"Wir sind ein bisschen verrückt"
Die Judaistin Tal Ilan arbeitet an einem "feministischen Kommentar"
zum Talmud
Talmud ist Männersache - das stand für jüdische
Schriftgelehrte lange Zeit fest. In ihren Lehrhäusern diskutierten
die Männer bis tief in die Nacht; die Frauen mußten draußen
bleiben. Gegen Anfang des 7. Jahrhunderts entstand die Endfassung des
Babylonischen Talmuds, der die wichtigsten Dispute zusammenfaßt
und kommentiert. Was sagt der Talmud über die Rolle der Frau im Judentum?
Tal Ilan, Professorin für antikes Judentum am Institut für Judaistik
der Freien Universität Berlin will es genauer wissen. In einem weltweit
bisher einmaligen Projekt, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft,
arbeiten sie und ihre Mitarbeiterinnen an einem "feministischen Kommentar"
zum Babylonischen Talmud.
Frau Ilan, wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein
solches Mammutprojekt in Angriff zu nehmen?
ilan: Ich beschäftige mich schon jahrelang mit der
Stellung der Frau in antiken jüdischen Quellen, und dazu gehören
natürlich auch die beiden Werke, die man als den zweiten jüdischen
Kanon bezeichnen kann, die Mischna und der babylonische Talmud. Ich glaube,
daß die Stellung der Frau in diesen beiden Werken besonders wichtig
ist, weil sie viele Generationen lang die Stellung der Frau im Alltag
beeinflußt hat.
Der Talmud wurde von Männern für Männer
geschrieben. An wen richtet sich der feministische Kommentar?
ilan: Der Talmud ist ein riesiges Dokument. Auch wenn
Männer diese Bücher verfaßt haben, so gibt es trotzdem
viele Stellen, die für Frauen relevant sind. Wir wollen eine neue
Perspektive geben, mit einer Sensibilität dafür, was es für
die Frauen bedeutet, was Männer über sie sagen.
Der Babylonische Talmud hat sechs Ordnungen. Sie haben
sich entschieden, als erstes die Ordnung "Moed" (Festtage) zu
kommentieren. Warum nicht die Ordnung "Naschim" (Frauen)?
ilan: Wir haben uns für einen Kommentar zur Ordnung
"Moed" entschieden, weil jüdische Feste eine klare Indikation
dafür sind, was ein Jude ist. Was muß er oder sie feiern, welche
Rituale soll er oder sie begehen, inwiefern sind Frauen auch dazu verpflichtet?
Mit Hilfe dieses Textes können wir versuchen, die Frage zu beantworten:
Gelten jüdische Frauen im Talmud wirklich als Juden oder Jüdinnen?
Und - was glauben Sie?
ilan: (lacht) Teilweise. Es gibt kein festes Gesetz dafür.
Aber man kann im allgemeinen sagen, daß jüdische Frauen im
Talmud nicht als genauso jüdisch angesehen werden wie jüdische
Männer. Da gibt es einen großen Geschlechter-Unterschied.
Vergangene Woche fand an der Freien Universität
eine Konferenz zu Ihrem Projekt statt. Motto war das hebräische Talmud-Zitat
"Af Hen Haju Be Oto- Hanes" - auch SIE, also die Frauen, sind
Teil des Wunders (etwa der Befreiung aus Ägypten) gewesen. Judith
Hauptman, Professorin für Talmud und rabbinische Kultur am Jewish
Theological Seminary in New York, zieht dieses Zitat als Beweis für
ihre Theorie heran, der Talmud sei weniger patriarchalisch als man denkt.
Denn laut diesem Zitat würden auch Frauen an Pessach angewiesen,
die vier vorgeschriebenen Gläser Wein zu trinken und wie die Männer
an der Seder-Tafel zu sitzen, statt in der Küche zu stehen. Wie sehen
Sie das?
ilan: Ganz anders. Ich bin der Meinung, daß der
Talmud ein sehr patriachalisches Werk ist. Dieses Zitat ist dafür
ein Beweis. Man muß es extra betonen, daß sie AUCH Teil des
Wunders waren! Ansonsten hätten wir nämlich geglaubt, daß
die Frauen keinen Anteil daran haben und nicht verpflichtet sind, die
Gebote zu erfüllen.
In welcher Tradition steht die feministische jüdische
Quellenforschung?
ilan: Ich gehe davon aus, daß die feministische
jüdische Forschung in die Fußstapfen christlicher Feministinnen
getreten ist. Aber unsere Ziele sind andere. Der Talmud ist viel größer
und komplizierter als die verschiedenen Schriften des christlichen Kanons,
und eine solche Aufgabe ist viel umfangreicher und schwieriger.
Gibt es auch eine feministische Erforschung des Koran?
ilan: Natürlich haben auch muslimische Frauen eine
Theologie. Ob es aber eine wissenschaftliche Erforschung des Korans wie
im Westen gibt, kann und will ich nicht sagen. Ich glaube, sie haben eine
viel schwierigere Aufgabe als wir. Ich möchte das nicht beurteilen
oder kritisieren.
Ihr Projekt ist ehrgeizig - Sie arbeiten mit nur wenigen
wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen. Wann sind Sie fertig?
ilan: Wir wollen einen Band für jeden Traktat der
Ordnung "Moed" herausbringen, insgesamt zwölf Bände.
Wenn wir fertig sind, wollen wir auch die anderen fünf Ordnungen
kommentieren. Das kann ewig dauern, aber so ist unser Plan. Bis 2010 wollen
wir "Moed" beenden. Geld haben wir aber nur für zwei Jahre,
vielleicht können wir für ein drittes Jahr verlängern.
Aber viele Bearbeiterinnen des Bandes werden auch danach weiterarbeiten.
Sie haben auch Forscherinnen aus den USA und Israel
verpflichtet. Haben Sie damit die Konkurrenz geschickt eingebunden?
ilan: Ich bin der Meinung, es kann kein Konkurrenzprojekt
geben. Dieses Werk ist so schwierig, so kompliziert, daß niemand
bereit ist, sich auf so eine Unternehmung einzulassen. Wir sind mutig
und auch ein bißchen verrückt, daß wir dazu bereit sind.
Das Gespräch führte Ayala Goldmann.
Jüdische Allgemeine, 8.6..2006
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