"Der Mensch fragt nach Gott"
Zum 100. Geburtstag von Abraham J. Heschel
von Hartmut Bomhoff

Abraham Joshua Heschel (Warschau 1907- New York 1972) zählt neben Martin Buber und Emmanuel Lévinas zu den bedeutendsten jüdischen Denkern des 20. Jahrhunderts. Heschel, der einer angesehenen chassidischen Familie entstammte, beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit Gottes Anteilnahme am Menschen und bahnte seinen Zeitgenossen und Lesern immer wieder Wege zur Erkenntnis der Gegenwart Gottes. Seine Hauptwerke, in denen religiöses Denken auf poetische Sprache trifft, sind "Der Mensch ist nicht allein" (1951) und "Gott sucht den Menschen" (1955). Sein Werk, das um das für Religion und Ethik wesentliche Grundverhältnis von Ich und Du kreist, hat während der Berliner Jahre Heschels von 1927 bis 1937 eine wesentliche Prägung erfahren. Seine emphatische Zuwendung und sein Engagement für soziale Gerechtigkeit speisen sich aus der jüdischen Tradition ebenso wie aus den persönlichen Erfahrungen in NS-Deutschland. Heschels 100. Geburtstag am 11. Januar ist dieses Frühjahr Anlass für Vorträge und Konferenzen in New York und Boston, London und Mailand, Krakau und Berlin. Nur am Jewish Theological Seminary(JTS) in New York, wo Heschel während der letzten 27 Jahre seines Lebens unterrichtete, sind keine öffentlichen Veanstaltungen ihm zu Ehren vorgesehen.

Das chassidische Milieu seiner Kindheit beschreibt Heschel so: "Ich wurde in Warschau, Polen, geboren, aber meine Wiege stand in Miedzyboz, einer kleinen Stadt der Provinz Podolien in der Ukraine, wo der Baal Schem Tow, der Begründer der chassidischen Bewegung während der letzten zwanzig Jahre seines Lebens lebte." In seinem Elternhaus lernte er die jiddische, hebräische, polnische und deutsche Sprache, bekam aber vor allem grundlegende chassidische Ideale vermittelt, wie Liebe, Mitgefühl, Gerechtigkeit und Frömmigkeit. Heschel war ein begabtes Kind, galt bald als "illui", als junges Talmudgenie, wurde gefordert und gefördert: "Die Atmosphäre, in der ich aufwuchs, war gefüllt mit Theologie. Tag und Nacht hörte ich sie nur über "Gebet" und "Kawana" und über den "Kadosch Boruch Hu" und über "mesiras nefesch" sprechen."

Neben der Hinwendung zu Gott und dem Studium der Tradition war die Zuwendung zum Nächsten wichtig. Nach dem Tod des Vaters, der für seinen emphathischen Umgang mit Bittstellern und Ratsuchenden bekannt war, gelangte der 10- jährige Heschel in die erzieherische Obhut seines Onkels, des Novominsker Rebben. Mit 16 Jahren erhielt er seine orthodoxe Smicha. Schon 1922 erschienen erste kleinere Arbeiten Heschels über den Talmud in der hebräischsprachigen Warschauer Monatszeitschrift "Sha'arey Torah: Kovetz rabbani hodshi"("Tore der Torah: Monatliche rabbinische Zeitschrift"). Damit stieg er in den Kreis talmudischer Lehrer auf. Mit Hilfe seiner Mutter Rivka, die Verständnis für sein Interesse auch an säkularen Dingen hatte, konnte der Heranwachsende die frühe Ehe mit seiner Cousine Gittel Perlow umgehen. Er besuchte zunächst die Mesiwta-Jeschiwe in Warschau, wo er an zwei Stunden am Tag auch mit Mathematik, Geschichte und Literatur vertraut gemacht wurde und wechselte 1925 ins damals polnische Wilna, um dort 1927 am Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasium sein Abitur zu machen. Die Unterrichtssprache am Realgymnasium war Jiddisch; der Lernstoff umfasste das polnische gymnasiale Curriculum und ermöglichte ein späteres Universitätsstudium.

