrovers diskutiert werden müssen.
Dies ist ein nur schwer zu verstehender Vorwurf, da es bei den Fragen
einer Theologie nach Auschwitz nicht um neue Offenbarungsqualitäten
geht, sondern um die Verdunkelung oder gar Zerstörung der bisherigen
Offenbarungsgewissheiten. Gerade angesichts der Schuldverstrickung der
Vorgängerkirche der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, der Ev. Landeskirche
Nassau-Hessen, hätte dies Not getan und eine reinigende Wirkung gehabt.
Aber auch die Frage nach unserer Beziehung zu Israel und
unserer Einstellung zum Nahostkonflikt hätten in der Breite diskutiert
werden müssen. Gerade in der zu der Zeit noch ziemlich links ausgerichteten
Landeskirche wäre ein Diskurs über berechtigte Kritik an Israel
und verkappten Antijudaismus fruchtbar gewesen.
Ein Pfarrertag der Propstei Südstarkenburg, der mit
den Beauftragten für Mission und Ökumene der Dekanate gründlich
vorbereitet wurde, blieb ein einmaliges Ereignis. Die Synode selber hat
das Thema Judentum dann noch einmal unter religionspädagogischen
Gesichtspunkten aufgenommen.
Es war aber ein Unbehagen zu spüren, dass die Ev.
Kirche in Hessen und Nassau bislang nicht so vielen anderen Landeskirchen
gefolgt war, in irgendeiner Form ihre Stellung zum Judentum verbindlich
zu definieren.
So ist es dann letztlich doch nicht überraschend
und hat wohl auch seine Wurzeln in der Synode von 1981, dass aus der Synode
heraus vorgeschlagen wurde, den Grundartikel der Ev. Kirche in Hessen
und Nassau, der sich auf die altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnisse
bezieht, aber auch auf die Barmer Theologische Erklärung, in bewusster
Ergänzung zu dieser Barmer Erklärung einen Satz in den Grundartikel
einzufügen, der eine eindeutige Aussage der Ev. Kirche in Hessen
und Nassau zu ihrem Verhältnis zum Judentum erreicht.
An diesem Prozess hat sich der Ev. Arbeitskreis Kirche
und Israel intensiv beteiligt, sowohl in der Formulierungssuche als auch
in den Debatten von Dekanatskonferenzen und Synoden. Es war eine fruchtbare
Debatte, die auch zur Klärung des christlichen Selbstverständnisses
beitrug. Da es um die Ergänzung eines Artikels der Grundordnung der
Ev. Kirche in Hessen und Nassau ging, musste eine theologische Aussage
in einen sehr kurzen Satz gefasst werden. Das war ein sehr schwieriger
Prozess.
Tatsächlich war in den ersten Textvorschlägen
das Missverständnis enthalten, dass die bleibende Erwählung
Israels und Gottes Bund mit ihm der Offenbarungsgrund des christlichen
Glaubens sei. Die letzte Textvariante machte dann klar, dass die bleibende
Erwählung Israels Teil des christlichen Glaubens selbst sein muss,
dass für uns Christen die Offenbarung aber in Jesus Christus liegt.
Nun ist dieser Satz Teil des Bekenntnisses, auf das werdende
Pfarrerinnen und Pfarrer ordiniert werden. Die Landeskirche hat sich einer
Geschichte gestellt, die mit dem Aussterben der betroffenen Generation
nicht abgehakt werden kann, sondern immer weiter auch in ferner Zukunft
bedacht werden muss, damit die Kirche nie wieder versage wie im "3.
Reich".
Leider muss man dieses Versagen gerade auch für die
Vorgängerorganisation der Ev. Kirche in Hessen und Nassau benennen,
die sich völlig in die Kirche der "Deutschen Christen"
eingegliedert hatte und deren machtpolitische wie auch theologische Positionen
übernommen hatte. Ein Opfer unter gewiss vielen wurde der Pfarrer
Heinrich Lebrecht, dessen Tochter sein Leben als Pfarrer der Bekennenden
Kirche und Gründer einer Bekennenden Gemeinde in Großzimmern
eindrücklich beschrieb und in einer Schrift des Ev. Arbeitskreises
Kirche und Israel veröffentlichte.17
Nach dem Abschluss der synodalen Debatten endete erst
einmal das Interesse für christlich-jüdische Fragen in der Ev.
Kirche in Hessen und Nassau. Auch der Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel
hielt sich zurück, da der Entscheidung doch ein großer Kraftakt
vorangegangen war. Es ist allerdings jetzt zu fragen, ob es nur das Durchatmen
nach dem Kraftakt war oder ob man mit dem im Grundartikel ergänzten
Satz nun meint, zur Tagesordnung übergehen zu können. Denn es
gibt ja auch noch ganz andere Fragen, augenblicklich vielleicht brennendere:
z.B. Umgang mit dem Islam, Umweltfragen, Strukturreform, feministische
Theologie, neue Formen der Verkündigung. Nur: Wie sollen hier die
Antworten aussehen, wenn die Grundlage nicht stimmt!
Ich zögere, denen zuzustimmen, die - auch im Ev.
Arbeitskreis Kirche und Israel - meinen, ein solcher Satz wäre heute
in der Synode der Ev. Kirche in Hessen und Nassau nicht mehr durchsetzbar.
Vielleicht vergisst man dabei zu leicht, dass bis zur Entscheidung ein
langer Weg zu gehen war. Wenn es wirklich noch nicht die Ergänzung
des Grundartikels gäbe, hätte man ihn vielleicht nicht in den
vergangenen Jahren durchsetzen können, in denen die Strukturdebatte
das kirchliche Leben bestimmte. Aber wenn es den Mangel einer fehlenden
Erklärung gäbe und die Notwendigkeit von einigen gesehen würde,
würde die Debatte in der Synode der Ev. Kirche in Hessen und Nassau
offen, kontrovers aber schließlich erfolgreich geführt werden.
Wichtiger als diese etwas resignierende Feststellung ist
die Erkenntnis der Aktualität dieses Themas auch in der heutigen
Zeit und der Start neuer Initiativen auf der Ebene der Dekanate und Gemeinden.
