Kinder Gottes im Land der Täter
Der christlich-jüdische Dialog in der Bundesrepublik Deutschland
von Gabriele Kammerer

Als keine Juden mehr in Deutschland lebten, wurden sie von den Christen entdeckt. Das Paradox bekam den Namen "christlich-jüdischer Dialog". Seine Existenz hat Gershom Scholem allerdings generell bestritten. Für den Religionshistoriker ging es schlicht um einen Mythos: "Gewiss, die Juden haben ein Gespräch mit den Deutschen versucht, von allen möglichen Gesichtspunkten und Standpunkten her, fordernd, flehend und beschwörend, kriecherisch und auftrotzend, in allen Tonarten ergreifender Würde und gottverlassener Würdelosigkeit", schrieb er 1964. "Von einem Gespräch vermag ich in alledem nichts wahrzunehmen. Niemals hat etwas diesen Schrei erwidert."

Sehr anders hatte drei Jahre zuvor die Prognose von Robert Raphael Geis geklungen. Als der Rabbiner auf dem Evangelischen Kirchentag von 1961 über seine Religion Auskunft gab, konnte die Messehalle am Berliner Funkturm die neugierigen Christen nicht fassen, die zu Tausenden gekommen waren. Ein Erstmaliges geschehe hier, sagte der jüdische Referent hoffnungsfroh: eine Begegnung nämlich nach zweitausend Jahren des Missverstehens. Sie büße ihre Bedeutung auch dann nicht ein, "wenn man an das Meer von Blut und Tränen denkt, das wir zuvor durchschreiten mussten."

Der industrielle Massenmord an den europäischen Juden ist der Ausgangspunkt eines Gesprächs zwischen Christen und Juden in Deutschland - und seine schwerste Hypothek zugleich.

Weniger als eine "Stunde Null"
Vorbilder für dieses Gespräch gab es kaum. Bisher hatten Christen in Deutschland höchstens über Juden geredet, und wenn sie einmal direkt mit ihnen gesprochen hatten, dann mit festen Vorstellungen vom Ausgang der Debatte: Im Mittelalter sollten Zwangsdisputationen die Überlegenheit des christlichen Glaubens anschaulich beweisen.

Zu einem ersten öffentlichen Gespräch auf Augenhöhe kam es im Januar 1933 zwischen dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber und dem evangelischen Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt. Das erste Gespräch war freilich zugleich das letzte: Zwei Wochen später kamen die Nationalsozialisten an die Macht.

In den folgenden zwölf Jahren waren es nicht die Kirchen oder ihre Amtsträger, die sich für die ausgegrenzten und verfolgten Juden einsetzten. Nicht einmal die "Bekennende Kirche", entstanden in Opposition zum nationalsozialistischen Staat und zur Kooperationspolitik der unentschiedenen oder der "Deutschen" Christen, ging in ihrem Engagement über die Solidarität mit getauften Juden hinaus. Nur einzelne Christen halfen Juden beim Untertauchen oder zur Flucht.

Die Ausnahme blieben Stimmen wie die von Dietrich Bonhoeffer. 1941 beobachtete der Pfarrer die beginnenden Massendeportationen von Juden und berichtete davon über den Ökumenischen Rat der Kirchen an die Alliierten. Was er sah, wurde für ihn zur Anfrage an Kirche und Theologie. Er formulierte ein Schuldbekenntnis: "Die Kirche ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten der Brüder Jesu Christi."

Hinter dieser Klarheit blieben die Stellungnahmen der beiden großen Kirchen nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft weit zurück. Von Fehlern wurde zwar geredet, bisweilen sogar von Schuld, doch weder die katholischen Bischöfe noch die evangelische Kirche wagten es im Jahr 1945, den Völkermord an den Juden beim Namen zu nennen und die eigene Schuld daran in den Blick zu nehmen.

Die Fragen, die die Kirchen bewegten, waren offensichtlich andere.