Berliner Jahre

"Der junge Berliner Gelehrte Abraham Heschel hat es fertig gebracht, nicht nur sich zu behaupten, sondern mit seiner Veröffentlichung eine wirklich vorhandene Lücke zu schließen", schreibt das "Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt" über seine Maimonides-Biographie von 1935. "Die Gelehrsamkeit des Verfassers ist so lebendig, seine Intuition so stark, seine vornehme Menschlichkeit so liebevoll zurückhaltend und dabei doch aus jeder Zeile sprechend, dass dieses Buch in der Tat seinen Untertitel erfüllt: Es ist das Leben eines großen Geistes, das sich gleichsam hier selbst beschreibt und dessen Zeichen wir aus seiner bewegten Zeit und aus dem Frieden seiner Erleuchtungen mit tiefer Anteilnahme lesen lernen."

Der "junge Berliner Gelehrte" wechselte 1927 von Wilna nach Berlin, um hier an der Friedrich-Wilhelm-Universität und an der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums zu studieren. Die Berliner Universität lockt in diesen Jahren viele junge ostjüdische Intellektuelle an, darunter Jeshajahu Leibowitz, Joseph B. Soloveitchik und Menachem Mendel Schneersohn. Heschel schreibt über seine Ankunft in Berlin: "Ich kam mit einem großen Hunger an die Universität in Berlin, um Philosophie zu studieren. Ich suchte ein Gedankensystem, Tiefe des Geistes, die Bedeutung des Lebens. Gelehrte und tiefsinnige Wissenschaftler gaben Kurse in Logik, Epistemologie, Ästhetik, Ethik und Metaphysik. Sie öffneten mir die Tore der Philosophiegeschichte… In diesen Monaten in Berlin erlebte ich Augenblicke tiefer Bitterkeit. Ich fühlte mich mit meinen Problemen und Ängsten sehr allein. Eines Abends ging ich durch die prächtigen Straßen Berlins. Ich bewunderte die Solidität der Architektur, die überwältigende Energie und Kraft einer dynamischen Kultur. Es gab Konzerte, Theater und Vorlesungen von berühmten Wissenschaftlern über die neuesten Theorien und Erfindungen. Ich überlegte, ob ich das neue Stück von Max Reinhardt besuchen oder zu einer Vorlesung über die Relativitätstheorie gehen sollte. Plötzlich beobachtete ich, dass die Sonne untergegangen und es Abend war... Ich hatte Gott vergessen. Ich hatte den Sinai vergessen. Ich hatte vergessen, dass ich beim Sonnenuntergang eine Aufgabe hatte: "die Welt der Königsherrschaft Gottes wiederherzustellen". Ich begann die Worte des Abendgebetes zu sprechen… Zunehmend wurde mir der Graben deutlich, der meine Ansichten von denen trennte, die es an der Universität gab. Wie kann ich auf rationale Weise einen Weg dahin finden, wo letzte Wahrheit ist? Warum existiere ich überhaupt und was ist mein Zweck? Ich wusste nicht einmal, wie ich meine Frage formulieren sollte. Für meine Lehrer jedoch waren dies Fragen, die einer philosophischen Analyse nicht wert waren."

Heschel studiert an der Universität Philosophie, Kunstgeschichte und Semitische Sprachen. In seiner Doktorarbeit über das prophetische Bewusstsein analysierte er, wie die Propheten Gottes Eingebung und Offenbarung erfahren und umgesetzt haben. "Pathos und Sympathie" sind die Begriffe, die ein Kritiker für diese Arbeit findet. An der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums lernt er bei Chanoch Albeck, Ismar Elbogen, Julius Guttmann und Leo Baeck, wird Tutor für Talmudexegese für Fortgeschrittene (er studiert dabei zusammen mit W. Gunther Plaut, heute Nestor des amerikanischen Reformjudentums) und erhält am 16. Juli 1934 sein liberales Rabbinerzeugnis. Er veröffentlichte Aufsätze unter anderem im Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde und im Berliner Erich Reiss-Verlag und unterrichtet am Freien Jüdischen Lehrhaus in der Fasanenstraße in Charlottenburg. Noch 1939 erscheint in der Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums der Aufsatz "Das Gebet als Äußerung und Einfühlung". Er endet mit Gedanken, die Heschels Leben und Werk durchziehen: "Beten heißt, an ein Wort fassen, an den Endpunkt einer Schnur, die gleichsam zu Gott führt. Je größer die Kraft, umso höher ist der Aufstieg an dem Wort. Beten heißt aber auch, dass der Widerhall des Wortes wie ein Senkblei in die Tiefe der Person fällt. Je reiner die Bereitschaft, umso tiefer dringt das Wort."

Jüdische Zeitung, Februar 2007
www.j-zeit.de

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