Mit dem Kamel ins Computerzeitalter
von Inge Günther
Der Wind zerrt an den Zeltplanen aus Wellblech, halb verwittertem
Nylon und Ziegenfellen. Selbst in der Negev-Wüste kann es im Winter
überraschend kühl sein. Der Alte blinzelt hoch von der Feuerstelle,
vor der er im Schneidersitz hockend den selbst angebauten Tabak schneidet.
Als hätte er auf Besuch nur gewartet, stellt er einen schwarz verrußten
Kessel mit frischem Wasser auf den Eisenrost über der Glut. Bedächtig
greift er hinter sich, zieht zwei Behälter ran und wirft mehrere
Hand voll Zucker und eine weitere Hand voll Tee in die aufkochende Brühe.
Dazu getrocknete Kräuter, ein Beduinen-Rezept zur Belebung der Sinne,
das auch gegen aufkommende Erkältung helfen soll. Es schmeckt stark,
süß und bitter.
Noch mehr hält der Alte von seinem Tabak, den er
zwischen den Fingern zur Zigarette rollt. Die Gegend hier, ein paar Kilometer
südlich von Beer Scheva, sei berühmt dafür, erzählt
er. Schon seine Großväter hätten Tabak angebaut. Zwischen
85 und 90 Jahre alt ist Ali Al-Danfiri inzwischen selbst. "Ganz genau
weiß das nur Allah", sagt er grinsend und pafft an der Selbstgedrehten.
Als er jung war, gab man wenig auf amtliche Urkunden aller Art.
Fast könnte man meinen, die Zeit sei stehen geblieben,
in diesem Beduinenzelt, in das sich bald immer mehr Vertreter aus der
Sippe der Al-Danfiri einfinden. Wenn da nicht das Handy wäre, das
unter der Dschalabijah, dem traditionellen arabischen Gewand von Alis
Neffen Farhan, hervorlugt. Das wahrscheinlich wichtigste Kommunikationsmittel
im Nomadenleben von heute. Auch der Geländewagen, der auf dem Sandhügel
draußen parkt, ist im praktischen Alltag unverzichtbar. Mehr noch
als die Kamelherde, die Farhan ebenfalls besitzt. Wenngleich er beteuert,
dass für einen Beduinen "nichts über die Beziehung zu seinen
Kamelen geht". Diese zuverlässigsten Lastträger sowie Fleisch-
und Milchlieferanten in der Wüste.
Die Al-Danfiri glauben, dass sich Beduinendasein und technischer
Fortschritt durchaus vertragen. Richtige Probleme mache ihnen nur die
Politik. Zumindest ist sie der Grund, warum ihr Dorf, Wadi Na'am, offiziell
gar nicht existiert.
Wadi Na'am liegt eine halbe Autostunde südlich von
Beer Scheva, rechts der Landstraße 40 in Richtung Rotes Meer. Aber
es ist auf keiner israelischen Landkarte als reguläre Ortschaft markiert.
An die 8000 Beduinen leben hier, allesamt Staatsbürger Israels. Einige
der Männer sind sogar hochgeschätzte Fährtenleser in der
Armee. Doch in ihrem Pass ist statt des Wohnorts nur der Stammesname registriert.
Trotzig haben daher die Clanführer den Namen Wadi Na'am auf einer
grünen Holztafel am Ortseingang gleich dreisprachig anschlagen lassen:
in arabischen, hebräischen und lateinischen Lettern.
Hussein Al-Rafar'a, Vorsteher des Rates nicht-anerkannter
Beduinendörfer, hat uns darauf aufmerksam gemacht, als er den Jeep
runter von der Landstraße in die Wildnis dirigierte. Nach ein, zwei
Kilometern über eine Schotterpiste mit ausgewaschenen Regenrinnen
und tiefen Schlaglöchern, auf der man selbst im Auto wie auf dem
Kamelrücken schaukelt, standen wir plötzlich vor einer Schule.
