Späte Aufklärung
Was über Jahrzehnte hinweg nur als "Verstrickung" kritisiert wurde, lässt sich inzwischen für viele deutsche Unternehmen konkret belegen - sie machten mit dem NS-Regime gemeinsame Sache.
von Matthias Arning

Vielleicht hat der damalige Kanzler Helmut Kohl an diesem 12. März 1990 in Bonn etwas geahnt. Vielleicht konnte er sich im Gespräch mit dem britischen Außenminister Douglas Hurd im Zusammenhang mit der angestrebten Vereinigung der beiden deutschen Staaten vorstellen, dass es historisch Unerledigtes gab. Kohl fürchtete die Wucht, die sich mit dem Ende der Erstarrungen von Osteuropa aus entfalten könnte: Wenn jetzt eine Debatte "über Reparationen beginne", heißt es im Protokoll des Gesprächs mit dem konservativen Briten, "werde das katastrophale Wirkungen haben".

Acht Jahre später fanden sich entsprechende Forderungen auf der politischen Tagesordnung der größer gewordenen Bundesrepublik. Ansprüche, die sich in einem bis dahin nicht gekannten Umfang an deutsche Unternehmen richteten. Frühere Zwangsarbeiter wollten entgangenen Lohn. Das traf die meisten Unternehmen völlig unvorbereitet. Allenfalls etwas weitsichtigeren Konzernen wie Volkswagen, die das eigene Archiv nicht nur an Jahrestagen aufschließen, war zu diesem Zeitpunkt klar, dass nach dem Ende des Kalten Krieges ein neuer Schritt der Aufarbeitung bevorstehen könnte - im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Ausbeutungspolitik.

Es war eine Zeit der Entzauberung. Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus machten sich Historiker daran, die Geschichte des Nationalsozialismus neu zu schreiben. Plötzlich gelang es, den hartnäckigen Mythos von der unbedingten Neutralität der Schweiz zu relativieren, den Glauben an die saubere Wehrmacht zu zerstören und das Ausmaß der Zwangsarbeit etwa bei VW offen zu legen. Einige größere Unternehmen verstanden, dass sie sich in einer Stiftungsinitiative zusammenschließen sollten, um die Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter zu einer kollektiven Anstrengung der deutschen Wirtschaft zu machen. Zum Schluss aber, nach der späten Akzeptanz materieller Ansprüche dieser Opfergruppe, standen die Firmen mit den Versäumnissen der Vergangenheit wieder allein, denn es mangelte an systematischen Geschichtserzählungen, an Unternehmensgeschichten eben.

In den Chroniken der meisten deutschen Firmen blieb die Zeit zwischen 1933 und 1945 ein blinder Fleck. Das machte es Kritikern vergleichsweise einfach, den Unternehmen "Verstrickungen" vorzuhalten. Eine Zuschreibung, die über mehr als fünf Jahrzehnte hinweg im Ungefähren blieb. "Verstrickung" konnte auch heißen, dass sich einzelne Manager, Ausnahmen also, im nur schwer zu überschauenden Geflecht des nationalsozialistischen Staates verfangen hatten. Erst in den vergangenen Jahren brachten Nachforschungen zumeist unter dem Druck eines drohenden öffentlichen Imageverlustes Konkretes an den Tag und ließen auch die Zuschreibung von Verantwortung zu.

Seitdem weiß man, dass Bertelsmann entgegen eigener Darstellungen antisemitische und völkische Schriften verbreitete, also Propaganda machte; dass die Degussa zunächst nur mit dem Regime kooperierte, sich späterhin aber auch der Mittäterschaft schuldig machte; dass Philipp Holzmann sich ohne Zwangsarbeiter überhaupt nicht in großem Umfang am Bau des Westwalls hätte beteiligen können; und dass die Dresdner Bank und der nationalsozialistische Staat nach der jetzt vorgelegten Untersuchung "partners in crime", eine Art kriminelle Vereinigung gewesen sind.

Diese oft mit viel Liebe zum Detail aufgeschriebenen Geschichten der Entzauberung tragen gegenwärtig dazu bei, Übergänge zu zeigen: Vom ethisch begründeten Handeln des Unternehmers bis hin zu Verfehlungen jenseits jeder Moralität. Sie verschaffen einen Eindruck davon, wie plötzlich sich solche Prozesse vollziehen. Doch diese Geschichten enden jetzt noch 1945. Von den Übergängen in die junge Bundesrepublik und den damit einhergehenden Problemen einer auf wirtschaftliche Expansion und kollektives Vergessen zielenden Nachkriegsgesellschaft berichten sie allerdings nicht mehr.

Frankfurter Rundschau, 17.2.2006

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