Jetzt, im Jahr 2006, nach fünfzehn Jahren, könnte
der Zeitpunkt hierfür gekommen sein.
Es ist auch die Zeit, die Wirkung der GA-Ergänzung
zu prüfen. Probeweise habe ich mich dieser Aufgabe unterzogen:
Aus Blindheit
2 Mose 34, 34f
Und wenn er hineinging vor den HERRN, mit ihm zu reden,
tat er die Decke ab, bis er wieder herausging. Und wenn er herauskam und
zu den Israeliten redete, was ihm geboten war, sahen die Israeliten, wie
die Haut seines Angesichts glänzte. Dann tat er die Decke auf sein
Angesicht, bis er wieder hineinging, mit ihm zu reden.
2 Kor 3,12-14
Weil wir nun solche Hoffnung haben, sind wir voll großer
Zuversicht und tun nicht wie Mose, der eine Decke vor sein Angesicht hängte,
damit die Israeliten nicht sehen konnten das Ende der Herrlichkeit, die
aufhört. Aber ihre Sinne wurden verstockt. Denn bis auf den heutigen
Tag bleibt diese Decke unaufgedeckt über dem Alten Testament, wenn
sie es lesen, weil sie nur in Christus abgetan wird.
Eigene Blindheit zu bekennen, war nicht Teil der kirchlichen
Tradition. Schon die Darstellungen an romanischen und gotischen Domen
haben die Blindheit der Synagoga vorbehalten (vgl. in unserer Region:
Dom zu Worms am Südportal/Haupteingang), die stets mit verbundenen
Augen dargestellt wurde. Gerne hat die Kirche die paulinische Deutung
übernommen, die die Decke auf dem Angesicht des Mose als Ende der
Herrlichkeit Gottes deutete.
Die eigene Blindheit aber für Gottes Treue zu seinem
Volk Israel machte Christen unfähig, rechtzeitig entschieden zu handeln.
Frage:
- Haben wir das Bild von der triumphierenden Ekklesia und der blinden
Synagoga wirklich überwunden?
- Achten die theologische Wissenschaft und die Predigt auf eine angemessene
Redeweise über den jüdischen Glauben?
und Schuld
Ps 32,5
Darum bekannte ich dir meine Sünde, und meine Schuld
verhehlte ich nicht. Ich sprach: Ich will dem HERRN meine Übertretungen
bekennen. Da vergabst du mir die Schuld meiner Sünde.
Mt 6,12
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern
Schuldigern.
Jak 2,10
Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt
gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig.
Schuld wird im Christentum gerne gleich gesetzt mit der
Vergebung, die uns zugesagt ist. Und ganz gewiss haben wir diese Vergebung
auch nötig. Doch allzu oft fordern sie Christen auch ein als etwas,
das ihnen zusteht. Dass der Vergebung ein Bekenntnis vorangehen muss und
auch die Bereitschaft, andere Schuld zu vergeben, wird leicht vergessen.
Frage:
- Hat die Ev. Kirche in Hessen und Nassau jemals expressis verbis die
Schuld der Ev. Landeskirche Nassau-Hessen, deren Landesbischof Dietrich
von einem judenchristlichen Pfarrer als dem "Judenstämmling"
Lebrecht sprechen konnte18, bekannt oder sich auf der Tatsache ausgeruht,
dass der erste Kirchenpräsident Niemöller ausgewiesen war durch
seinen Widerstand gegen das "3. Reich"?
- Haben die Kirchengemeinden in ihre Chroniken geschaut und das Verhalten
ihrer Pfarrer und Gemeinden im "3. Reich" zur Kenntnis genommen?19
zur Umkehr gerufen,
Hiob 41, 5+6
Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber
nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue
Buße in Staub und Asche.
Apg 11,18
Als sie das hörten, schwiegen sie still und lobten
Gott und sprachen: So hat Gott auch den Heiden die Umkehr gegeben, die
zum Leben führt!
Als Umkehr haben die Mitglieder der Synode der Ev. Kirche
in Hessen und Nassau 1991 den Schritt verstanden, das Verhältnis
der Kirche zu ihren Wurzeln im Judentum als Teil ihres christlichen Bekenntnisses
zu benennen. Buße und Umkehr ist allerdings kein mit der Ergänzung
des Grundartikels abgeschlossener Vorgang.
Frage:
- Umkehr ist ein zu gehender Weg. Welche Schritte sind bisher gegangen
worden?
- Sind wir gegen jede Form von Antisemitismus in unseren Gemeinden eingetreten?
- Haben wir selber auf Klischees verzichtet, wenn es z.B. um die Bewertung
des Nahostkonfliktes ging (z.B. Auge um Auge)?
bezeugt die Ev. Kirche in Hessen und Nassau
1.Chr 29,20
Und David sprach zur ganzen Gemeinde: Lobet den HERRN,
euren Gott! Und die ganze Gemeinde lobte den HERRN, den Gott ihrer Väter,
und sie neigten sich und fielen nieder vor dem HERRN und vor dem König.
Ps 22,23
Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern, ich
will dich in der Gemeinde rühmen.
Ps 74,2
Gedenke an deine Gemeinde, die du vorzeiten erworben und
dir zum Erbteil erlöst hast, an den Berg Zion, auf dem du wohnest.
Das Bekenntnis wird nicht nur vom Einzelnen gefordert,
sondern es ist Teil des Selbstverständnisses der Ev. Kirche in Hessen
und Nassau. Damit übernehmen die Kirche, ihre Pfarrerinnen und Pfarrer,
Lehrerinnen und Lehrer und auch alle Ehrenamtlichen eine große Verantwortung
in der Verkündigung wie auch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.
In der Ev. Kirche in Hessen und Nassau kann nicht mehr
antijüdisch gepredigt, unterrichtet, gesprochen werden, ohne sich
außerhalb der Ordnungen der Ev. Kirche in Hessen und Nassau zu stellen.
Frage:
- Halten die Sonntagspredigten diesem Anspruch stand?
- Verzichtet der Religions-/Konfirmandenunterricht auf die Klischees von
Gesetz und Evangelium, Gott der Liebe, Gott der Rache?
neu
Jer 31, 31-33
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich
mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,
nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss,
als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen,
ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht
der HERR; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel
schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein
Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein
Volk sein, und ich will ihr Gott sein.
