Urteil statt Vorurteil: Heute:
Pharisäer
von Klaus-Peter Lehmann

Bis in unsere Umgangssprache hinein gelten Pharisäer als solche, die das Leben einer starren und unmenschlichen Gesetzlichkeit unterwerfen. Religiös stehen sie für unbedingtes Festhalten am Buchstaben des Gesetzes. Scheinheilig sondern sie sich ab, um religiöse Vorteile sicher zu stellen. So gilt ein Pharisäer als mitleidlos selbstgerechter Heuchler. Hier weitet sich ein antijüdisches Vorurteil zu einer infamen Erklärung über die Herkunft des Bösen, das angeblich dem gesetzlich Religiösen entstammt, dem pharisäischen Judentum. Deutlich wird: Wer von pharisäerhaften Menschen redet, verbreitet unausgesprochen und meist unbewusst das Vorurteil, das Selbstgerechte und Böse komme aus dem Judentum. Den Grund für diesen antisemitischen Wahn haben die christlichen Kirchen gelegt. Hier galten die pharisäischen Juden weithin als diejenigen, die aus religiöser Blindheit Christi Kreuzigung vorangetrieben haben, als Gottesmörder. Damit waren sie als teuflisch böse abgestempelt und faktisch für vogelfrei erklärt. Wer dieses Vorurteil bekämpft, "arbeitet an einer menschheitsgeschichtlich bedeutsamen Berichtigung mit." (Buber).

Mit Blick auf die Geschichte des jüdischen Volkes kann die Bedeutung des Pharisäertums kaum überschätzt werden. Das Institut eines Gottes- und Lehrhauses für das Volk, die Synagoge, und die Überlieferung einer offen diskutierten Tora-Auslegung im Talmud, die Schriftgelehrsamkeit, gehen auf die pharisäische Bewegung zurück. Beides hat das Überleben des Judentums in den Jahrhunderten ohne politische Selbständigkeit ermöglicht.

Pharisäer (hebr.: Peruschim) bedeutet: Getrennte, Abgesonderte. Gemeint ist die Sonderung, die sich in der Völkerwelt einstellt, wenn Israel das ihm auferlegte Heiligkeitsgebot (3 Mose 19,2) befolgt. Eine Auslegung erläutert: "Heilig, das will sagen: abgesondert von den Völkern und ihren Greueln." Als Greuel gelten der Bibel Götzendienst und moralische Verfehlung (5 Mose 12,29-32; Jer 7,1-11). Als im 4. Jahrhundert v. d. Z. das jüdische Leben hellenisiert zu werden drohte, lehnten sich viele Juden in den Makkabäerkriegen erfolgreich auf (Makkabäerbücher). Damals entstand die Bewegung der gelehrten Pharisäer, die sich von der Partei der Sadduzäer, der Priesteraristokratie, unterschied. Diese wollten das Überleben Israels machtpolitisch sichern durch Folgsamkeit gegenüber den Herrschenden und Vermeidung von Unruhe im Land. Die Pharisäer glaubten, das Bundesvolk könne nur überleben in der Treue zur Bundesverpflichtung, durch den Gehorsam des ganzen Volkes gegenüber den Geboten Gottes. Unter der hellenistischen und römischen Fremdherrschaft spitzte sich der Konflikt zwischen den beiden Parteien zu. Der Bestand des jüdischen Herrscherhauses und die Treue des Volkes zum Tempeldienst in Jerusalem sicherte in den Augen der Sadduzäer die Zukunft Israels. Als Glaubenszeugnis reichte ihnen die geschriebene Tora. Die Pharisäer hielten die mündliche Lehre hoch, die Auslegung der Gebote für verschiedenste Situationen (Halacha). So erhielten sie den Willen Gottes, damit wir alle Worte dieses Gesetzes erfüllen (5 Mose 29,29), im Volk lebendig. Ihre konsequent toratreue Ablehnung des Götzendienstes brachte die Pharisäer immer wieder in feindseligen Konflikt mit der Obrigkeit der Besatzungsmacht. Sie standen z.B hinter den Massenprotesten, als Pilatus Fahnen mit dem Bild des Kaisers nach Jerusalem holen wollte und als eine Menschenmenge den römischen Adler vom Tempelportal hinabschleuderte. Auch im Alltag sollte jeder Jude den Anschein einer Verbeugung vor einem Götzenbild vermeiden. Wenn einem vor eienm Götzen ein Dorn im Fuß sitzen bleibt, so darf man sich nicht bücken, um ihn zu entfernen, weil es den Anschein hat, als bücke man sich vor einem Götzen; sieht man es nicht, so ist es erlaubt (Babyl. Talmud, aboda zara 12a).

