Wenn nicht jetzt, wann dann?
Warum es wichtiger ist, im Moment zu leben als auf die Erlösung zu
warten
von Rabbiner Gershon Winkler
Ich staune jedes Mal, wenn ich mir die apokalyptischen
Lehren ansehe, die auf die ältere jüdische Überlieferung
zurückgehen. In der früheren jüdischen Tradition sind sie
sehr positiv und optimistisch - im Gegensatz zu anderen Traditionen, einschließlich
der jüdischen aus späteren Zeiten.
In der hebräischen Bibel, im Talmud und im Midrasch
finden wir zahlreiche messianische Verheißungen: Zum Beispiel die
des Ewigen Lebens. Wonne und Freude werden sich einstellen, Kummer und
Seufzen entfliehen. Nie mehr wird lautes Weinen und lautes Klagen zu hören
sein (Jesaja 25,8, 35,10 und 65,19), stattdessen Gesang (Midrasch Schemot
Rabbah 16,2). Gott wird alle Trauer in Jubel verwandeln (Jeremia 31,12).
"Die Herrlichkeit des Herrn währe ewig, und der Herr freue sich
seiner Werke", heißt es in den Psalmen (104,31).
Gott wird sich mit seiner gesamten Schöpfung freuen.
Es wird eine solche Freude, wie man sie seit Beginn der Zeit nicht erlebt
hat (Midrasch Tanchuma, Kapitel 38). Die Sonne der Gerechtigkeit wird
aufgehen. Auf der Erde wird ein Fluß aus der göttlichen Quelle
fließen. Das Wasser wird aus Jerusalem kommen und der ganzen Natur
Heilung bringen (Ezechiel 47,9). An beiden Ufern des Flusses werden alle
Arten von Obstbäumen wachsen. Auch der Baum des Lebens und der Baum
der Erkenntnis werden dort Früchte tragen. In der messianischen Zeit
wird auch kein Blut mehr vergossen und die Tiere werden nicht mehr geschlachtet.
Gott schließt für Israel an jenem Tag einen Bund mit den Tieren
des Feldes und den Vögeln des Himmels und mit allem, was auf dem
Erdboden kriecht und in den Meeren lebt. Dann werden Menschen allen Glaubens
im Frieden leben. Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim
Böcklein. Niemand wird mehr etwas Böses und keiner ein Verbrechen
begehen (Jesaja 11, 6-9). Gott wird Bogen und Schwert zerbrechen, es wird
keinen Krieg mehr im Land geben. "Er läßt sie Ruhe und
Sicherheit finden" (Hosea 2,20). Was für verlockende Aussichten
- insbesondere in diesen Tagen von Krieg und Terror.
Das erhoffte Ereignis der Ankunft des Messias ist jedoch
oft zweit- oder sogar drittrangig, verglichen mit den magischen Phänomenen
des alltäglichen Lebens im Hier und Jetzt. Ein Rabbiner des ersten
Jahrhunderts, Jochanan ben Sakkai, formulierte es so: "Wenn du gerade
beim Pflanzen bist, und man sagt dir, der Messias sei gekommen, pflanze
erst fertig und dann geh und begrüße den Messias" (Babylonischer
Talmud, Awot D'Rebbe Natan, 31,2). Andere antike und frühmittelalterliche
Lehrer rieten davon ab, Zeit mit dem Versuch zu verschwenden, den genauen
Zeitpunkt des Endes aller Tage herauszufinden: "Närrisch sind
die, die über den Zeitpunkt der Erlösung nachdenken", lehrte
Rabbi Nathan im zweiten Jahrhundert. "Denn das einzige was sie bewirken,
ist, dass sie an der Erlösung zweifeln, weil sie nicht zu dem errechneten
Zeitpunkt eintrat. Und so verursachen sie, dass die Erlösung nie
eintreten werde. Man muß warten, denn es steht geschrieben: ,Wenn
es sich verzögert, so warte darauf'" (Habakuk," 2,3).
Den gleichen Standpunkt vertrat sein Zeitgenosse Rabbi
Abba Areicha, der lehrte, dass "jeder errechnete Zeitpunkt, an dem
die große Erlösung kommen sollte, bereits verstrichen ist.
Daher können wir nichts anderes tun, als uns mit Taten der Liebe
und Güte zu beschäftigen und danach zu streben, besser zu werden"
(Babylonischer Talmud, Sanhedrin 97b). Ein anderer Weiser des zweiten
Jahrhunderts, Rabbi Eliezer ben Schimon, ging noch weiter und schwor,
kein rechtmäßiger Messias werde kommen, solange es in Israel
weltliche Regierungen gebe (Babylonischer Talmud, Sanhedrin 98a).
Andere Rabbiner spekulierten, dass der Messias sicher
nicht am Schabbat oder an einem Feiertag kommen werde, weil die meisten
Juden dann zu sehr mit den Festvorbereitungen beschäftigt seien (Babylonischer
Talmud, Eruvin 43b). "Wertvoller ist ein einziger Augenblick positiven
Strebens und die Verwandlung des eigenen Selbst in dieser Welt",
lehrte im dritten Jahrhundert Rabbi Jakov, "als eine Ewigkeit der
kommenden Welt" (Pirke Awot 4,17).
Solche Lehren beabsichtigten offensichtlich die Messias-Manie
zu dämpfen, die in der verworrenen Zeit der unbarmherzigen römischen
Besatzung und Unterdrückung den Menschen stark beeinflußte.
Auch heute mahnen diese Lehren uns, die Kostbarkeit des Augenblicks in
unserem Alltag zu schätzen und ihn nicht zu verschwenden. Das Leben
wird immer schneller und dabei wird es immer schwerer sich auf den Moment
zu konzentrieren. In der ununterbrochenen Jagd nach der Zukunft bemerken
wir oft nicht den Segen der Gegenwart.
Diese Lehre, dass man den Moment leben muß, statt
nur auf den Messias zu warten, sollte unsere Aufmerksamkeit von der obsessiven
Beschäftigung mit der Angst vor der globalen Zerstörung ablenken.
Wenigstens so lange, dass wir Zeit finden, uns des Lebens zu freuen und
es zu feiern. Das von indianischen oder christlichen Überlieferungen
prophezeite Armageddon, das Ende aller Tage, das drohende jüngste
Gericht, sollte nicht für bare Münze genommen werden. Schauen
wir lieber auf die positiveren Prophezeihungen des Judentums. Die jüdische
Neigung, das Leben von der positiven Seite zu betrachten, wuchs trotz
Jahrtausenden voller Tragödien und Hoffnungslosigkeit. Heute sollten
wir lernen - wie es unsere Propheten lehren - auf eine bessere Zukunft
zu hoffen und das Gute in der Gegenwart nicht zu verpassen.
Jüdische Allgemeine, 17.8.2006
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