Zu den Außenseitern gestellt - Die Geschichte der
Gertrud Staewen
von Ulrich Schwemer
Zur Annenkirche in Berlin-Dahlem gehört ein Friedhof,
auf dem manche besonderen Gräber zum Verweilen einladen. Hier liegt
auch Gertrud Staewen begraben, aber an welcher Stelle! Es gibt auf diesem
Friedhof ein Doppelgrab, das einstmals für das Ehepaar Niemöller
vorgesehen war, da Martin Niemöller im sog. "Dritten Reich"
bis zu seiner Verhaftung Pfarrer dieser Gemeinde war. Aber seine Biographie
führte ihn auf einen anderen Weg, auch zu einem anderen Beerdigungsplatz.
Als der Aktivist der unruhigen 68iger-Generation, Rudi
Dutschke, im Jahr 1979 an den Spätfolgen des Attentats auf ihn starb,
schlug Helmut Gollwitzer vor, ihn in diesem seinerzeit für Niemöllers
vorgesehenen Grab zu bestatten. Dies geschah auch. Aber wer sollte nun
in die zweite Hälfte dieses Doppelgrabes gelegt werden. Als man Gertrud
Staewen fragte, ob sie einmal dort beerdigt werden wolle, stimmte sie
freudig zu, die Außenseiterin neben dem Außenseiter. "Mehrfach
hörte man sie sagen, sie würde gerne mit Rudi Dutschke zusammen
auferstehen." (S. 309). Mit diesem Satz beendet Marlies Flesch-Thebesius
ihr Buch. Und deshalb muss man dieses Buch wirklich bis zu seiner letzten
Zeile lesen, denn selbst das Ende des Lebens dieser außergewöhnlichen
Frau ist außergewöhnlich.
Vor einigen Jahren war ich auf dem Friedhof der Annenkirche
in Berlin Dahlem. Ich erinnere mich dunkel daran, dort das Grab von Rudi
Dutschke gesehen zu haben. Dass neben Rudi Dutschke Gertrud Staewen beerdigt
ist, habe ich nicht wahrgenommen und die wundersame Geschichte dazu auch
nicht. Denn der Name Gertrud Staewen war mir bisher nicht geläufig.
Das Buch von Marlies Flesch-Thebesius über diese außergewöhnliche
Frau aber hat mich in seinen Bann gezogen.
Flesch-Thebesius erzählt von einer Frau, die wahrlich
kein leichtes Leben hatte, die sich aber stets in die Pflicht für
die Außenseiter der Gesellschaft nehmen ließ und die darüber
sicher manchmal ihre ganz privaten Pflichten gegenüber ihren beiden
Kindern, die aus einer sehr kurzen Ehe stammten, vernachlässigte.
Das war wohl der Preis, den sie einerseits für ihr soziales Engagement
für die Außenseiter und Verfolgten, andererseits für ihre
intensiven Beziehungen zu herausragenden Persönlichkeiten, zahlen
musste (S. 37). Sie selbst lebte immer in bescheidenen Verhältnissen,
war oft auf die Hilfe von Freunden angewiesen, war zugleich aber eine
intensive Zuhörerin und Gesprächspartnerin für Menschen,
deren Namen uns heute viel bekannter sind als ihrer.
Ihre Lebensgeschichte ist zugleich eine Geschichte des
"Who is who" des 20. Jahrhunderts. Und Marlies Flesch-Thebesius
schafft es in einer äußerst spannenden Weise, dieses Beziehungsgeflecht
deutlich werden zu lassen, das vor dem "3. Reich" seine Wurzeln
hatte und im "3. Reich" seine Bewährung erlebte. Allen
voran und dann ein ganzes Lebens lang war es die Freundschaft mit Karl
Barth und seiner Freundin, Gefährtin und Mitarbeiterin Charlotte
von Kirschbaum. Sie, die Nichttheologin nahm regen Anteil an den theologischen
Prozessen Karl Barths, verbrachte Wochen mit beiden und dem befreundeten
Ehepaar Pestalozzi auf dem "Bergli" - einer Berghütte in
der Schweiz - , diskutierte theologisch, gesellschaftspolitisch mit den
Freunden und genoss die tiefe Zuneigung aller.