1.Joh 1,9
Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu
und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller
Ungerechtigkeit.
Eigentlich hätte man es wissen können.
Immer gab es Christen, die die Wurzeln ihres Glaubens
im Judentum erkannten, selbst wenn sie am Ende die Hinwendung der Juden
zu Christus erwarteten, selbst Luther war sich des Jude-Seins Jesu bewusst.
Der Pietismus erkannte die Wurzeln im Judentum in seinem Glaubensvollzug.
Deshalb bekennt die Ev. Kirche in Hessen und Nassau neu,
wiederholt sie etwas, was eigentlich im Bewusstsein des Glaubens angelegt
ist.
Frage:
- Hat sich etwas in der Ev. Kirche in Hessen und Nassau verändert?
- Ist die Verkündigung jetzt unverkennbar neu?
- Ist in der Ev. Kirche in Hessen und Nassau ein "Gottesdienst in
Israels Gegenwart" selbstverständlich?
die bleibende Erwählung der Juden
Jes 14,1
Denn der HERR wird sich über Jakob erbarmen und Israel
noch einmal erwählen und sie in ihr Land setzen. Und Fremdlinge werden
sich zu ihnen gesellen und dem Hause Jakob anhangen.
Röm 11,28
Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen;
aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter
willen.
Nach Jahrhunderten, in denen die christliche Kirche sich
selber als das erwählte Volk Gottes sah, in denen die Kirche alle
Verheißungen auf sich selbst bezog, ohne auch konsequent die Strafpredigten
Gottes auf sich zu beziehen, fällt es noch immer schwer zu begreifen,
dass es da eine lebendige Religion gibt, die nicht nur Wurzel des christlichen
Glaubens ist, sondern auch neben dem Christentum seit 2000 Jahren existiert.
Dass Gott Jüdinnen und Juden und zugleich auch Christinnen und Christen
erwählen kann, ist in das theologische Denken der Christen neu einzubeziehen.
Frage:
- Verzichten wir in der Ev. Kirche in Hessen und Nassau auf den "Alleinvertretungsanspruch"
des Christentums?
- Ist für uns Jesus Christus wohl Ziel, aber nicht Ende des Gesetzes/der
Weisung?
und Gottes Bund mit ihnen.
2.Mose 19,5
Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund
halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die
ganze Erde ist mein.
Röm 9, 1-5
Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht,
wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, dass ich große
Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber
wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine
Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten
sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse
und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen
auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach
dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.
Wenn die Kirche sich an Pfingsten nicht nur der Ausgießung
des Heiligen Geistes und der Feuer- und Winderscheinungen erinnerte, sondern
auch des dazugehörigen jüdischen Festes, das den Bundesschluss
am Sinai zum Inhalt hat, dann könnte sie erkennen, dass es bei Gott
nicht nur einen einzigen Bundesschluss gibt, der andere ausschließt.
Vielmehr schließt Gott immer wieder seinen (einseitigen) Bund mit
den Juden und (hoffentlich) auch mit den Christen.
Frage:
- Begreifen wir den Bund, den Gott mit uns in Christus geschlossen hat
als Auftrag, nicht aber als Privileg?
- Wenden wir uns im Gott des neuen Bundes auch zu dem Gott des alten Bundes
und so vieler neuer Bundesschlüsse?
Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses
Zeugnis ein.
Kol 1,18
Und er (Christus) ist das Haupt des Leibes, nämlich
der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, damit
er in allem der Erste sei.
Mit der Aufnahme der Barmer Theologischen Erklärung
in den Grundartikel hat die Ev. Kirche in Hessen und Nassau von Anfang
an sowohl die altkirchlichen als auch die reformatorischen Bekenntnisse
in das Licht des Kirchenkampfes gestellt. Diese Bekenntnisse dürfen
nicht entstellt werden durch Ideologien oder Glaubensverfälschungen,
wie sie durch die "Deutschen Christen" erfolgten.
Das Verhältnis zu den Juden wird hier nicht ausdrücklich
angesprochen, deshalb musste dies ergänzt werden.
Frage:
- Ist dieses Bekenntnis von allen Mitgliedern der Ev. Kirche in Hessen
und Nassau ernst genommen worden?
- Ist es bei den Ordinationsgelübden mehr als ein Lippenbekenntnis?
- Können sich vor der Ergänzung des Grundartikels Ordinierte
wirklich darauf zurückziehen, sie seien ja noch nach der alten Formel
ordiniert worden?
Weitere Fragen:
- Könnte meine Verkündigung vor und nach Auschwitz dieselbe
sein?
- Habe ich als Christ eine besondere Beziehung zum Staat Israel?
- Wie hältst du's mit dem Judentum? (Titel des Jubiläumsbuches
des Ev. Arbeitskreises Kirche und Israel)
- Ist auch für Juden Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das
Leben?
Gedenken
In Deutschland gilt es, das Grauen des sog. "3. Reiches"
als Mahnung und Warnung gegenwärtig zu halten. Aber wollen wir uns
überhaupt und wirklich erinnern, oder sagen wir, das muss einmal
ein Ende haben mit der Vergangenheit? Können wir das Ende des "3.
Reiches" wirklich als Befreiung verstehen oder doch nur als eine
Niederlage, deren Gegenteil ich mir gar nicht vorstellen mag.
Ein Arbeitskreismitglied formuliert in einem Interview
angesichts der Ablehnung einer Kollektivschuld der Deutschen: "Ich
fand es unbefriedigend, dass man nicht bedenkt, welche Chancen darin auch
liegen können, wenn man kollektive Schuldbekenntnisse spricht und
dann die Vergebung und Befreiung auch erfahren darf."20
Stattdessen hat es in Deutschland einen gewaltigen Verdrängungsprozess
im Blick auf die Geschichte des "3. Reichs" gegeben. Man konnte
sich verstecken hinter dem Wiederaufbau. Die internationale Politik hatte
ein Interesse daran, die "Westzone" im kalten Krieg in die westliche
Hemisphäre einzubinden. Und erst in diesen Tagen, in denen einige
bisher nicht zugängliche Urkunden der Wissenschaft zugänglich
gemacht wurden, wird deutlich, dass die Verfolgung eines Adolf Eichmann
von deutschen und amerikanischen Geheimdiensten über Jahre hin verschleiert,
behindert und verschleppt wurde, bis er schließlich vom israelischen
Geheimdienst gekidnappt, 1961 in Israel vor Gericht gestellt und zum Tode
verurteilt wurde. Auch die Nazivergangenheit des Staatssekretärs
im Kanzleramt Hans Globke, dem Kommentator der Nürnberger Rassegesetze,
wurde ganz bewusst von dem amerikanischen Geheimdienst vertuscht21.
