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Israelische und palästinensische Lehrer arbeiten an einem gemeinsamen
Geschichtsbuch und suchen dabei die Annäherung
von Joachim Göres
Ein Dutzend Lehrer sitzt am Tisch des Braunschweiger Instituts
für internationale Schulbuchforschung und blättert in Papieren.
Die Hälfte von ihnen sind Israelis, die andere Palästinenser,
die in Schulen der Westbank unterrichten. Vor ihnen liegen einige Manuskripte
für ein gemeinsames Geschichtsbuch, an dem sie seit vier Jahren arbeiten.
Es ist gedacht als Gegenentwurf. Als Alternative zur herkömmlichen
Unterrichtslektüre, in der von "islamischen Terroristen"
ebenso die Rede ist wie von "zionistischen Aggressoren" - je
nach Konfliktseite. Aufmerksam studieren nun in Braunschweig die Israelis,
was die palästinensischen Lehrer für das gemeinsame Buch über
die Zeit um 1920 aufgeschrieben haben. Die wiederum befassen sich eingehend
mit den israelischen Entwürfen. In vielen Texten wimmelt es am Ende
von Fragezeichen und Schlangenlinien, mit denen die Pädagogen unklare
Formulierungen kennzeichnen.
So auch bei der palästinensischen Lehrerin Sahar
aus Hebron. Gerade hat sie ein Kapitel über die Balfour-Deklaration
von 1917 gelesen, die den Juden nach der Eroberung Palästinas durch
Großbritannien Hoffnungen auf die Errichtung eines eigenen Staates
machte. Neben der sprachlichen Form stören sie inhaltliche Punkte.
"Die Israelis schreiben, dass die Briten in den 20er Jahren auf Seiten
der Palästinenser standen, aber genau das Gegenteil war der Fall.
Außerdem wird die Landnahme einseitig dargestellt und nichts über
die Aufstände der Palästinenser gesagt, das geht so nicht",
findet Sahar.
Ein gemeinsames Geschichtsbuch für israelische und
palästinensische Kinder - wie soll das angesichts solch unterschiedlicher
Betrachtungsweisen gehen? Ganz einfach. Das fanden zumindest Mitarbeiter
des Peace Research Institute in the Middle East (PRIME) im palästinensischen
Beit Jallah, das 1998 vom israelischen Sozialpsychologen Dan Bar-On und
dem palästinensischen Erziehungswissenschaftler Sami Adwan gegründet
wurde, um das Verständnis zwischen Israelis und Palästinensern
zu fördern. Ihr Vorschlag: Machen wir einfach drei Spalten auf jeder
Seite. Links lässt sich lesen, wie Israel die Geschichte der Region
betrachtet, rechts findet sich die palästinensische Perspektive.
Die mittlere Spalte bleibt leer. Hier können die Schüler eintragen,
was sie von den beiden Positionen halten.
In dem Kapitel über den Sechs-Tage-Krieg liest sich
das dann so: "Der Sechs-Tage-Krieg begann am 5. Juni 1967 und endete
am 10. Juni 1967." Mit diesem Satz beginnt die israelische Version.
Die palästinensische Fassung leitet dagegen der folgende Satz ein:
"Der Krieg, den Israel gegen die arabischen Länder im Juni 1967
startete, ist unter dem Namen ,Die Aggression vom 5. Juni' bekannt geworden,
weil Israel den Krieg erklärte und mit den Angriffen startete."
Die Balfour-Deklaration von 1917, die Staatsgründung
Israels von 1948 und der darauf folgende erste arabisch-israelische Krieg,
der Sechs-Tage Krieg von 1967 - über diese und weitere zentrale Ereignisse
der jüngsten Geschichte gibt es zwischen Israelis und Palästinensern
keinen Streit. Anders sieht es bei der Interpretation aus, wie der israelische
Lehrer Eyal Keren zugibt: "Unterschiedlicher Meinung sind wir häufiger
bei der Bewertung und der sprachlichen Darstellung. Wir sprechen etwa
von arabischen Israelis, unsere Kollegen von Palästinensern, die
in Israel leben." Letztlich entscheidet jede Seite für sich,
wie ihre Version der Geschichte im künftigen Schulbuch aussieht -
unterschiedliche Sichtweisen aber werden zumindest nicht verschwiegen.
