Urteil statt Vorurteil. Heute:
Nächstenliebe
von Klaus-Peter Lehmann

Ein schwerwiegender Irrtum liegt in der verbreiteten Ansicht, das Gebot der Nächstenliebe sei durch Jesus in die Welt gekommen und vom Christentum als neue, allen Menschen geltende Moral verkündet worden. Als habe sich die Kirche mit der Idee der Nächstenliebe vom Judentum und dessen Frömmigkeit, die durch nationalen Egoismus und religiöse Selbstgerechtigkeit geprägt sei, getrennt. Alle antijüdischen Vorurteile hängen mit dieser falschen Auslegung des Neuen Testamentes zusammen, weil mit ihr dem Judentum das Herz seiner Botschaft an alle Menschen geraubt wird. Manche Christen wissen zwar, dass das Gebot der Nächstenliebe im Alten Testament steht. Sie meinen aber, dort seien nur die israelitischen Volksgenossen angesprochen, während Jesus die allgemeine Menschenliebe predige (vgl. Mt 5,43f). Von daher wirft man dem jüdischen Glauben oft nationale Beschränktheit, völkisches Denken oder gar Rassismus vor.

Die älteste Formulierung des Gebotes der Nächstenliebe findet sich ziemlich genau in der Mitte der fünf Mosebücher: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (3 Mose 19,18). Rabbinische Auslegung sah darin keinen Zufall, sondern einen Hinweis: Die Weisung der Nächstenliebe ist das Herzstück aller Gebote der Tora. (1)

Tatsächlich sind die Weisungen des Alten Testamentes an Israel gerichtet, wie die neutestamentlichen an die Gemeinde Jesu Christi. Niemand wird dadurch von ihrem Anspruch ausgenommen, sondern alle sind mitangesprochen. Dies dadurch, dass das Bundesvolk Israel zum Licht der Völker (Jes 49,6) und die Gemeinde Jesu Christi zum Licht der Welt (Mt 5,14) berufen sind. Demgemäß ist ihnen von Gott die Aufgabe erteilt worden, in Hinblick auf Gerechtigkeit (Jes 42,1) und Liebe (1 Joh 4,16b) als ihm wohlgefälliges Ebenbild (1 Mose 1,27) und also gegenüber der übrigen Menschheit als moralisches Vorbild zu leben (Jes 48,18; 1 Petr 2,12).

Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Münze: Er übte Recht und Gerechtigkeit, den Elenden und Armen verhalf er zum Recht. Heißt nicht das, mich erkennen? spricht der Herr (Jer 22,16f). Der Verantwortung nachgehen, die Zuwendung zur Not des Nächsten ist Hinwendung zu Gott. Wegen ihrer unauflöslichen Einheit werden Gottes- und Nächstenliebe die zwei größten Gebote genannt (Mt 22,34-40). Auch im Talmud gilt diese Einheit. Wobei die rabbinischen Gelehrten darum debattieren, welches der beiden Gebote innerhalb ihrer Einheit vorangeht. (2)

"'Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst' (3 Mose 19,18). Rabbi Akiba lehrte: Das ist ein wichtiger Grundsatz der Tora. Ben Asai lehrte: Es gibt einen wichtigeren Grundsatz in der Tora - 'Dies ist das Buch der Zeugungen Adams' (1 Mose 5,1)."

Die Lehre Ben Asais erschließt sich, wenn wir den gesamten Vers, dessen Anfang er zitiert, einbeziehen: Dies ist das Buch der Zeugungen Adams (= Mensch, Menschheit): Am Tag, da Gott Adam erschuf, im Gleichnis Gottes machte er ihn. Obenan steht die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und damit die Brüderlichkeit des Menschengeschlechts! Das Gebot der Nächstenliebe ist in Zusammenhang zu sehen mit der in Gott begründeten Idee der Menschheit. Seine allseitige Befolgung verheißt eine gerechte Menschenwelt. Ohne den Horizont einer brüderlichen Menschheit, verliert das Gebot seinen Sinn. (3)

Das macht auch der Akzent deutlich, der im Alten Testament auf dem Gebot der Nächstenliebe liegt. Immer wieder wird hier unter dem Namen des einzigen Gottes die Solidarität mit den Fremden und den Armen gefordert (2 Mose 22,20-24; 3 Mose 19,33ff; 24,22; 4 Mose 15,15f; 5 Mose 1,16; 24,17; 27,17). So kämpft schon die Tora im Volk Israel gegen zwei Spaltungen der Menschheit, die ihre Brüderlichkeit zerstören und den barmherzigen Schöpfer aller Menschen schmähen (Spr 17,5), den Fremdenhass und die Verachtung der Armen.