Nah blieb sie ihnen auch aus Berlin, wo sie die längste
Zeit ihres Lebens verbrachte, vor allem durch den sehr intensiven Briefwechsel
mit Charlotte von Kirschbaum. Sie nahm teil an der Symbiose des verheirateten
Barth mit Charlotte von Kirschbaum, die natürlich nicht konfliktfrei
gelebt werden konnte. "Gewiss entsprach diese Beziehung kaum den
bürgerlichen Normen jener Zeit, geschweige denn denen des kirchlichen
Milieus. Aber auch sie steht unter dem Zeichen eines getrösteten
Gewissens." (S. 30) Und gewiss hatte Gertrud Staewen für diese
Situation viel Verständnis, denn sie selbst hatte eine enge Beziehung
zu dem verheirateten Pfarrer Günther Dehn. So waren sie alle in gewisser
weise gesellschaftliche Grenzgänger, auch wenn die Beziehung zwischen
Staewen und Dehn nicht ein ganzes Leben halten sollte.
Staewens Lebensweg führte sie schließlich in
die Kirchengemeinde Berlin-Dahlem. Hier erlebte Staewen das Wirken der
"Bekennenden Kirche" und beteiligte sich intensiv an den Debatten.
Und je schlimmer die Situation im "3. Reich" wurde, desto intensiver
trat sie in den aktiven Widerstand ein, wenn auch illegales Handeln für
sie nahezu unmöglich war, anders als etwa Helene Jacobs, mit der
zusammen sie versuchte, verfolgten Jüdinnen und Juden zu helfen.
In diesen Jahren lernte sie auch Dietrich Bonhoeffer kennen
und erlebte Helmut Gollwitzer als Gemeindepfarrer, mit dem sie in intensivem
seelsorgerlichem Austausch stand, selbst als dieser längst für
Berlin Aufenthaltsverbot hatte und schließlich als Soldat im Krieg
war. Hier freundete sie sich auch mit der Familie Adolf Freudenberg an.
Adolf Freudenberg, der nach dem Krieg in Frankfurt den "Landeskirchlichen
Ausschuss für Dienst an Israel" den späteren "Ev.
Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau" gründen
sollte, hatte wegen seiner nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen
jüdischen Frau seinen Dienst im Auswärtigen Amt quittiert und
Theologie studiert. Als die Bedrohung in Berlin für die Familie zu
groß wurde, emigrierte er 1939 zunächst nach England und wurde
später beim Weltrat der Kirchen zuständig für die Flüchtlingshilfe.
(S. 124)
Der Kontakt zu Freudenberg, Barth, Bonhoeffer und Gollwitzer
ist schließlich auch entscheidend für die Judenhilfe für
getaufte und nicht getaufte Jüdinnen und Juden, die Gertrud Staewen
aufbaut.
"Die evangelische Kirche hat ihre getauften Mitglieder
jüdischer Abstammung nicht geschützt. Nach kirchlicher Lehre
ist die Taufe zwar ein Sakrament, einzigartig und unwiederholbar, ein
Siegel, das nicht gelöscht werden kann. Nach lutherischer Lehre vermittelt
es die Gnade, die den, der zum Glied der christlichen Gemeinschaft geworden
ist, dem Zugriff der Dämonen entreißt.
Dennoch hat sich die evangelische Kirche in der Nazi?Zeit
von ihren getauften Gliedern jüdischer Abstammung getrennt. Sie ließ
sie gehen. Sie nahm keine Notiz von dem Unrecht, dessen Opfer sie wurden.
Sie erhob nicht Protest und leistete nicht Widerstand. Sie übernahm
den staatlichen Arierparagraphen und wendete ihn in der Kirche an. Sie
entließ die Pfarrer jüdischer Abkunft. Sie fragte nicht danach,
was aus ihnen wurde. (...) Auf dem Kontinent wurden unzählige Christinnen
und Christen, alle versehen mit dem unauslöschlichen Siegel der Taufe,
in den Gaskammern ermordet. Sie zählten als Juden, weil sie von Juden
abstammten. Hat die Kirche das nicht bemerkt? Einzelne Christen haben
dem Sog widerstanden, einzelne Laien, einzelne Theologen, Leute wie Gertrud
Staewen und Helmut Gollwitzer. Die Kirche selbst widerstand nicht. Wir
klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet ...
nicht brennender geliebt haben.' Ach ja. Aber dass wir unsere Mitchristen
haben fortgehen lassen, dafür klagen wir uns noch heute nicht an.