Der Kultur in Deutschland hat das nicht gut getan. Denn
"Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung"22. Wo aber
verdrängt wird, bleibt Unaufgearbeitetes, das dann an unerwarteten
Stellen aufbrechen kann.
Der biblische Glaube lebt von der Erinnerung. Judentum
wie Christentum erinnern sich an die Offenbarungsereignisse und Heilsereignisse
in ihren Glaubensurkunden. Das Judentum feiert all seine großen
Wallfahrtsfeste als Erinnerung an Gottes Handeln mit seinem Volk Israel:
Pessach - Auszug aus Ägypten, Schawuot - Bundesschluss am Sinai,
Sukkot - 40 Jahre Wüstenwanderung.
Auch das Christentum erinnert sich an Ereignisse der Heilsgeschichte:
Weihnachten - Geburt Christi, Ostern - Auferstehung, Pfingsten - Geistausgießung.
Nur im Erinnern bleiben diese Ereignisse lebendig und
Teil des aktuellen Glaubens. Doch das Erinnern richtet sich nicht einfach
nur auf Vergangenheit, vielmehr ist es die Vergegenwärtigung des
Ereignisses in der Gegenwart. Und aus dieser Vergegenwärtigung heraus
entsteht die Verantwortung für die Gegenwart.
Gottesdienste
Der Themenbereich Gottesdienst gehört zu den ureigensten
Gebieten der Arbeit des Arbeitskreises. Hier sind allerdings verschiedene
Ebenen zu beachten:
Gottesdienstmaterialien
Ein wesentlicher Teil ist die Wortverkündigung. So
stand auch in den ersten Jahren des Arbeitskreises die Erstellung von
Predigtmeditationen im Vordergrund. Ab den siebziger Jahren veränderte
sich dies, wohl auch entsprechend den Veränderungen im gottesdienstlichen
Bereich überhaupt. Wenige Jahre zuvor war die "Beratungsstelle
für Gottesdienste und andere Gemeindeveranstaltungen" entstanden.
In Zusammenarbeit mit ihr wurde auch das erste Heft erarbeitet. Das erste
Augenmerk richtete sich auf den 10. Sonntag nach Trinitatis, dessen Kollekte
seit den Zeiten von Adolf Freudenberg, dem Gründer des Arbeitskreises,
für "Dienste in Israel" (ursprünglich "Dienst
an Israel") bestimmt war. Hier wurden, ausgehend von dem vorgesehenen
Predigttext, Liturgie und Predigtmeditation und weitere Texte erarbeitet
bzw. zusammengestellt. Gelegentlich übernahm der Arbeitskreis in
den Jahren danach entsprechende Erarbeitungen von anderen Organisationen
wie "Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste" oder "Begegnung
Christen/Juden" in Bayern.
Mit der Gründung des "Projektausschusses Gottesdienst"
Mitte der neunziger Jahre wurden vom Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel
jährlich Hefte erstellt, nun allerdings nicht immer zum 10. Sonntag
nach Trinitatis, sondern zu unterschiedlichen Themen.
Eine besondere Herausforderung sind Gottesdienstentwürfe
für den Karfreitag. Ging es bei Entwürfen für den Israelsonntag
vor allem darum, antijüdische Tendenzen der Sonntagsthematik zu verhindern
und den Zusammenhang zum Tischa b'Av, dem jüdischen Gedenktag der
Tempelzerstörung, herzustellen, rührte der Arbeitskreis mit
der Thematik Karfreitag an das Zentrum der christlichen, vor allem evangelischen
Verkündigung. Im Hintergrund stand das Bewusstsein, dass der Karfreitag
über Jahrhunderte für die jüdischen Mitbürgerinnen
und -bürger ein gefährlicher Tag war. Die Verkündigung
der Kreuzigung Jesu verbunden mit dem Vorwurf, die Juden hätten Jesus
ans Kreuz gebracht, führte immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen
auf Jüdinnen und Juden.
Im Jahr 1981 wurde ein Heft herausgebracht, das stark
beeinflusst war von der in den siebziger Jahren aufgekommenen Theologie
nach Auschwitz. Im Vorwort heißt es: "Die Kirche hat, wenn
auch zögernd, ihre Schuld an den Juden bekannt. Aber hat die Erfahrung
des Holocaust unsere Verkündigung an Karfreitag verändert?"
Neben den einschlägigen Bibeltexten fallen vor allem zwei Teile dieses
Heftes auf:
Zum einen wurde ein Gottesdienst entworfen, in dessen
Mittelpunkt das Chagallbild "Die weiße Kreuzigung" stand,
auf der Jesus eindeutig als Jude mit dem Gebetsmantel als Lendenschurz
dargestellt wird. Damals war es noch eine überraschende Erkenntnis,
dass Marc Chagall eine Kreuzigung darstellt und in gewisser Weise Jesus
heimholt in sein Judentum. Inzwischen ist bewusst geworden, dass Chagall
sich häufiger dieses Motivs bedient. Für die Verkündigung
an Karfreitag war - und ist wohl auch heute noch - ein solches Bild aufrüttelnd.
Das herkömmliche Feindschema, die Juden hätten "unseren"
Christus ans Kreuz gebracht, ließ sich nicht mehr aufrecht erhalten.
Nun war es der Jude, der gekreuzigt wurde, und die von Chagall gezeichnete
Umwelt dieses Gekreuzigten zeigt die Verfolgung und Vernichtung der Juden.
Hier stehen plötzlich die Christen auf der Seite der Täter.