Man kann darin die Bedeutung des Judentums für eine Kultur der Menschheit sehen. Der allen Menschen gegebene Affekt des Mitleids ist in dem Volk der Gebote des Mose zu einem reinen Bewußtsein erhoben und zu einem Willen der Gerechtigkeit geformt worden, als Antwort auf das von jedem Leidenden ausgehende Gebot der Solidarität. Durch Israels Kultur des Mitleids ist der Mitmensch erschaffen worden. (4)

Im Gegensatz zur üblichen, Macht verherrlichenden Geschichtsschreibung treibt die biblischen Autoren das Gebot der Nächstenliebe und seine Berücksichtigung in der Politik. Leicht wird überlesen, dass Mitleid ihre Berichte bewegt und Parteinahme für die Opfer von Willkür und Gewalt. Weshalb berichten sie sonst von dem ansonsten unbedeutenden Paltiel, der, unter die Räder von Davids Ehepolitik geraten, Schmerzenstränen vergoss? Sauls Feldherr Abner wollte im Kampf um die Herrschaft in Israel zwischen Isbaal, Sauls Sohn, und David zu diesem überlaufen. David erhob zur Bedingung, dass er ihm Michal, seine von Saul erworbene Frau, zurückbringe. Diese hatte Saul in der Zeit, als er David verfolgte, diesem weggenommen und einem Paltiel gegeben. Davids Beweggrund war machtpolitisch, denn Frauen hatte er inzwischen genug, und Liebe verband ihn auch nicht mit Michal. Offensichtlich war sie ihm eine Art Trophäe für seine vormaligen Siege über die Philister. Die Bibel berichtet von der politischen Gewalt, die ein Menschenleben erschüttert, weil sie die gebotene Nächstenliebe ignoriert, in ergreifender Knappheit:

David sandte nun Boten an Isbaal, den Sohn Sauls, und ließ ihm sagen: Gib mir mein Weib Michal heraus, dass ich mir um die Vorhäute von hundert Philistern gefreit habe. Isbaal schickte hin und ließ sie ihrem Manne, Paltiel, dem Sohn des Lais, wegnehmen. Ihr Mann aber ging mit ihr und folgte ihr weinend bis Bahurim. Da sprach Abner zu ihm: Geh wieder heim. Und er ging heim (2 Sam 3,14-16).

Das Mitleid ist der Boden, auf dem sich Gottes- und Nächstenliebe erheben. Das gilt auch für den Talmud und das Neue Testament:
"Sei stets darauf bedacht, dass du niemand dein Mitleid versagst. Wer seinem Mitmenschen das Mitleid versagt, der gleicht dem Götzendiener, der Gottes Herrschaft von sich ablehnt" (Sifre z. 5 Mose 15,9). (5)

Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann sahen wir dich hungrig und haben dich gespeist? Oder durstig und haben dich getränkt? Wann sahen wir dich als Fremden und haben dich beherbergt? Oder nackt und haben dich bekleidet? Wann sahen wir dich krank oder im Gefängnis und sind zu dir gekommen? Und der König wird ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Wiefern ihr es einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr es mir getan (Mt 25,37-40).

Anmerkungen:
1. Andere Fassungen des Gebotes der Nächstenliebe im Alten Testament: Spr 3,27f; Sach 7,9f
2. Zur Zusammengehörigkeit von Gott und dem Ndchsten in der Bibel
Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe steht in der Bibel als Einheit, die sich in diese zwei voneinander untrennbaren Weisungen aufteilt. Denn es gibt keine direkte Erkenntnis der Einheit Gottes. Der uns unsere Verantwortung weist, dessen Willen kann nur in der Wahrnehmung derselben erkannt werden, also dadurch, dass ich Nächstenliebe übe. Außer wir wollten dem Menschen ein frei erhabenes Bedenken gegenüber der Weisung des Barmherzigen und Gerechten einräumen - was nur auf eine innere Distanzierung hinauslaufen w?rde. Diese Distanzierung lässt das biblische Gebot nicht zu. Deshalb schätzten die Rabbinen die Aussage von 2 Mose 24,7: Alles, was der Herr geboten hat, wollen wir tun und darauf hfren. Der wirkliche Ruf der Barmherzigkeit wird spontan ohne vorhergehendes, abwägendes Überlegen befolgt. So wie die Schreie eines Ertrinkenden ein unmittelbares Hinlaufen, um ihn zu retten (= Tun), auslösen, und im Tun dann gefragt und beantwortet wird, welche einzelnen Maßnahmen dazu gehören (= darauf hören). Im Hören auf das Wort des Barmherzigen geht der Gehorsam der freien Entscheidung voran. Für andere Worte außer dem Worte Gottes gilt diese Reihenfolge durchaus nicht. Aber wer könnte sich dem Ruf der unendlichen G?te durch Berufung auf seine freie Entscheidung entziehen wollen? Im praktischen Leben geht die Nächstenliebe der Gottesliebe voraus. In der theologischen Begründung sind sie sich gegenseitig Grund. Die Gottesliebe begründet die Reinheit der Nächstenliebe, ihre Freiheit von egoistischen Motiven. Die Nächstenliebe ist die Erfüllung der Gottesliebe, entsprechend der Menschenfreundlichkeit des Schöpfers.
3. "Das Judentum darf das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, die Pflicht der Nächstenliebe zum erstenmal als grundlegendes Sittengebot der Welt verk?ndet zu haben. Der Stifter der christlichen Religion hat es nach dem Bericht des Evangeliums (Mt 22,36ff) selbst ganz deutlich ausgesprochen, dass Gottesliebe und Nächstenliebe die beiden Grundpfeiler der alttestamentlichen Sittenlehre seien. 'In diesen beiden Geboten', sagt er dort, 'hanget das Gesetz und die Propheten'" (Gemeindeblatt der Jüd. Gemeinde zu Berlin 1921, Nr. 5).
4. H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 3. Aufl. 1995, S. 164f
5. Das hebräische 'Sifre' bedeutet 'Schriften'. Gemeint sind gesammelte Bibelauslegungen zur angebenen Stelle.

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