"Hat die Kirche noch etwas zu melden?" überlegte der Hamburger Bischof Tügel Ende Mai 1945 in einem offenen Brief. Erleichtert bejahte er die bange Frage: "Tatsächlich ist die Kirche die einzige Macht, die alle gefallenen Größen überdauert und - was wichtiger ist - deren Sache in erhobener Weltüberlegenheit sich selbst zu Wort meldet." Die jahrhundertealten Institutionen der evangelischen wie der katholischen Kirche hatten die Diktatur überstanden, dankbar und stolz genossen sie die Unversehrtheit von Strukturen und Besitz. Ihre Aufgabe sahen sie nun in der Seelsorge an den zerschlagenen Deutschen - und nicht etwa darin, ihnen ins Gewissen zu reden.

Damit passen die Kirchen nahtlos ins Bild einer Gesellschaft, die von der unmittelbaren Vergangenheit nichts mehr wissen wollte und die der Entnazifizierung durch die Alliierten mehr als skeptisch gegenüberstand. Überdies aber dürften die Kirchen gespürt haben, was für sie selbst auf dem Spiel stand: Der schonungslose Blick zurück auf den Massenmord an den Juden und die Frage nach dem Versagen der Christen oder ihrer aktiven Schuld hätte bedeutet, die eigene religiöse Tradition auf den Prüfstand zu stellen. Zu einer solchen existenziellen Revision aber fehlte den Christen der Mut - und die Sprache. Auf ein Gespräch mit Juden waren sie nicht vorbereitet. Theologisch ist von einer "Stunde Null" zu reden - oder besser sogar von einer "Stunde unter Null"?

Erst der Katholikentag des Jahres 1948 und die Synode der Evangelischen Kirche in Berlin-Weißensee 1950 fanden klare Worte zur christlichen Schuld. Zu der Zeit waren in Deutschland schon wieder Vertreter der jüdischen Gemeinden bedroht und zahlreiche Friedhöfe geschändet worden.

Von Nachhilfelehrern und Autodidakten
Aus diesen Vorgängen zog eine Gruppe aus Protestanten und Katholiken im Mai 1950 eine klare Konsequenz: "Es muss jedem Theologen und Religionslehrer klar werden, welche Verantwortung mit der Behandlung unseres Verhältnisses zu den Juden auf ihn gelegt ist", forderten sie am Ende einer Tagung im hessischen Bad Schwalbach. In neun Thesen fassten sie zusammen, was christliche Religionslehrer in Zukunft über das Judentum lehren - und erst einmal selbst lernen - sollten: Dass Jesus Christus Jude war, dass den Juden sein Kreuzestod nicht zur Last gelegt werden dürfe, dass der Gott des Neuen Testaments kein anderer sei als der, von dem das Alte Testament erzähle.

Die "Schwalbacher Thesen" fragten noch nicht nach dem Selbstverständnis von Jüdinnen und Juden. Hier nahmen Christen sich selbst in die Pflicht. Sie forderten dazu auf, den über Jahrhunderte gewachsenen und festgetretenen Berg christlicher Vor- und Fehlurteile abzutragen.

Diese Herausforderung blieb nicht ungehört, denn die Neuerer konnten auf ein wachsendes Netzwerk zurückgreifen. Ab 1948 waren zunächst in München, Stuttgart, Wiesbaden und Frankfurt erste "Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit" gegründet worden, weitere folgten. Seit 1950 bündelte der "Deutsche Koordinierungsrat" (DKR) ihre Arbeit.

Seine Satzungspräambel erläuterte das Prinzip dieser Arbeit: "Eine vernünftige und gerechte Ordnung in der Welt erwächst aus der Bereitschaft jedes Einzelnen, anderen das gleiche Maß an Recht und Achtung zuzugestehen, das er für sich selbst in Anspruch nimmt."

Gegenseitiger Respekt der Individuen und das friedliche Miteinander verschiedener gesellschaftlicher Gruppen - diese eher unspezifische Zielbeschreibung verrät das Vorbild, auf das die deutschen "Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit" zurückgehen. In den USA hatten sich Christen und Juden seit den 20er Jahren für die demokratische Kultur engagiert. Der dortige "National Council of Christians and Jews" (NCCJ) war das Modell, das der amerikanische Methodistenpfarrer Carl F. Zietlow im Gepäck führte, als er im März 1948 auf Einladung der US-Militärregierung nach Deutschland kam.

