Ist Gott weiblich?
USA: Die Reformbewegung präsentiert eine Tora mit Frauenkommentar
von Jacob Berkman
Wie viele Menschen wissen, daß die Schilderung von
Abrahams Trauer um Sarah die einzige Stelle in der gesamten Tora ist,
wo ein Mann um eine Frau trauert? Oder daß Adam und Eva ihre Sünde
gemeinschaftlich begingen? Und wer weiß, daß Frauen am Bau
des Tempels maßgeblich beteiligt waren?
Viel zu wenige, meinen die Reformrabbiner. Aus diesem
Grund wird die Reformbewegung in Kürze einen Kommentar zur Tora herausgeben,
der die weibliche Sicht wiedergibt. 80 Bibelgelehrte, Archäologinnen,
Rabbinerinnen, Kantorinnen, Theologinnen und Dichterinnen, die das gesamte
religiöse Spektrum vertreten, wollen die Bibel von einer neuen Perspektive
aus betrachten. The Torah: A Women's Commentary (Die Tora: Ein Frauenkommentar)
ist ein Projekt von Women of Reform Judaism (WRJ), der Frauenorganisation
der Bewegung. An ihm sind ausschließlich Frauen beteiligt.
"Das Ziel ist, den Stimmen von Frauen Gehör
zu verschaffen", sagt Shelley Lindauer, Direktorin von WRJ. "Die
Geschichte der Tora wurde von Männern geschrieben. Was die Frauen
zu sagen hatten, wurde in den Hintergrund gedrängt. Wir möchten
mehr davon hören, was die Matriarchinnen sagen."
Das Buch wird erst nach der WRJHauptversammlung der Union
for Reform Judaism (URJ), die im Dezember 2007 in San Diego (Kalifornien)
stattfindet, erscheinen, doch bereits dieser Tage präsentiert die
Reformbewegung ein Kapitel daraus. In der vergangenen Woche, als die Parschat
Chaje Sarah gelesen wurde, nahmen etwa 250 Reformgemeinden - insgesamt
etwa 5.000 Menschen - an einem Studienprojekt teil, das auf dem Frauenkommentar
basiert.
WRJ und URJ Press, die das Buch herausbringen, haben aus
dem 1.500seitigen Band ein Kapitel herausgelöst, damit die Gemeinden
sich im Schabbatgottesdienst damit beschäftigen können. Zusammen
mit dem Text wird eine Liste mit Diskussionsvorschlägen geliefert.
Die Gestaltung des Kommentars unterscheidet sich von herkömmlichen
Büchern dieser Art. Jedem Kapitel geht eine Übersicht voran.
Es folgt der hebräische Text mit einer linearen Übersetzung
und ein Hauptkommentar einer der 80 Mitwirkenden. Nach jedem Hauptkommentar
steuert eine zweite Wissenschaftlerin einen kurzen Gegenkommentar bei,
der einen abweichenden Standpunkt zu dem besprochenen Abschnitt darlegt.
Eine weitere Autorin liefert eine postbiblische Interpretation. Jedes
Kapitel schließt mit einer zeitgemäßen Überlegung
zur Parascha.
Eine Auswahl literarischer Beiträge nach jeder Parascha
- zumeist Gedichte - spiegelt die Themen der vorher gelesenen Texte wider.
Mehr als die traditionellen Kommentare wird sich der neue Band auf solche
Stellen im Text der Tora konzentrieren, in denen Frauen vorkommen oder
wo ihr Fehlen eklatant ist, sagt Mitherausgeberin Tamara Cohn Eskenazi.
Im Wochenabschnitt Chaje Sarah trifft Abrahams Sklave
Rebekka und bittet ihre Familie darum, sie nach Kanaan mitzunehmen, damit
sie Isaak heiratet. Der Frauenkommentar betont die Tatsache, daß
Rebekka ihre Einwilligung gibt. Von ihrem ersten Erscheinen in der Tora
an ist Rebekka eine aktive Figur, heißt es im Kommentar.
"Traditionell waren die Kommentatoren immer Männer,
und ich bin überzeugt, daß die weibliche Perspektive zur Interpretation
beiträgt und die Botschaft der Tora auf eine Art vermittelt, die
sich von der männlichen Perspektive unterscheidet", sagt Rabbiner
Jerome Epstein, der Vizepräsident der United Synagogue of Conservative
Judaism.
Einem ausschließlich weiblichen Kommentar bringt
er allerdings eine gewisse Skepsis entgegen. Genauso, meint Epstein, wie
er einem ausschließlich männlichen Kommentar mit Mißtrauen
begegnen würde. "Wir brauchen Kommentare, die männliche
und weibliche Stimmen vermengen", sagt der Rabbiner.
Die Unterschiede zwischen den Kommentaren zeigen sich
gleich am Anfang bei der Schöpfungsgeschichte. Die Erschaffung der
Frau ist eine der am häufigsten fehlgedeuteten Passagen der Bibel
und voller kultureller Voreingenommenheit, erläutert Eskenazi in
ihrer Interpretation, die im Frauenkommentar zu lesen sein wird.
Die Schilderung der Erschaffung Evas aus einer Rippe Adams
wird allgemein als Zeichen der Minderwertigkeit Evas gedeutet, doch, so
Eskenazi, zeigt sich darin eher ihre Gleichheit. Denn beide seien aus
dem gleichen Fleisch, "als Abbild Gottes", geschaffen. Beide
sollen fruchtbar sein und sich die Erde untertan machen. Als sie die Sünde
begehen und von der Frucht essen, tun sie es auch zusammen.
Ein Aufsatz von Elizabeth Bloch-Smith setzt sich mit der
Parschat Trumah auseinander, in der geschildert wird, wie die Israeliten
nach dem Auszug aus Ägypten den Mischkan bauen. Zwar sagt der Text
nichts über das Geschlecht der Handwerker, doch gewöhnlich wird
davon ausgegangen, daß es Männer waren. Nicht so die Archäologin.
Wie Ausgrabungen aus jener Zeit belegen, war das Weben und Spinnen zu
einem großen Teil Sache der Frauen. Bloch-Smith schließt daraus,
daß es Frauen waren, die das Garn für das Versammlungszelt
des Tempels herstellten.
Die Arbeit an dem Buch begann vor dreizehn Jahren, als
die Kantorin Sarah Sager die Reformbewegung aufforderte, ein solches Vorhaben
umzusetzen. "Wir versuchen nicht, einen Midrasch zu machen. Wir lesen
den Text sehr genau und schenken jenen Abschnitten größere
Beachtung, die in anderen Kommentaren weniger auftauchen", sagt Bloch-Smith.
Jüdische Allgemeine, 23.11.2006
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