Im letzten Teil des Heftes wurden Gedichte und Texte abgedruckt,
alle aus jüdischer Feder, u.a. Hermann Adler, Mascha Kaleko, Nelly
Sachs. Und es wurde eine Beschreibung des Oratoriums von Arnold Schönberg
angefügt: "Ein Überlebender von Warschau".
In dieser Dichte blieb dieses Heft unwiederholt.
Allerdings wurde 2003 die Thematik in einem Heft "Kreuze"
noch einmal aufgenommen. Hier wurden Passionsandachten zu Kreuz-Bildern
erarbeitet. Dieses Heft gehört in die Reihe "Gottesdienst in
Israels Gegenwart". Der Arbeitskreis nimmt mit dieser Bezeichnung
einen Titel auf, der für drei Bände mit Predigtmeditationen
im Auftrag der "Studienkommission Kirche und Judentum der EKD"
von Arnulf Baumann und Ulrich Schwemer unter dem Titel "Predigen
in Israels Gegenwart" herausgegeben wurde. Wenn auch die Veröffentlichungen
nicht alle 6 Perikopenreihen umfasste, wurde der Titel doch zu einem Markenzeichen.
Liturgie und Jahresfestkreis
Einen völlig anderen Aspekt zum Themenbereich Gottesdienst
bildet die Frage nach den jüdischen Wurzeln des Gottesdienstes. Diese
Thematik habe ich selber in einer sechswöchigen Fortbildung in Israel
bearbeitet mit dem für mich überraschenden Ergebnis, dass die
Wurzeln sich nicht nur dort zeigen, wo sie sozusagen auf der Hand liegen,
nämlich an Ostern, sondern dass das ganze Kirchenjahr in einem engen
Zusammenhang mit dem jüdischen Jahreskreis steht. Überraschend
ist vielleicht auch, dass gerade die so offensichtliche Verknüpfung
Pessach/Ostern bei genauem Hinsehen gar nicht so klar zutage liegt. Nur
über den Begriff Freiheit lassen sich der Auszug aus Ägypten
und die Auferstehung zusammenbringen. Interessanter ist da dann schon
der Gründonnerstag mit der Einsetzung des Abendmahles beim Passafest.
Hier gilt es auch gegenwärtig noch, diese jüdischen Wurzeln
(evtl. im Erev-Schabat-Essen) zu erheben und das Abendmahl davor zu bewahren,
aus den griechischen Mysterienkulten gedeutet zu werden.
Aufregender ist da schon die Betrachtung des Pfingstfestes,
dessen Bindung an das Schawuotfest im Christentum fast völlig vergessen
worden ist, was sich bis in die Perikopenreihe hin auswirkt. Wäre
Christen nämlich bewusst, dass das Pfingstereignis von Apg 2 die
Motive der Sinaioffenbarung aufnimmt und dass die Juden an diesem Fest
den Bundesschluss am Sinai feiern, dann würde die Verkündigung
an Pfingsten eine ganz andere Färbung bekommen. Hier könnte
der Bundesschluss am Sinai und die Kirche als neues Bundesvolk nebeneinander
verkündigt werden, also Gottes bleibender Bund mit Israel und seine
Offenbarung in Christus. Stattdessen bekommt die Geschichte der Sprachverwirrung
beim Turmbau zu Babel einen hohen Stellenwert in dem Sinne, dass in Christus
etwas wieder hergestellt werde, was im alten Bund zerstört worden
sei. Nicht zur Kenntnis wird genommen, dass dieselbe Tradition auch im
Judentum bekannt ist. Hier kommen die Völker am Sinai zusammen und
plötzlich verstehen sich alle in ihren fremden Sprachen.
In diesem Rahmen sei nur darauf hingewiesen, dass sogar
das jüdische Neujahrsfest und das Laubhüttenfest im Herbst Beziehungen
haben zum Ewigkeitssonntag und zum 1. Advent, der ja das christliche Neujahrsfest
ist mit sehr ähnlicher Thematik.
Schließlich gilt es in den liturgischen Formen und
Abläufen zu erkennen, wie viele Elemente des jüdischen Gottesdienstes
hier in die christliche Liturgie Eingang gefunden haben.23
Christlich-jüdische Gottesdienste
Ein weiterer Bereich sind christlich-jüdische Gottesdienste.
Von den ersten Anfängen an, wie z.B. der "Woche der Brüderlichkeit",
gab es solche Gottesdienste aus dem Bedürfnis heraus, gemeinsam vor
Gott zu treten, der doch im Alten wie im Neuen Testament der Eine und
Einzige ist. In der Regel gab es einen katholischen, einen evangelischen
und einen jüdischen Würdenträger. Diese Form blieb lange
unhinterfragt, bis Mitte der siebziger Jahre die Frage aufkam, ob das
alles eigentlich so unkompliziert gehe: Reicht es, dass die Christen einfach
auf alle christologischen Formeln verzichten? Ist es richtig, den aaronitischen
Segen zu sprechen, der im Judentum doch nur von den Kohanim (Priestern)
gesprochen werden darf? Ist das Vaterunser wirklich auch jüdisch
mitzusprechen, nur weil keine christologische Formel enthalten ist und
es eine Kurzfassung des 18-Bitten-Gebets ist?
Auf zwei Kirchentagen wurde mit jüdisch-christlichen
Feiern experimentiert, die gemeinsam von Juden und Christen zu einem bestimmten
Thema erarbeitet wurden. Ich persönlich halte dies auch heute noch
für eine angemessene Form gemeinsamen Gotteslobs. Allerdings wurde
das Experiment nicht fortgeführt. Stattdessen hat sich die "AG
Juden und Christen beim DEKT" über Jahre hinweg überhaupt
von solchen Gottesdiensten ferngehalten, wohingegen die Katholiken auch
beim ökumenischen Kirchentag in Berlin kein Problem hatten, einen
christlich-jüdischen Gottesdienst in der herkömmlichen Weise
zu feiern.
Hier ist gegenwärtig tatsächlich weiter nach
Formen zu suchen, die gemeinsame religiöse Feiern ermöglichen.