Nicht nur die Inhalte, auch die Struktur der amerikanischen Bewegung versuchte der Missionar in Sachen Humanismus unter den Deutschen heimisch zu machen. In den großen Städten Westdeutschlands warb er bei ranghohen Vertretern des öffentlichen Lebens um Unterstützung. Offizielle Repräsentanten sollten Träger der Idee sein - bis heute ist der deutsche Bundespräsident Schirmherr der Gesellschaften. Jede Gesellschaft sollte von einem protestantisch-katholisch-jüdischen Dreigestirn geleitet werden, ebenso der Koordinierungsrat.

Auch die "Woche der Brüderlichkeit" war eine Übersetzung der in den USA seit 1935 durchgeführten "Brotherhood Week" in deutsche Verhältnisse. Erstmals fand eine derartige Veranstaltungswoche im Herbst 1950 in München statt. Ihr Programm illustriert die Breite des Zietlowschen Ansatzes: Nach dem "Tag der Erziehung" fand ein "Tag der Konfessionen" statt, es folgten "Jugend", "Heimatvertriebene", "Film und Theater", "Frau" und schließlich die "Nationen".

Haben die Amerikaner mit diesem Feldzug gegen die Intoleranz etwa selbst die Flucht nach vorne angetreten, nachdem ihre Politik der Umerziehung und der Entnazifizierung in Deutschland gescheitert war? Und kam diese Nachhilfe in Sachen Demokratie den Deutschen nicht gerade recht bei ihrem Bemühen, ihrer Vergangenheit zu entkommen und endlich einen Schlussstrich zu ziehen?

Die Gefahr der billigen Rehabilitierungsversuche wurde innerhalb der Gesellschaften selbst durchaus gesehen. Der Vorsitzende der Frankfurter Gesellschaft, der Universitätsrektor Franz Böhm, schrieb 1949 seinen Mitstreitern eine eindringliche Mahnung ins Stammbuch. Man habe sich doch nicht zusammengeschlossen, um mittels Tagungen und Banketten "einen Teil der Deutschen vor den Reaktionen in Sicherheit zu bringen, die das Tun eines anderen Teils von Deutschen in der Welt hervorgerufen hat", erinnerte er. Nicht um das internationale Image der Deutschen dürfe es gehen, sondern um den aktiven Einsatz gegen "Antisemitismus und inhumanes Vorurteil".

Dieser Einsatz war vielen der Beteiligten ein echtes Anliegen und nicht nur ein amerikanischer Imperativ. Am Netzwerk der Gesellschaften knüpften auch Christen mit, die sich während des Dritten Reichs für Juden engagiert hatten. Der Jurist und Theologe Adolf Freudenberg etwa war in der Ökumenischen Flüchtlingshilfe aktiv gewesen und versuchte seit 1945 unermüdlich, seine evangelische Kirche mit der Frage nach ihrem Verhältnis zum Judentum zu konfrontieren. Als Pfarrer in Hessen rief er den dortigen Arbeitskreis "Kirche und Israel" ins Leben, dem zahlreiche Initiativen in anderen Landeskirchen folgen sollten. Die Gesellschaft in Freiburg im Breisgau wurde auf Initiative von Gertrud Luckner gegründet. Die Katholikin hatte die Flüchtlingshilfe der Caritas organisiert und selbst anderthalb Jahre im Konzentrationslager Ravensbrück verbracht.

Die Verständigung von Juden und Christen zu fördern, das war für die Gesellschaften in erster Linie eine gesellschaftliche Aufgabe. Ihre Aktivitäten waren eher politischer oder pädagogischer Natur. Die religiösen Dimensionen des Verhältnisses standen nicht im Mittelpunkt ihres Interesses. Wer nun allerdings vermutet, dieser Dimensionen habe sich naheliegenderweise die offizielle akademische Theologie angenommen, liegt fehl. Eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Israel stand nicht auf dem Lehrplan der Universitäten. Zu erwähnen sind höchstens die Instituta Judaica, mit denen die evangelisch-theologischen Fakultäten in Münster, Tübingen und Berlin die lebendige Vielfalt jüdischer Stimmen zu dokumentieren versuchten. In Freiburg und Duisburg untersuchten Religionspädagogen Schulbücher der Fächer Religion, Geschichte und Sozialkunde auf ihre Darstellung jüdischer Themen hin.