Die in den Synagogen ständig praktizierte Diskussion um die Auslegung der Tora verband das Volk auf die Dauer mit ihr. Demgegenüber hatten die Sadduzäer die Tora faktisch auf ein starres Ritualgebot reduziert, deren Mitte der Opferkult im Tempel war. Folgerichtig verschwanden sie nach der Zerstörung Jerusalems (70 n. d. Z.) und dem Verlust jeglicher politischer Autonomie von der geschichtlichen Bühne. Die seit dem 4. Jahrhundert v. d. Z. von den Pharisäern gegründeten Lehrhäuser (Synagogen) bewährten sich um so mehr als das erhaltende Lebenszentrum des weltweit zerstreuten jüdischen Volkes.

Diese geschichtliche Entwicklung entspricht dem Gefälle, das die Tora vorgibt, dem unmissverständlichen Primat des Gehorsams vor dem Opferkult: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer (Hos 6,6; Mt 12,7; s.a. Ps 40,7f; Jer 7,22f; Am 5,21-25). Ihm entsprechend widmeten sich die Pharisäer der akribischen Erforschung der Schrift für alle Einzelheiten des Lebens. Ihre vielfältigen Auslegungen bildeten einen Zaun um die Tora. Differenzen, die unvermeidlich auftraten, überliefert der Talmud unentschieden und wertet sie als Streitkultur zum Ruhme des Himmels. Doch galt den Pharisäern das Gebot der Nächstenliebe (3 Mose 19,18) als die verbindende Mitte aller Einzelauslegungen. Der Talmud ist das Kompendium dieser Jahrhunderte umfassenden Auslegungsdiskussion.

In der pharisäischen Konzentration auf die Heiligung des Lebens, auf die Erkenntnis Gottes in seinen Geboten, ist Israel von allen Völkern unterschieden. Unbedingter Gehorsam dem Allerhöchsten gegenüber als Unmöglichkeit, sich der Verantwortung dem Nächsten gegenüber zu entziehen (2 Mose 22,22f; Jer 22,16; 1 Joh 4,20). So erscheint die starre Gesetzlichkeit, die das Vorurteil in die Pharisäer hineinprojiziert, als das negative Spiegelbild einer als unbedingt empfundenen ethischen Verpflichtung gegenüber dem Mitmenschen.

In ihrer Konzentration auf Heiligung und Gerechtigkeit formt die pharisäische Lehre eine allgemeine, menschheitliche Zukunftshoffnung, die Auferstehung der Gerechten (2 Makk 7,9; Luk 14,14; Apg 24,15), das Reich Gottes. Denn nur im Kreise einer von Götzen dienenden und ethisch laxen Heiden geschiedenen Gemeinschaft kann die Heiligung, der sittliche Ernst, auf dem die Zukunftshoffnung ruht, aufrechterhalten werden. "Alle Zukunftshoffnung hing davon ab, daß man die Welt des Judentums umgrenzte" und inmitten der heidnischen Welt "wie auf einer Insel" (Leo Baeck), an der Zukunft einer gerechten Menschheit im Geist der Tora festhielt.

Das Neue Testament steht in innerer Verwandtschaft zur pharisäischen Tradition. Jesus wird wiederholt als Rabbi angeredet (Mark 9,5; 11,21; Joh 3,2), Paulus sagt von sich, dass er in der "Sorgfalt (griech.: akribeia = Akribie) des väterlichen Gesetzes erzogen sei" (Apg 22,3), als strenger Pharisäer lebe (Apg 23,6; 26,4) und wegen der pharisäischen Hoffnung der Auferstehung der Gerechten verfolgt werde (Apg 23,6; 24,15.21). Jesus lehrt, dass die Lehre der Pharisäer zu befolgen sei. Seine Kritik meint ein von ihrer Lehre abweichendes Handeln (Mt 23,3). Insofern fordert er von seinen Jüngern eine "bessere Gerechtigkeit", aber auch für ihn ist bei der Auslegung jedes Jota im Gesetz zu beachten (Mt 5,18-20). Die pharisäische Heiligkeitsforderung legt Jesus so aus: Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist" (Mt 5,48).

Pharisäische Frömmigkeit kennt wie die Bibel keinen Lohn für die Befolgung der Gebote. Der Gehorsam erarbeitet keine Verdienste. Der lutherische Vorwurf der Werkgerechtigkeit ist abstrus. Es gibt eine Teilhabe an den Verdiensten und Verheißungen, die von den Vätern erworben wurden. Wer sich im Sinne der Tora heilig hält, den Geboten selbstlos, d.h. ohne Schielen auf eigenen Gewinn, gehorcht, tut nichts als seine Pflicht. Er hat nichts verdient, sondern er nimmt teil an einer vor ihm errichteten Bundesgemeinschaft, die für alle Menschen Verheißungsvolles enthält. Die gute Tat allein um des Nächsten willen, hat ihren himmlischen Lohn in sich.