Eine Alternative hierfür kann nicht einfach die Teilnahme am Gottesdienst
bei dem je anderen sein. Ein Kompromiss könnte eine "multireligiöse
Feier" sein, die jeweils gesonderte Teile aus der je eigenen Tradition
enthält. Dem kann sogar von jüdisch-orthodoxer Seite zugestimmt
werden. Ich persönlich will aber weiter nach der Form suchen, die
ein gemeinsames Gotteslob ermöglicht.
Christliche Feiern mit jüdischen Inhalten
Ein weiteres Problemfeld sind christliche liturgische
Feiern, die Elemente aus dem Judentum aufnehmen oder sie gar ganz übernehmen.
Was ursprünglich aus der Idee geboren wurde, auf diese Weise Schülerinnen
und Schülern aber auch in Gemeindefeiern der ganzen Gemeinde eine
Information über das Judentum und die christlichen Wurzeln im Judentum
zu geben, wurde bald hinterfragt. Einmal lautete der Vorwurf, hier werden
jüdische Traditionen nachgespielt. Man solle sich einmal vorstellen,
in jüdischen Kreisen werde das Abendmahl nachgespielt. Zum anderen
kam der Vorwurf der Enteignung: Durch die Nachahmung einer Pessachfeier
werde z.B. diese Tradition in das Christentum herübergeholt.
Im Arbeitskreis ist über diese Fragen mehrfach kontrovers
diskutiert worden. Vor allem war unklar, wie eigentlich die Beteiligung
von jüdischen Mitgliedern bei solchen Feiern sich auswirke.
Israel und Nahost
Zu Israel und Nahost kann ich heute im Jahr 2006 nicht
viel anderes schreiben, als was ich im Materialdienst 1988 aus Anlass
des 50-jährigen Bestehens Israels als Vorwort einer Sondernummer
des MD geschrieben habe:
"50 Jahre besteht der Staat Israel, ein junges
Staatswesen eines alten Volkes. Es wurde gegründet nach der Erfahrung
tiefster Gottesfinsternis, für die bis heute kein wirklich passendes
Wort gefunden wurde, nach Holocaust, Schoa. Unfassbar war die Brutalität
der Judenvernichtung während des "Dritten Reiches", unfassbar
und ein Wunder, dass trotz dieser Vernichtung ein jüdischer Staat
entstehen konnte, geprägt von der nie erloschenen Zionssehnsucht.
Nur schwer ist die Besonderheit dieser Staatsgründung
zu erfassen. Schnell ist sie gedanklich eingebettet in die Schablonen
des Nationalismus des letzten und dieses Jahrhunderts. Schnell ist sie
gleichgesetzt mit der Entwicklung von nationalem Selbstbewusstsein,
wie es in vielen Völkern im letzten und in diesem Jahrhundert entstanden
ist. Tatsächlich spielt das nationale Erwachen der Völker
auch eine Rolle bei der Entstehung des Zionismus. Einerseits entdecken
jetzt auch Juden ihre eigene Identität als Volk, fragen nach ihren
Ursprüngen, nach Zeiten staatlicher Existenz, nach ihrer Heimat.
Andererseits sprechen sie von einer Zeit, die den modernen Nationalbegriff
noch gar nicht kannte, wissen sich als Volk, das in den neuzeitlichen
Beschreibungen von Völkern und Rassen nicht einzuordnen ist. Denn
Juden fühlen sich nicht nur dem Volk Gottes zugehörig, sondern
meistens auch den Völkern und Nationen, in denen sie leben.
Doch diese Frage ist neu, war in Zeiten, als kein Staat
sich mit einem einzigen Volk identifizierte, überhaupt nicht zu
stellen gewesen. Dass sich der Zionismus tatsächlich als moderne
Nationalbewegung durchsetzen konnte, dazu bedurfte es noch eines äußeren
Anlasses: des modernen Antisemitismus. Waren in früheren Jahrhunderten
die Judenverfolgungen christlich und wirtschaftlich motiviert, bekam
die Judenfeindschaft im Antisemitismus nun eine andere Qualität:
Die Angehörigen des jüdischen Volkes wurden nun als Fremdkörper
in einer Volksgemeinschaft definiert. Und von dieser Überzeugung
zur Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von Juden war es nicht mehr
weit.
So war die antisemitisch motivierte Dreyfußaffäre
in Paris für den Journalisten Theodor Herzl ein Schlüsselerlebnis,
das ihn bereits in Osteuropa entwickelte Gedanken aufnehmen und ihn
zum Vater des modernen Zionismus werden ließ. Dass noch einmal
50 Jahre ins Land gehen würden seit dem ersten Zionistenkongress
in Basel bis zur Gründung des Staates Israel, konnte Herzl nicht
wissen. Er konnte nur sagen: "Wenn ihr wollt, ist es kein Traum".
Vor fünfzig Jahren wurde dieser Traum wahr. Dies Jubiläum
gilt es zu feiern.
Und doch tun sich viele schwer, den fünfzigsten
Jahrestag Israels zu feiern. Viele sehen in der Judenvernichtung die
Triebfeder der Gründung des Staates Israel und sehen die Palästinenser
als die Verlierer der Geschichte. Viele glauben, dass wir Christen heute
eigentlich eher auf Seiten der Palästinenser zu stehen haben. Viele
glauben, dass Israel Unrecht tut.
Tatsächlich wurde den Zionisten erst ganz allmählich
bewusst, dass sie auf ein anderes Volk stoßen würden. Noch
hatte dies nicht seine eigene Identität gefunden, noch waren die
Menschen einfach Untertanen des riesigen osmanischen Reiches. Doch auch
bei ihnen begann nun, z. T. in Korrespondenz zum jüdischen Nationalbewusstsein,
ein Nationalgefühl zu wachsen. Zunächst verstand es sich als
arabisches Nationalbewusstsein, das aber angesichts der Aufspaltung
der arabischen Welt sich veränderte zum palästinensischen
Selbstbewusstsein.
Hier mussten Spannungen entstehen, die mit der Staatsgründung
auch zum ersten israelisch-arabischen Krieg führten. Die von den
Arabern verlorenen Kriege führten zur Entwurzelung vieler Araber,
die Besetzung des Westjordanlandes und seine jüdische Besiedlung
führte zu Konflikten, die während der Intifada nur gewaltsam
unterdrückt werden konnten. So wuchs das eine Unrecht am anderen.