Der Stolz von Wadi Na'am, dem größten unter dutzenden, nicht-anerkannten
Negev-Dörfern. "Wir haben sie mit unseren Demonstrationen der
Regierung abgetrotzt", hat Al-Rafar'a gesagt. Neun Klassenstufen
sind in den buntbemalten Baracken untergebracht. Um die 2000 Beduinenkinder
kommen täglich hierher zum Unterricht. Der Schulweg ist teilweise
bis zu 50 Kilometer weit.
Auf dem eingezäunten Schulgelände flattert sogar
die israelische Flagge, wie zur Illustration der grotesken Lage. Laut
Staatsbehörden gibt es diese Dörfer gar nicht oder dürfte
es zumindest nicht geben. In der Realität sind sie Heimat für
nahezu 80 000 Beduinen. Ihr Leben spielt sich in der Grauzone der Legalität
ab. Keiner ist ans reguläre Strom- oder Wassernetz angeschlossen,
höchstens dann, wenn mal eine Leitung illegal angezapft wird. In
Ermangelung besserer Alternativen wird auch ungenehmigt gebaut. Dabei
sind Hauszerstörungen an der Tagesordnung. Man baut trotzdem, nach
der Faustregel, dass im Schnitt nur jeder zehnte illegale Bau wieder abgerissen
wird. Israel versucht nicht minder unermüdlich, mit dem Bulldozer
die Sache einzudämmen.
Al-Rafar'a hat uns von alldem auf der Fahrt durch Wadi
Na'am berichtet. Dieses Dorf vom Ausmaß einer Stadt. Ein Beduine
achtet auf nachbarschaftlichen Abstand, lässt für die Seinen
und die Tiere viel Platz. Wüstenidylle stellt sich dennoch nicht
ein. Das liegt weniger daran, dass sesshaft gewordene Nomaden viel von
billigem Rohbeton halten. Hochspannungsmasten reihen sich ungeniert mitten
durch Wadi Na'am, als ob sie ein Baumersatz wären. Die transportierte
Elektrizität lässt die Luft sirren wie ein feines Alarmsignal.
Dazu beißt einem, je nach Wetterlage, am Ostrand ein stechender
Geruch in die Nase. Israels nationale Chemiedeponie liegt vis-a-vis von
Wadi Na'am, auf der anderen Straßenseite der Route 40.
Was dort alles lagert, weiß keiner so genau. Farhan
Al-Danfiri hat den Eindruck, "dass es der Müll der ganzen Welt
ist. Nachts glaubst du, der Gestank ersticke dich noch". In der Zeltrunde
gehen Geschichten um von Frauen, die ihre Schwangerschaften verloren oder
Missgeburten zur Welt brachten, von obskuren Krankheiten, die Bewohner
aus Wadi Na'am befielen. Fest steht nur, dass die Fälle eine ganze
Reihe Anwälte beschäftigen.
"Die Israelis wollen, dass wir in ihre Städte
ziehen und ihnen das Land überlassen", meint Ali, der alte Clanhäuptling.
Seit Ende der 60er Jahre hat Israel den Beduinen sieben Fertigstädte
in die Wüste gestellt, in denen sich Haus an Haus reiht. Al-Rafar'a
nennt sie "townships". Im Schnitt verfügt eine Großfamilie
dort über 400 Quadratmeter. Das reicht nicht, um als Beduine sein
Auskommen finden zu können. Viele verdingen sich deshalb als Fabrikarbeiter
oder Lkw-Fahrer. Am Anfang war man noch euphorisch, weil in den Fertigstädten
der Strom aus der Steckdose kommt und das Wasser aus dem Hahn. Inzwischen
würde kaum einer aus den nicht-anerkannten Dörfern mit einem
aus den Fertigstädten wie Rahat oder Tel Scheva tauschen, in denen
Armut und Kriminalität herrschen.
Wie malt sich angesichts solch trister Gegenwart ein Beduinenjunge
die Zukunft aus? Für Wahib (11) steht schon fest: "Ich will
Lehrer werden, und zwar hier." Ali, der Alte, lupft seine Wollmütze,
die er als zusätzlichen Kälteschutz über die Keffijeh gestülpt
hat, um besser zu hören. Anerkennend blickt er auf seinen Urenkel.