Es geht an die Substanz
Ein Gespräch der Religionen kam erst langsam in Gang. Lähmend wirkte das Wissen um den Gestus der Überlegenheit, den die christliche Theologie seit jeher gegenüber dem Judentum eingenommen hatte. Als sich Juden nach 1945 dennoch auf eine Begegnung einließen, taten sie dies mit einer überraschenden Begründung: "Nun haben auch Christen wieder ihre Märtyrer", formulierte der jüdische Theologe Leo Baeck. Und Robert Raphael Geis stellte fest: "Eine grausige Gottesfinsternis gibt jäh den Blick dafür frei, dass der Christ mitgemeint ist, wenn man den Juden schlägt." Eine für Christen beschämende Feststellung, waren doch die Beispiele christlicher Solidarität mit den verfolgten Juden äußerst rar - und viel zahlreicher die Gegenbeispiele von Versagen und Verrat. Doch die wenigen Ausnahmen boten Juden Anlass zur Hoffnung - zur vorsichtigen Hoffnung, in neuen Gesprächen vielleicht an ihre deutsch-jüdische Identität von vor 1933 anknüpfen zu können.Von ihrem Schwanken zwischen Misstrauen und Hoffnung berichtet die in London lebende deutsche Soziologin Eva Reichmann. Sie war im Januar 1961 nach Berlin gereist, um - zunächst als einzige Jüdin - an den Vorbereitungen für eine Arbeitsgruppe "Juden und Christen" beim Kirchentag teilzunehmen: "Es war erhebend, manchmal erschütternd, den Ernst zu erleben, mit dem diese Menschen, die meist persönlich nicht schuldig geworden waren, sondern die sogar um ihrer Gesinnung willen Schweres zu erleiden hatten, die Schuld auf sich nahmen, wie sie unter ihr litten, wie sie zu sühnen versuchten." Sie sei nicht sicher gewesen, ob es angemessen sei, sich an diesem Unternehmen zu beteiligen, gesteht Eva Reichmann. Am Ende der Sitzung aber habe es keinen Zweifel mehr gegeben: "Diesen Menschen musste man helfen, sie durfte man in ihrem Verlangen nach dem jüdischen Gesprächspartner nicht im Stich lassen."

Neben Eva Reichmann waren Eleonore Sterling, Robert Raphael Geis und Ernst Ludwig Ehrlich die jüdischen Partner jenes ersten öffentlichen Glaubensgespräches, das beim Berliner Kirchentag 1961 zum Publikumsmagneten wurde.

Vorher hatte zwar bereits der "Deutsche Evangelische Ausschuss für Dienst an Israel" Juden und Christen zu theologischen Tagungen eingeladen. Von ihnen ging aber keine Breitenwirkung aus, da der Ausschuss innerhalb der Kirche eher ein Schattendasein fristete. Außerdem zeigt der Name, von welchen Voraussetzungen diese Gespräche ausgingen: "Dienst an Israel" leistet eine Kirche aus der Überlegenheit heraus, bestenfalls mit mütterlichem Wohlwollen. Die traditionelle theologische Sicht auf das jüdische Volk wurde hier noch nicht in Frage gestellt. Diese Sicht lautete: Das Volk, aus dem Jesus kam, hat ihn nicht als Messias angenommen, also gehen seine Rechte als Volk Gottes an die Kirche über. Die Sicherheit, die aus dieser Enterbungstheologie spricht, ist zugleich die panische Abwehr einer existenziellen Angst. Wie kann denn, so müssen Christen sich fragen, unser Glaube an Jesus als Christus wahr sein, wenn sein eigenes Volk diesen Glauben nicht teilt? Über Jahrhunderte wussten Theologen auf diese Herausforderung keine andere Antwort als die: In seiner Ablehnung Jesu disqualifiziert sich Israel als Gottesvolk, das "neue Israel" ist die Kirche.