Und will man als Außenstehender überhaupt den Konflikt begreifen,
wird man auf diese gegenseitige Abhängigkeit der Handlungen achten
müssen. Nur weil Israel gegenwärtig die scheinbar stärkere
Macht ist, (zumindest gegenüber den Palästinensern, anders
sieht das schon aus, nimmt man die ganze arabische Welt dazu) kann man
die Palästinenser als die Schwächeren bezeichnen. Die verheerenden
Anschläge der Hamas sprechen aber daneben eine andere Sprache.
Vor allem aber gilt es folgendes zu beachten. Der Staat
Israel ist der einzige Staat im Nahen Osten, der als Demokratie gegründet
wurde, dessen Volk seine Regierungen wählt und abwählt. Bei
der Auseinandersetzung mit politischen Entscheidungen Israels ist es
also wichtig, nicht das Volk mit seiner Regierung zu verwechseln. Gewiss,
als der Friedensprozess noch lebte, als noch nicht der Mord an Premierminister
Jizchak Rabin alle Hoffnungen zunichte zu machen drohte, war es leichter,
über Israel zu sprechen und sich mit ihm zu solidarisieren.
Aber auch wenn man viele politische Entscheidungen Israels
nicht nachvollziehen kann, bleibt es doch dabei: Dieser Staat ist ein
Zufluchtsort für Juden aus aller Welt. Und angesichts von immer
wieder neu aufkeimendem Antisemitismus ist seine sichere Existenz notwendig
wie eh und je.
In diesem Sinne gehen unsere guten Wünsche nach
Israel. Wir hoffen, dass diesem Volk eines Tages gemeinsam mit seinen
arabischen Nachbarn eine Zeit des Friedens blüht, die über
alle kulturellen und religiösen Schranken hinweg die Völker
verbindet."
Mitglieder des Arbeitskreises haben im Sommer 2005 Demonstrationen
gegen den Rückzug aus dem Gazastreifen miterlebt. Jerusalem war orange,
Farbe der Gegner des Rückzugs. Wenn auch die Motive Scharons durchaus
verschieden gedeutet werden können, wieder hat ein Staatsmann versucht,
einen Teil eines besetzten Landes zurückzugeben. Man möchte
dies als Hoffnungszeichen nehmen, wenn auch die Wirklichkeit, während
ich dies hier schreibe, schon wieder ganz anders aussieht. Nun fallen
wieder Hunderte von Raketen auf Israel, sind israelische Soldaten entführt
worden, bombardiert Israel Ziele im Gazastreifen und im Libanon. Menschen
auf beiden Seiten werden getötet. Extremisten spielen auf der Klaviatur
des Volkszorns. Ein Frieden scheint weiter weg denn je.
Fortbildung
Die Tagungsarbeit des Arbeitskreises ist alle Jahre hindurch
recht intensiv gewesen, ohne die Tagungen von "Lomdim" mitzurechnen.
Bis zur Abschaffung des Buß- und Bettages fanden jährlich die
sogenannten Bußtagstagungen statt, von Mittwochabend bis Freitagmittag,
in der Hoffnung, vor allem die Pfarrer/innenschaft ansprechen zu können,
da ja kein Sonntag betroffen ist. Leider kam diese Zielgruppe eher selten,
stattdessen kamen i.d.R. die an der Thematik sowieso Interessierten.
Außerdem gab es immer wieder den Wunsch, im Arbeitskreis
selbst stärker thematisch zu arbeiten. Daraus sind über viele
Jahre hin die Studientage geworden, die schließlich in einige externe
Tagungen übergingen.
Da die Wochenendtagungen immer wieder einmal unter der
Frage der Zielgruppe diskutiert wurden, die für den Ev. Arbeitskreis
Kirche und Israel ja vor allem die Pfarrerschaft und Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau sind, suchte man nach
Formen, die dieser Zielgruppe die Teilnahme ermöglicht. Daraus entstanden
die Studientage, die nach wie vor durchgeführt werden.
Die Themenvielfalt ist enorm, ohne dass man sagen könnte,
es hätte über die Jahre eine wesentliche thematische Entwicklung
gegeben. Am ehesten kann man dies noch zu der Frage der "Theologie
nach dem Holocaust" sagen, da diese Frage besonders Ende der siebziger
und Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts aktuell war.
Allerdings ist die Frage der Theologie nach Auschwitz auch jetzt noch
immer wieder zu diskutieren und könnte auch in einer Tagung wieder
aufgenommen werden.
Grob lassen sich ansonsten die Tagungen in folgende Themenbereiche
aufteilen:
Kennen Lernen des Judentums
Christlich-jüdischer Dialog
Gedenken und Holocaust
Israel und Nahost
Antisemitismus/Antijudaismus
Judenmission
Bei Themen zum Judentum ging es zunehmend nicht mehr um
Erstinformation, sondern um eine Vertiefung des schon vorhanden Wissens,
etwa zum Talmud oder zur Halacha.
Schluss
An den Diskussionen um den Gottesdienst kann man exemplarisch
deutlich machen, wie sich der christlich-jüdische Dialog im Laufe
der Jahrzehnte verändert hat. Zunächst einmal ging es darum,
dem Judentum zu begegnen. Viele Informationen wurden über das Judentum
gegeben, auch in gottesdienstlicher Form, auch gemeinsam mit jüdischen
Partnerinnen und Partnern. Für sie hatte es durchaus einen Sinn,
jüdische Texte in einem gemeinsamen Gottesdienst zu lesen, um der
Gemeinde die Lebendigkeit des Judentums vor Augen zu führen. Ähnliche
Intentionen standen auch hinter Vortragsreihen und auch auf dem Kirchentag.
Sehr bald aber reichte das nicht mehr aus. In den Diskussionen
ging man über die bloße Information hinaus, fragte nach dem
theologisch Verbindenden und Trennenden. In der Bibel suchte man nach
den Texten, die Gemeinsames zum Ausdruck bringen und neigte dazu, Texte
mit problematischem Inhalt wegzulassen bis hin zu dem Bedürfnis,
diese Texte aus der Bibel zu eliminieren.