Ihm selbst habe noch, erzählt der, "das Leben alles beibringen
müssen. Niemand hat uns geholfen. Dafür genossen wir Freiheit
und die Weite der Wüste." Wahib lächelt, ein wenig verlegen
über die Worte des Großvaters. Wahib liebt die Welt der Bücher.
Die Weite der Wüste - im Negev verliert sie sich mehr und mehr.
Eine Menge angestammtes Beduinenland ging zunächst
für Militärübungsplätze drauf. Das fing an nach dem
israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948, als die Armee per Notdekret
die verbliebenen Stämme in das territoriale Dreieck zwischen Beer
Scheva, Arad und Dimona zwang. So entstanden dort Wadi Na'am und die meisten
anderen ungenehmigten Beduinendörfer. Al-Rafar'a - und der muss es
als ihr oberster gewählter Vertreter wissen - beziffert ihre Gesamtzahl
auf 34. Die Gebiete außerhalb wurden zum Staatsland deklariert.
Auch Israels Frieden mit Ägypten ging auf Kosten der Beduinen. Um
Platz für eine neue Militär-Air-Basis zu schaffen, die bis Ende
der 70er Jahre im Sinai lag, wurden 85 000 Dunam (8500 Hektar), die Beduinen
im Negev gehörten, enteignet.
Jetzt macht ein neues Regierungskonzept, der Negev-Plan
2015, ihnen Angst. Er knüpft an die alte Vision von Staatsgründer
David Ben-Gurion an, die Wüste zum Blühen zu bringen. In der
Neuauflage mittels High-Tech-Parks sowie modernster Agrarwissenschaft.
Rund drei Milliarden Euro will Jerusalem in den nächsten acht Jahren
in den Negev pumpen, um neue Arbeitsplätze und verstärkte Ansiedlungsreize
für jüdische Israelis zu schaffen. Einer der Architekten, Haim
Blumenblat, beschrieb kürzlich, was ihm dabei vorschwebt. Bei einer
Tour durch den Negev im Jahr 2015 werde das Auge nicht mehr auf Wüstenleere
fallen, sondern auf Farmen, neue Ansiedlungen, ein Platz zum Verbleiben.
"Der Negev wird voller Israelis sein."
Nicht nur Beduinen, auch Naturschützern schwant Arges.
"Der Negev ist der letzte Platz in diesem Land, in dem sich unbegrenzter
Raum erleben lässt", lautet ihr Einwand. Der Negev, dieses riesige
Areal, das sechzig Prozent des israelischen Staatsgebietes umfasst, ist
zugleich allerdings die politische korrekte Entwicklungsalternative zum
besetzten Westjordanland.
Im Rat der nicht-anerkannten Dörfer wird das bislang
als Bedrohung, nicht als Chance begriffen. "Ich sehe nichts Gutes
für uns in diesem Negev-Plan", bekennt Al-Rafar'a. Es geht gen
Abend zu und er ist wieder zurück im zentralen Ratsbüro, das
dank der Hilfe der US-Organisation Oxfam ziemlich professionell ausgestattet
ist, mit eigenen Websites und Broschüren zur Beduinen-Problematik.
Den Plastikbecher mit frisch ausgeschenktem Tee in der Hand klickt sich
A-Rafar'a ins Internet ein, um sich über die Tagesereignisse in den
Negev-Dörfern auf dem Laufenden zu halten. Den Sprung vom Kamel ins
Computerzeitalter haben die Beduinen längst geschafft. Wie man eine
Kampagne organisiert, darauf verstehen sie sich auch. "Erkennt uns
an", fordert Al-Rafar'a an die Adresse der Israelis gerichtet, "lasst
Entwicklung in unseren Dörfern zu. Die Wüste lebt, wenn ihr
uns leben lasst."
Frankfurter Rundschau, 21.12.2006
zur Titelseite
zum Seitenanfang
|
|