In diesem Kontext war die Resolution, die die Arbeitsgruppe "Juden und Christen" am dritten Tag der Berliner Großveranstaltung verabschiedete und in 6.000 Abzügen verteilte, nicht weniger als eine kleine Revolution. "Gegenüber der falschen, in der Kirche jahrhundertelang verbreiteten Behauptung, Gott habe das Volk der Juden verworfen, besinnen wir uns neu auf das Apostelwort: 'Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor ersehen hat' (Römer 11,2)". Mit dieser Aufforderung zur theologischen Kehrtwende endet das Papier. Es beginnt ebenso grundsätzlich. Angesichts des christlichen Antijudaismus und angesichts des zur Zeit des Kirchentages in Jerusalem stattfindenden Prozesses gegen Adolf Eichmann werden der Öffentlichkeit vier Zeichen der Umkehr abverlangt: eine neue Pädagogik, die eigene Fehler eingesteht, politische Verantwortlichkeit jedes Einzelnen, Solidarität mit Juden und dem Staat Israel und schließlich eine Revision der theologischen Traditionen.

Mit diesen Ergebnissen der Berliner Begegnung von 1961 begann die eigentliche theologische Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen in Deutschland. Klar war: Der Austausch und die Zusammenarbeit können sich nicht auf die Theologie im engeren Sinne beschränken. Die Veränderungen in Denken und Sprechen haben unmittelbare Konsequenzen für das private wie für das öffentliche Handeln. Am deutlichsten machte dies die "Aktion Sühnezeichen". Der Jurist Lothar Kreyssig hatte den Verein am Rande einer Synode der Evangelischen Kirche im Jahr 1958 gegründet und an "die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben", die Bitte gerichtet, Friedensdienste junger Deutscher in ihren Ländern anzunehmen. Die Einsicht in historische Verantwortung und der Protest gegen ein wiedererstarkendes Deutschland mit einer atomar bewaffneten Bundeswehr mündeten hier in praktisches Tun: 1959 bauten junge Freiwillige ein Ferienheim in den Niederlanden, 1961 reiste eine erste Gruppe nach Israel. Politischen Ausdruck fanden aber auch die Erkenntnisse der Arbeitsgemeinschaft "Christen und Juden", die zur ständigen Einrichtung des Kirchentags wurde, sowie der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Studentengemeinden an den Hochschulen. Die Pioniere des christlich-jüdischen Dialogs bezogen Position gegen die restaurativen Tendenzen der Adenauer-Republik: Sie engagierten sich für die Entlassung belasteter Politiker aus dem Amt (die namentliche Nennung des Staatssekretärs Hans Globke führte zum Skandal), für die Aussetzung der Verjährung bei NS-Verbrechen, für beschleunigte Entschädigungszahlungen und für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel.

Der kämpferische Optimismus der ersten Jahre sollte freilich rasch realistischem Langmut weichen. Keine der genannten Organisationen hat es geschafft, sich selbst überflüssig zu machen, auch wenn manche sich das in der ersten Euphorie vorgenommen hatten. Zu heftig blies der Gegenwind aus Amtskirche, Gemeinden und akademischer Theologie.

Aber auch intern zeigte sich der neugewonnene Zusammenhalt als anfällig für Erschütterungen und Ernüchterung. Beispielhaft ist die Kontroverse um die Judenmission, die die Kirchentags-Arbeitsgemeinschaft 1963 auf den Prüfstand stellte. "Der ungekündigte Bund" war der eindeutige Titel des ersten Dokumentationsbandes der Gruppe gewesen. Damit bekannte sie die bleibende Erwählung Israels. Die jüdischen Mitglieder hatten gehofft, christlichen Partnern zu begegnen, die aus dieser Einsicht die Konsequenz zögen, keinen Juden mehr von der Notwendigkeit einer Hinwendung zum christlichen Glauben überzeugen zu müssen. Endlich schien eine Gruppe zu existieren, in der Juden theologisch nicht in die Enge getrieben wurden. Umso größer war die Enttäuschung, als Robert Raphael Geis entdeckte, dass die Ablehnung der Judenmission innerhalb der Gruppe so einhellig nicht war, dass vielmehr selbst sein Freund und Mitstreiter Helmut Gollwitzer sich ernsthaft mit den Thesen judenmissionarischer Gruppen auseinandersetzen wollte. "Es ist genug des Spiels, da man Juden umwirbt, bezirzt, als Aushängeschild missbraucht - und letztlich nicht ernst nimmt", entrüstete sich Geis.

