Urteil statt Vorurteil. Heute:
Gesetzesfrömmigkeit
von Klaus-Peter Lehmann

Christen charakterisieren die jüdische Religion häufig unter dem Stichwort "Gesetzesfrömmigkeit". Das ist abwertend gemeint. Man stellt sich vor, das Leben frommer Juden sei mit einer Unzahl von Verboten und Vorschriften umstellt, die zu befolgen eine schwere Last sei. Unter ihr könne man nur seufzen und auf Gerechtigkeit durch fromme Werke hoffen. Besonders lutherische Christen wittern hier einen religiösen Mangel im Unterschied zur eigenen Gerechtigkeit durch Glauben.

Zu diesem falschen Gegensatz verleitet schon das deutsche Wort "Gesetz", welches an Zwang und nicht an Freiheit erinnert. Mit ihm wird das hebräische Wort "Tora" übersetzt, das besser mit "Weisung" wiedergegeben wäre. Es meint: Weisung für ein von aller Sklaverei freies Leben, Einweisung in Gerechtigkeit: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhause, herausgeführt habe; du sollst keine anderen Götter haben neben mir (2. Mose 20,2.3). Als Tora werden auch die 5 Bücher Mose bezeichnet, weil sie Gottes Weisung an sein erwähltes Volk Israel enthalten. Israel, von Gott aus der Sklaverei befreit, soll seiner Weisung gemäß leben, den Völkern ein Beispiel geben und so das Leben gewinnen (5. Mose 30,15ff).

Christen unterscheiden zwischen Evangelium und Gesetz. Oft setzen sie das Alte Testament mit dem Gesetz gleich und das Neue Testament mit dem Evangelium, das Gesetz mit dem Judentum und das Evangelium mit dem Christentum. Der Irrtum klärt sich, wenn wir den Unterschied ins Auge fassen. Das Gesetz, besser die Weisung, meint die aktuell geforderte Gerechtigkeit, Evangelium die verheißene Gerechtigkeit (Röm. 1,1.2). Es geht um den Unterschied zwischen dem, was ich heute tun kann und muss, und dem, woran ich trotz aller widrigen Umstände glauben darf; die Gerechtigkeitsforderungen des Tages und die Hoffnung auf eine gerechte Zukunft für alle Menschen (Reich Gottes). So betrachtet erweisen sich obige Gleichsetzungen als unbegründet. Alltagsforderungen und Verheißungen finden wir im Alten wie im Neuen Testament. Juden und Christen leben von beidem.

Das Neue Testament enthält eine Fülle von Geboten. Dem reichen Jüngling, der nach dem ewigen Leben fragt, antwortet Jesus mit dem Hinweis auf die Gebote vom Sinai (Mark. 10,17-22). Jesus gibt seiner Gemeinde ein neues Gebot, das dem alten, das ihr von Anfang an hattet, gleich ist (1. Joh. 2,7-11). Jakobus schreibt: So ist der Glaube, wenn er nicht Werke hat, in sich selbst tot (Jak. 2,17). Ebenso ist das Alte Testament voll von froher Verheißungsbotschaft. Dem Abraham verheißt Gott: Mit deinem Namen werden sich Segen wünschen alle Geschlechter der Erde (1. Mose 12,3). Seinem Volk Israel verheißt Gott Frieden, dass er mit ihm einen endgültigen Völkerfrieden herbeiführen werde (Jes. 2,1-5; Sach. 9,9).

Auch im Alten Testament steht das Evangelium vor dem Gesetz, Israels verheißungsvolle Befreiung aus der Sklaverei vor der Übergabe der Gebote am Sinai. Diese sind also keine Bürde, sondern eine die ehemaligen Sklaven als verantwortungsbewusste Menschen auszeichnende Würde, keine Last, sondern Freude der Befreiten, in freier Verantwortung für den Nächsten leben zu dürfen. Einmal im Jahr feiern Juden den Tag der "Gesetzesfreude" (Simchat Tora = Freude an der Weisung). An diesem Tag werden die Schriftrollen aus dem Toraschrein genommen und tanzend und singend durch die Straßen getragen.

Die vielen minutiösen Weisungen des Talmud, z.B. zur Einhaltung des Sabbatgebotes (5. Mose 5,11-15), dienen ausschließlich dazu, die Zwänge der Arbeit wirkungsvoll zu begrenzen und unser Leben praktisch für die Freiheit der Gotteskinder offen zu halten. Der Sabbat ist ein Tag der Freude und des Vergnügens. Essen, Trinken, geschlechtliche Liebe neben dem Studium der Bibel und religiöser Schriften waren immer kennzeichnend für die jüdische Sabbatfeier (E. Fromm). Die Unterwerfung des menschlichen Lebens unter die Arbeit ist nicht ewig. Denn der Mensch ist nicht für die Arbeit da, sondern die Arbeit für den Menschen. Das alttestamentliche, jüdische Sabbatgebot ist kein einengendes Gesetz, sondern frohe Botschaft eines Lebens in freier Freude für alle Menschen. Es sind drei Vorzeichen der messianischen Zeit: Sabbat, Sonne und Beischlaf (babylon. Talmud).

Zwei Zitate, wie das "Gesetz" im Judentum verstanden wird und auch im Christentum verstanden werden kann:
"Die Geschichte des Judentums legt davon Zeugnis ab, wie alle diese Satzungen ein Element der Lebensfreude waren; man durfte von der Seelenlust sprechen, die sie erwecken. Das Wort von der "Freude am Gebot" wurde auch auf sie angewandt, und die Erfahrung jedes Geschlechtes hat es immer wieder bestätigt; nur immer, die das nicht besaßen und nicht kannten, die Außenstehenden haben soviel von der "Last des Gesetzes" gesprochen. Die jüdische Frömmigkeit hat allezeit dieses Frohe gehabt, so sehr sie auch stets den Gedanken des Gebotes und des Dienstes betonte" (Leo Baeck, Das Wesen des Judentums).

Auch Luther konnte mit dem Sabbatgebot argumentieren. Aus einem Brief, in dem er Melanchthon vor Überarbeitung warnt:

"Veste Koburg, 12. Mai 1530. Aber Du höre, was ich vor allen Dingen will. Denke daran, dass Du Dir, meinem Beispiel nach, Deinen Kopf zugrunde richtest. Deshalb will ich Dir und allen Freunden befehlen, dass sie Dich unter Exkommunikationsandrohung unter Regeln zwingen, die Deinen Leib erhalten, damit Du nicht zum Selbstmörder wirst und danach vorgibst, dass dies aus Gehorsam gegen Gott geschehen sei. Denn man dient Gott auch durch Nichtstun, ja durch keine Sache mehr als durch Nichtstun. Deshalb nämlich hat er gewollt, dass vor anderen Dingen der Sabbat so streng gehalten werde. Siehe zu, dass Du dies nicht verachtest. Es ist ein Gottes Wort, was ich schreibe."

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