Das Neue Testament verkündet, dass Heidnischstämmige im Glauben an den Messias Jesus von Nazareth zu Mitbürgern der Menschheitsverheißungen des Bundes werden können (1 Mose 12,3; 17,5; Röm 4,16f), ohne auf den Zaun der Tora, alle Zeremonialgesetze, verpflichtet zu sein (Eph 2,11-22). Paulus schwebt die Versöhnung von Juden und Heiden, der Völkerfriede vor. Für ihn ist die christliche Gemeinde, die Kirche Jesu Christi, die im Geist der Tora, der Nächstenliebe, zusammenlebende Gemeinschaft zwischen Juden und Heiden, die konkrete Gestalt der angebrochenen endzeitlichen Völkerversöhnung (Kol 3,5-17). Dabei ist zu beachten: Die Nächstenliebe ist für Pharisäer, Jesus und Paulus die Mitte der Tora (Mark 12,28-34; Röm 13,8-10). Der Leib Christi ist die Gemeinschaft der versöhnten Völker, versöhnt im messianischen Geist Jesu, in welchem die von den Pharisäern hoch gehaltene Nächstenliebe für alle Völker wirksam wird.

Zitate zum Stichwort Pharisäer

Zur Bedeutung der Pharisäer:
"Neben oder auch über den Gottesdienst im Tempel, dessen Verrichtung den Priestern vorbehalten war, haben sie mit klarer, fordernder Bestimmtheit den Gottesdienst gestellt, den das ganze Volk in seinen Synagogen durch das Gebet und die Beschäftigung mit der Bibel selbständig zu eigen gewinnen konnte." (Leo Baeck, Die Pharisäer)

Zur Unterscheidung bzw. Trennung Israels von den anderen Völkern:
"Inmitten alles dessen, womit die babylonische Kultur anzog, mussten sie sich diesen Bereich, diese Gemeinde gestalten. Nur in einem Umkreise des Geschiedenen konnten sie innerlich gesichert bleiben, konnten sie sich erhalten als die, die sie sein sollten, damit sie in Babylon seien und doch im Judentum ... Alle Zukunftshoffnung hing davon ab, daß man die Welt des Judentums umgrenzte und dadurch wahrte, daß man um ihretwillen inmitten der neuen Welt entschlossen war in einer Gemeinde, fast könnte man sagen, wie auf einer Insel zu leben. Die Getrenntheit musste zum Grundsatz gemacht werden." (Leo Baeck, Die Pharisäer)

Zur Mitte der Tora und zum Unterschied zu allen anderen (= heidnischen) Religionen:
"Es gibt keine Religion, welche die Ethik ganz überginge, eine jede appelliert daran, doch die Religion neigt auch dazu, das eigentlich Religiöse darüberzustellen und zögert nicht einmal, das Religiöse von den moralischen Verpflichtungen zu `befreien´. Dass aber das Religiöse seinen Zenit in der ethischen Bewegung hin zum anderen Menschen erreicht, dass die Nähe Gottes untrennbar mit der ethischen Umwandlung der sozialen Verhältnisse verquickt ist und dass sie mit dem Verschwinden von Knechtschaft und Herrschaft in der sozialen Struktur selbst koinzidiert, das sagt uns die Fortsetzung des Prophetentextes: `Dies ist ein Fasten, an dem ich Wohlgefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!´" (E. Levinas zu Jes 58 in: Anspruchsvolles Judentum)

Zum Lohngedanken:
"Der Lohn der guten Tat ist die gute Tat." (Babylonischer Talmud, Sprüche der Väter IV,2).
"Heil dem Manne, der den Ewigen fürchtet und seine Gebote sehr begehrt (Ps 112,1) - seine Gebote und nicht den Lohn für seine Gebote." (Babylonischer Talmud, Aboda sara 19a).
"Habet acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; wo nicht, so habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater in den Himmeln." (Matthäus 6,1).
"Unsere alten Weisen haben gesagt: Sollte vielleicht jemand sagen: ich will die Tora lernen, damit ich reich werde, oder damit man mich Rabbi nenne, oder damit ich Lohn im zukünftigen Leben erhalte - dann ergeht an ihn das Wort: dass du liebest den Ewigen. Und das will sagen: Alles, was ihr tut sollt ihr nur aus Liebe tun." (Maimonides).

Wer an einer weiterführenden Lektüre interessiert ist, dem sei der ca. 30 Seiten umfassende Aufsatz von Leo Baeck "Die Pharisäer" empfohlen.

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