Über Monate testete die Auseinandersetzung die Tragfähigkeit der Arbeitsgemeinschaft. Was den Zusammenhalt letztlich rettete, waren persönliche Freundschaften. Aber auch inhaltlich hatten die Christen dazugelernt. Helmut Gollwitzer rang sich zu der selbstkritischen Frage durch: "Habe ich für den Juden etwas zu hoffen, was er zur Zeit gar nicht gehofft haben will?"

Wer macht mit?
"Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern." Die kleine Eitelkeit zum Einstieg schwächt nicht die Bedeutung dieser Stellungnahme. Es handelt sich nämlich um eine Selbstkritik von höchster Stelle: Im Oktober 1965 veröffentlichte das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung "Nostra Aetate" über das Verhältnis der Kirche zu den nichtkirchlichen Religionen. Die katholische Kirche wandte sich offiziell und deutlich gegen jahrhundertealte Lehrsätze - und gegen eine ebenso alte Praxis. Schritt für Schritt wurde jetzt die Karfreitagsliturgie reformiert, in der bislang für die "treulosen Juden" gebetet worden war, denen somit ausdrücklich der Tod des Heilands zur Last gelegt wurde.

Ungefähr zeitgleich zur katholischen Kirche hatten sich auch die anderen Weltkirchen im Ökumenischen Rat dem Thema gestellt. Internationale Diskussionen mündeten 1967 in den "Bristol Report". Diese Studie sollte vielen weiteren Entwicklungen die Richtung weisen.

Zum einen, weil das Papier auf Kompromisse verzichtete. Vielmehr wurde offengelegt, an welchen Stellen - wieder einmal ging es beispielsweise um die fragliche Notwendigkeit einer christlichen Mission an den Juden - die Meinungen auseinandergingen. Zweitens wurde der theologische Dialog klar in einen historischen Kontext gestellt, indem die Verfolgung der europäischen Juden und die Gründung des Staates Israel als Anstöße für eine Neubestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses genannt wurden. Und schließlich ging die Studie bei dieser Neubestimmung von den Gemeinsamkeiten aus. "Die ersten Christengemeinden bestanden aus Juden", war da zu lesen - eine an sich banale historische Tatsache, die modernen christlichen Gemeinden aber erst wieder ins Bewusstsein gerufen werden musste. Und das mit erheblichen theologischen Konsequenzen: Wenn das Christentum vom Judentum abstammt, dann sind die Unterschiede zwischen beiden nicht Defizite des Judentums, sondern Ergebnisse einer Entwicklung, die das Christentum rechtfertigen muss.

"Was gut ist am Christentum, ist nicht neu, und was neu ist, ist nicht gut" - mit dieser Kurzformel können Juden umschreiben, warum die Auseinandersetzung mit der jüngeren Schwesterreligion ihre jüdische Identität nicht tangiert. Ganz anders stehen die Christen da, nämlich vor der Aufgabe, die Existenz ihrer "Sekte" zu legitimieren, ohne der Mutterreligion die Daseinsberechtigung abzusprechen - wie sie das über Jahrhunderte mit fatalen Folgen getan hatten.

Dieser Aufgabe stellten sich die beiden großen Kirchen ab Mitte der sechziger Jahre auch in Deutschland. Beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken entstand ein Gesprächskreis aus Juden und Christen. Die Evangelische Kirche berief 1967 die Studienkommission "Kirche und Judentum" ein, in der Vertreter verschiedener theologischer Flügel im Lauf von sieben Jahren eine Studie zum Verhältnis von Christen und Juden formulierten.

Das Umdenken und die neuen Fragen erreichten keine breite Öffentlichkeit. Immerhin aber entstanden zahlreiche Initiativen und Gemeindegruppen vor Ort, die die Auseinandersetzung und den Austausch suchten. Die Zahl der Begegnungen nahm zu - nicht zuletzt durch vermehrte Besuche von Jüdinnen und Juden aus Israel oder den USA. Außerdem reisten mehr und mehr Gruppen aus Deutschland nach Israel. Durch die Gründung des Vereins "Studium in Israel" im Jahr 1978 etablierte sich für Theologiestudierende die Möglichkeit, ein Jahr in Israel zu leben, um im "Meer des Talmud" zu schwimmen und modernes jüdisches Leben kennen zu lernen. Diese Möglichkeit war umso wichtiger, als der christlich-jüdische Dialog nach wie vor wenig Verankerung in den Fakultäten gefunden hatte.

