Aus eigener Kraft
Rabbiner-Ordination in Dresden nach über 60 Jahren
von Micha Brumlik
Die Ordination dreier Absolventen des Abraham-Geiger-Kollegs
in der Dresdner Synagoge zeigt vor allem eines: Das Judentum ist eine
Weltreligion und nicht - wie gerade in letzter Zeit immer wieder unterstellt
- eine Außenstelle des Staates Israel und seiner Regierungen. Weltreligionen
sind Glaubensweisen, zu denen sich, unabhängig von ihrer ethnischen
oder nationalen Herkunft, alle Menschen folgenreich bekennen können.
Das war im Judentum seit der Antike nie anders. Jüdinnen und Juden
sind ihrer Geburt nach zum Glauben berufen, Nichtjüdinnen oder Nichtjuden
treten mit ihrer Konversion dem Bund vom Sinai bei.
Religiöse Organisationen aber bedürfen zum Vollzug
liturgischer Handlungen und zur Auslegung ihrer reichhaltigen Lehre sowie
zur Verkündigung ihres Glaubens eines besonders gebildeten Personals.
Im Judentum, das sich seit der Zerstörung des Zweiten Tempels historisch
herausgebildet hat, waren das die "Rabbanim", die Rabbiner,
seit dem frühen 20. Jahrhundert auch Rabbinerinnen. Die Gestalt des
Rabbiners ist aus der Sekte der Pharisäer beziehungsweise dem Stand
der Schriftgelehrten entstanden. Die Rabbanim haben das aus der Kaste
der Kohanim rekrutierte Tempelpriestertum abgelöst, das seither nur
noch eine nebensächliche liturgische Rolle spielt.
Mit der Institution des Rabbinats ist seit dem zweiten
Jahrhundert eine Geistlichkeit entstanden, die sich strikt unterschied
von dem zunächst bis in die Reformationszeit durchhaltenden christlichen
Priestertum. Das Judentum kennt keine liturgisch gerahmten Glaubensgeheimnisse,
keine Sakramente und bedarf somit auch keines besonders geheiligten Personals.
Daher werden Rabbiner im Unterschied zu Priestern nicht geweiht, sondern
ordiniert, also in einem öffentlich nachvollziehbaren Verfahren gesegnet
und feierlich in ihr Amt eingeführt.
Das Judentum ist als Glaube einer sich in Gottes Weisungen
erfüllenden Lebensform stets darauf angewiesen, die Vorgaben der
Tora mit den Realitäten konkreter jüdischer Existenz zu vermitteln.
Daher war die verbindliche Auslegung der Weisung und die erbauliche Deutung
der Geschichten Israels auf eine immer größere Gelehrsamkeit
angewiesen. Rabbiner waren also zunächst Rechtsgelehrte, wobei in
spätantiker, talmudischer Zeit Recht und Glaube noch nicht voneinander
abgegrenzt waren.
Im Babylonischen Talmud, im Traktat Sanhedrin, ist aufgeführt,
nach welchen Verfahren zum Richten legitimierte Mitglieder des großen
Rats berufen wurden. Ein Gremium dreier älterer Ratsmitglieder, von
denen mindestens einer selbst die Befugnis zum Richteramt haben mußte,
sprach schließlich die Ordinierungsformel: "Darf er entscheiden?
Er darf entscheiden! Darf er richten? Er darf richten! Darf er gestatten?
Er darf gestatten!" Die diasporische Existenz des Judentums im Laufe
von beinahe zweitausend Jahren erzwang es beinahe, dass dem Rabbinat über
das religiöse Richten hinaus auch Aufgaben politischer und geistiger
Gemeindeführung zuwuchsen; zudem blieb es in den mystischen Strömungen
gerade des ostmitteleuropäischen Judentums nicht aus, dass charismatische
Rebbes als quasi göttliche, messianische Mittlergestalten verehrt
wurden und werden. Emanzipation und Assimilation des aschkenasischen Judentums
im 19. Jahrhundert führten schließlich zu einer formalen Angleichung
rabbinischer Bildung an die professionalisierte, akademische Ausbildung
vor allem protestantischer Theologen. Dagegen genügt das noch heute
in manchen Teilen der Orthodoxie übliche unstrukturierte Talmudlernen
in einer Jeschiwa, an dessen Ende die von drei Rabbinern erteilte Smicha
steht, den Ansprüchen einer modernen geistlichen Gemeindeführung
weder in seelsorgerlicher noch in theologischer Hinsicht. Diese Art des
Studiums leidet zudem darunter, dass das von jedem sich "Jeschiwa"
nennenden Lehrhaus ausstellbare Zertifikat "Rabbiner" nicht
bewertbar ist. Denn dort existieren oft weder Studiengang noch Studienplan
und können so von den Abnehmern, den Gemeinden, nicht überprüft
werden.
Mit der feierlichen Dresdner Ordination schließt
das neue deutsche Judentum nicht nur an die von den Nationalsozialisten
zerstörte europäisch-jüdische Kultur an, sondern erklärt
seine geistige Unabhängigkeit. Beides - Zugehörigkeit zu einer
Weltreligion und besondere regionale Verankerung - bedingt einander. Das
war den Rabbanim, denen wir nicht von ungefähr einen Jerusalemer
und einen Babylonischen Talmud verdanken, von Anfang an klar.
Jüdische Allgemeine, 14.9.2006
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