Keren: "Wir haben bislang zahlreiche kritisierte Passagen geändert,
weil wir die Sicht unserer Nachbarn durch den jahrelangen Kontakt nun
besser verstehen."
Ein Verständnis, dass bei jedem Lehrertreffen auf
eine neue Probe gestellt wird. Am ersten Tag in Braunschweig berichtet
eine Palästinenserin von einem Unfall mit einem israelischen Militärfahrzeug
vor einigen Tagen. Seitdem humple sie. Andere Lehrer konnten den Zwiespalt
- die täglich erlebte Gewalt in der Heimat und das Bemühen um
Verständigung mit den netten Kollegen - nicht aushalten und haben
das Projekt verlassen.
Die Mehrheit hat durchgehalten und erreicht, dass in einigen
Schulen in Israel und Palästina die ersten gemeinsam erarbeiteten
Kapitel schon eingesetzt werden - meist unter der Hand, weil die Widerstände
von Seiten des Staates, aber auch von Schulen und Eltern groß sind.
Kernfrage aber ist: Wie reagieren die Schüler selbst? Palästinensische
Lehrerinnen berichten, Mädchen seien offener als Jungen, sich auf
die israelische Perspektive einzulassen. Dabei kritisieren auch sie vieles
an der israelischen Sichtweise. Dennoch sei bei einigen der Wunsch gewachsen,
israelische Schülerinnen zu treffen, die ebenfalls mit dem Buch arbeiten.
Das ist bislang nur ein kleiner Hoffnungsschimmer. Denn ein Großteil
der Schüler lehnt die in Israel verbreitete Sicht schlicht als Propaganda
ab. Und auf der israelischen Seite sieht es gegenüber der palästinensischen
Version nicht anders aus - auch wenn Lehrer auch hier immer wieder auf
Interesse an der "anderen" Sichtweise stoßen. Der mögliche
Grund: Je weiter sich der Konflikt zwischen den Völkern verschärfe,
so wie jetzt durch den Krieg im Libanon, um so stärker reagierten
beide Seiten auf die Perspektive des Nachbarn mit Ablehnung - auch das
ist eine gemeinsame Erfahrung der Lehrer in Braunschweig.
Bislang, so klagt der Israeli Yitzhak Komem, ignorierten
viele Schüler und zum Teil auch Lehrer die Hintergründe für
den israelisch- arabischen Konflikt. Das Desinteresse sei groß,
anstatt Faktenwissen dominierten Vorurteile. Indem sich in den gemeinsamen
Geschichtsbüchern nun beide Perspektiven wiederfänden, würden
einige Schüler dazu gebracht, ihre Haltung zu überdenken. "Ich
kann nur versuchen, dafür zu sorgen, dass der ,Feind' nicht in beleidigender
Form beschrieben, sondern im Klassengespräch als menschliches Wesen
angesehen wird. Meine Hoffnung ist, dass Schüler, die frei von Komplexen
der Unter- oder Überlegenheit sind, ihren vermeintlichen Gegner als
gleichrangig wahrnehmen und als Partner betrachten, um einen langen Konflikt
zu überwinden", so Komem.
Trotz der neuen Gewaltwelle im Nahen Osten bleiben die
Pädagogen zuversichtlich. "Es gab schon schwierigere politische
Bedingungen als den jetzigen Konflikt und die haben wir mit unserem Projekt
auch überstanden", sagt Khalil Bader, Lehrer an einer staatlichen
Schule in der Westbank. "Auch wenn in Krisenzeiten die Bereitschaft
für einen anderen Blick auf die eigene Geschichte schrumpft: Es gibt
dazu keine Alternative", sagt Bader. "Die Schüler bei uns
und in Israel wissen so gut wie nichts über ihre Nachbarn und diese
Ignoranz können wir uns gerade in Palästina nicht leisten, wenn
wir nicht isoliert bleiben wollen."
Bader wird seine israelischen Kollegen in der Arbeitsgruppe
übrigens auch in Zukunft treffen, um mit ihnen ein Lehrerhandbuch
zu entwickeln. Das soll Pädagogen helfen, das neue Schulbuch einzusetzen.
"Was mache ich, wenn meine Schüler über die Texte der anderen
Seite sagen: ,Das sind nur Lügen?'", wollte eine Lehrerin bei
der Besprechung des Lehrerhandbuchs wissen. Eine Patentantwort konnte
ihr niemand geben.
Frankfurter Rundschau, 8. August 2006
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