Reisen nach Israel hatten schon in den 50er Jahren Christen aus Deutschland die beiden Schwerpunkte jüdischer Existenz vor Augen geführt und zum Thema gemacht. Ihre Gegenüber waren nicht nur in der Diaspora lebende Jüdinnen und Juden, sondern ebenso Menschen im Land und Staat Israel. Der Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn und Bürgern verschaffte dem weltweiten christlich-jüdischen Dialog eine zusätzliche Dimension. Innerhalb der katholischen Weltkirche und im Ökumenischen Rat der Kirchen - beides Dachverbände auch arabischer Christen - führte der Nahost-Konflikt zeitweise zum völligen Stillstand christlich-jüdischer Bemühungen. In Deutschland waren im Dialog engagierte Christen mit einem Kräftefeld konfrontiert, in dem verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen ihre je eigene Rezeption des Konfliktes pflegten.

Weite Teile der Linken wie auch der entstehenden Friedensbewegung ergriffen Partei für die Palästinenser; ihre Zionismuskritik trug unüberhörbar antisemitische Züge.

Demgegenüber beschrieben israelnahe kirchliche Gruppen ihre Position als "kritische Solidarität" mit Israel - und waren damit beschäftigt, diese Grundhaltung je wieder ins Konkrete umzusetzen.

In ihrem "Beschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" fasste 1980 die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland das heiße Eisen an und bezeichnete die Errichtung des Staates Israel als "ein Zeichen der Treue Gottes". Ist das eine theologische Überhöhung - oder ist dieser Staat tatsächlich kein Staat wie jeder andere? Diese Frage unterstrichen zu haben, ist ein Verdienst des Rheinischen Beschlusses.

Doch nicht nur hierin liegt seine Bedeutung. Mit der Arbeit an diesem Text und seiner Veröffentlichung gaben die rheinischen Protestanten dem christlich-jüdischen Dialog einen wichtigen Impuls. Klar formulierten sie "die Erkenntnis christlicher Mitverantwortung und Schuld am Holocaust" als Ausgangspunkt christlicher Neubesinnung. Erst Jahrzehnte nach "Auschwitz" wurde die Anfechtung der christlichen Theologie durch diesen Zivilisationsbruch in vollem Ausmaß zur Kenntnis genommen.

Das geschah in einem Text, der durch eine Synode als das höchste Gremium einer Kirche beschlossen wurde. Seit dem Weißenseer Wort von 1950 hatte es in Deutschland keine Synodenerklärung zum Verhältnis von Kirche und Israel mehr gegeben.

Dem Rheinischen Beschluss folgten nicht nur intensive Diskussionen, sondern zahlreiche weitere Beschlüsse in anderen Landeskirchen oder Änderungen in deren Grundordnungen.

Hat sich also der christlich-jüdische Dialog ins Fundament der mehrheits-christlichen Gesellschaft BRD eingeschrieben? Skepsis ist angesagt.

Das Zerrbild vom "alttestamentarischen Rachegott" geistert nach wie vor durch die Kolumnen. Die christliche Bekehrung von Juden ist auch in der jüngsten Studie der EKD aus dem Jahr 2000 nicht gänzlich vom Tisch. Jüdische Gemeinden stehen vor dringlicheren Herausforderungen als dem Dialogbedarf christlicher Gruppen. Und was die betrifft, sprechen Spötter schon von "thematischer Altenarbeit auf intellektuellem Niveau".

Ob die Verjüngung gelingt? Im Prinzip besteht ein Bedarf. Es braucht Menschen, die gegen religiösen Fundamentalismus Gesprächsfähigkeit setzen. Und gegen das verkümmernde Zweckdenken den Reichtum biblischer Traditionen. Immerhin ist das "Sabbatjahr" bereits in den Wortschatz der deutschen Wirtschaft gelangt.

aus: Gabriele Kammerer: Kinder Gottes im Land der Täter. Der christlich-jüdische Dialog in der Bundesrepublik Deutschland. Aus: Brumlik, Micha u.a.: Reisen durch das jüdische Deutschland. ©2006 DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln, S. 424-434.

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