In dem Moment aber, wo man die christlichen und die jüdischen
Aussagen in ihrer Unvereinbarkeit ernst nahm, dass z.B. der christliche
Messiasglaube von Juden nicht angenommen werden kann, wurden unversehens
ganz andere Fragen aktuell, die gemeinsamen Gottesdienste wurden problematisiert,
nach dem Gemeinsamem im Trennenden wurde gefragt.
Schließlich: Was mich anficht
Vielleicht sollte ich dankbar sein. Wir haben in den vergangenen
30 Jahren oder, nehmen wir die gesamte Zeit des Arbeitskreises, in den
über 50 Jahren viel erreicht und bewegt:
Wir haben eine Fülle von Gottesdienstmaterialien
für einen Gottesdienst "in Israels Gegenwart" vorgelegt
und für einen nicht antijüdischen Gottesdienst Hilfestellung
gegeben.
Wir konnten mithelfen, dass der Grundartikel unserer Landeskirche
ergänzt wurde. Wir haben sehr viele Menschen nach Israel begleitet
und ihnen Land, Leute und Probleme gezeigt.
Wir geben einen Materialdienst heraus, der jede/n Interessierte/ten
breit über Fragen zum christlich-jüdischen Dialog und zu Israel
und Nahost informiert.
Und doch frage ich mich nach so vielen Jahren: Was haben
wir eigentlich erreicht? Bin ich zu unbescheiden? Vielleicht, aber eines
macht ficht mich nun wirklich an: Dass in diesen Tagen jüdische Gemeinden
christliche Kirchen bitten müssen, sich gegen Judenmission und Proselytenmacherei
zu wenden. Kaum kamen wieder mehr Juden ins Land, schon sind sie wieder
da, die behaupten, wir dürften den Juden doch das Beste nicht vorenthalten,
was wir haben: die Erlösung in Jesus Christus.
Wenn ein Jude tatsächlich Christ werden will, wird
man ihm gewiss keinen Stein in den Weg legen. Dass aber die Verheißungen
Israels nach wie vor gültig sind, das sollte jede Mission überflüssig
machen.
Gerade las ich in einer Predigtmeditation von Gerhard
Bauer, die wir 1978 veröffentlichten, folgende kleine Anekdote, eine
Beobachtung in Los Angeles:
"In der Auseinandersetzung der Stoßstangen-Theologen'
fiel erweckten christlichen Gruppen, die in Jesus die Wahrheit gefunden
hatten, der bündige Slogan ein: WE FOUND IT. Diesen Aufkleber auf
der Stoßstange fuhren sie durch die Stadt. Jüdische Gruppen,
nicht weniger bündig und auch nicht nur witzig, klebten und fuhren
dagegen: WE NEVER LOST IT".24
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
(Anmerkungen)
1 Weg und Wahrheit Nr 34, 23. 8. 1981, S. 4+5+18
2 Bertolt Brecht, Kriegsfibel, 1955
3 vgl. Karla Wolff, Ich blieb zurück, Schriftenreihe des Arbeitskreises
Heft 6
4 Joseph Klausner, "Jesus von Nazareth - Seine Zeit, sein Leben und
seine Lehre" Jerusalem 1952 S. 493
5 Rosemary Ruether, Nächstenliebe und Brudermord - die theologischen
Wurzeln des Antisemitismus, München 1978
Krister Stendahl, Der Jude Paulus und wir Heiden - Anfragen an das abendländische
Christentum, München 1978
6 vgl. Friedrich Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus
dem Juden - Eine Christologie Bd 2 München 1991 v.a. § 11 Vom
Bleiben Jesu von Nazareth S. 416ff
7 zitiert nach: Der Landesverband der israelitischen Kultusgemeinden in
Bayern Nr. 65/ März 1995 S. 21- 24
8 Johann Baptist Metz in Günther B. Ginzel ed., Auschwitz als Herausforderung
für Juden und Christen, hier: Podiumsdiskussion Johann Baptist Metz,
Friedrich Heer, Joachim Beckmann, Yehoshua Amir, Günther Bernd Ginzel:
Glaube und Widerstand nach Auschwitz S. 175f
9 Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau ed., Israelsonntag
1978 - 10. n. Trinitatis - 30. Juli S. 47ff
10 Elie Wiesel, Die Nacht, Gütersloh, 1980, S. 87f
11 Barbara U. Meyer, Christologie im Schatten der Shoah - im Lichte Israels
- Studien zu Paul van Buren und Friedrich-Wilhelm Marquardt, Zürich
2004, vgl. v.a. IV Zur Problematik der Zusammenschau von Kreuz'
und Auschwitz': Der Tod es einen und der Mord an Millionen S. 130ff
12 Johann Baptist Metz, Annäherungen an eine Christologie nach Auschwitz,
Franz-Delitzsch-Vorlesung 2004, Münster 2005 S. 10f
13 zitiert nach F.W. Marquardt, Israel
14 vgl Rosemary Ruether, Nächstenliebe und Brudermord, Einleitung
von Peter v.d.Osten-Sacken
15 zitiert nach Barbara Meyer: Paul van Buren, Christ in Context, New
York 1988 S. XIX
16 vor dem Arbeitskreis vorgetragen am 28. April 2006
17 Marianne Lebrecht, Verschweigen oder Kämpfen, 2001
18 aaO S. 47
19 Meine frühere Gemeinde in Ffm-Hausen war z.B. DC-geführt
und wurde unter dem Führer-Prinzip geleitet. Erst spät haben
wir in die Akten geschaut. Haben wir auch die Gemeinde zur Umkehr geführt?
20 Silke Alves in: Gabriele Kammerer, Wie hältst du's mit dem Judentum
- Christliche Suchbewegungen im Gespräch, 2003 S. 175
21 ZEIT Nr. 25, 14. Juni 2006 S.2
22 Baal Schem Tov (17. Jhdt)
23 vgl. meine Ausführungen in: Gemeinsame christlich-jüdische
Gottesdienste? Analysen, Beispiele, Vorschläge, Heft 12 der Schriftenreihe
des Arbeitskreises ab S. 22
24 Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau ed., Israelsonntag'78
- 10. n. Trinitatis - 30. Juli S. 45
zur Titelseite
zum Seitenanfang
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