Warum gibt es eigentlich keinen Bußtag, an dem die Kirche um ihre
eigenen Kinder trauert?" (S. 198),
fragt Marlies Felsch-Thebesius.
Wenig später beschreibt sie etwas genauer die Motivation
der besonderen Art der Zurüstung von getauften Jüdinnen und
Juden:
"Adolf Freudenberg war beeindruckt von der Kraft
und Leidenschaft, mit der Gertrud Staewen sich ihrer neuen Aufgabe widmete.
Vor allem leuchtete ihm ein Projekt ein, das sie gleich nach Beginn der
Deportationen zusammen mit Helene Jacobs, Mochalski und einigen anderen
Pfarrern entwickelt hatte. Ein Ordinationskurs für Laien wurde eingerichtet,
in dem die christliche Gemeinde einige Verfolgte zum Dienst der christlichen
Verkündigung "draußen" zurüsten wollte. Dieses
Vorhaben sei, schreibt Freudenberg, "das stärkste christliche
Zeugnis, das wir seit langem ... gehört haben. So eine Nachricht
verdoppelt meinen Mut"." (S. 206)
Dies geschieht zu einer Zeit, in der die sog. "Endlösung"
schon in vollem Gang ist. Es geht vor allem um getaufte Jüdinnen
und Juden, denen man in der Zeit der Verfolgung geistliche Hilfe zuteil
kommen lassen will. In Kursen werden jüdische Menschen auf eine Ordination
vorbreitet, was in einzelnen Fällen auch durchgeführt wird.
Doch keiner der Menschen, die Staewen in diesem Zusammenhang betreut,
wird das Inferno überleben. Dies muss eine bittere Erkenntnis für
Gertrud Staewen gewesen sein. Ihre Mitarbeiterinnen Helene Jacobs und
Melanie Steinmetz sind einen Schritt weiter gegangen und haben auch mit
illegalen Mitteln (wie z.B. Passfälschung) versucht, Menschen zu
retten, was ihnen in einzelnen Fällen auch gelungen ist.
"Gertrud Staewen sah sich nicht als Hiob, das wäre
vermessen gewesen. Sie sah sich in der Gestalt der wohlmeinenden Freunde.
Der Gedanke; auch sie könnte den falschen Trost spenden, machte sie
rasend. "Ich will nicht Hiobs Freunde sein. Ich kann diesen Fluch
des hilflos Danebenstehenmüssens oft kaum mehr durchstehen ... Hiobs
Freunde - das ist die Gefahr jetzt, in der die wenigen, die überhaupt
neben Hiob sitzen mögen, untergehen." Und dann folgt ein halber
Satz, ein Satz, in dem das Prädikat fehlt und der gerade in seiner
gestammelten Unvollständigkeit zeigt, um was es zu diesem Zeitpunkt
in der evangelischen Bekenntnisgemeinde Berlin-Dahlem wirklich gegangen
ist: "Dieses theologisch vollständig ,richtig' Gegen-Selbstmord-Begehen-Wollen
Reden, diese frommen Sätze, die ich hasse, wo man nur noch zusammen
beten sollte und das Abendmahl feiern und Gott reden lassen . . . "
Gertrud Staewen war eine fromme Frau, Zweifel lagen ihr fern; in der getreuen
Nachfolge ihres Lehrers Barth hielt sie sich an das schöne Wort,
das von den beiden Blumhardts, Vater und Sohn überliefert ist und
das Karl Barth bis zum letzten Tag seines Lebens begleitet hat: "Es
wird regiert."
Trotzdem tauchte seit dem Frühsommer 1942 in Staewens
Briefen eine Frage auf, die hart an die Grenzen des Zweifels stößt:
die Frage nach Gottes Zulassung. Das Böse war machtvoll und täglich
wahrnehmbar. Gott ließ es geschehen. Wie lange noch? Wo waren die
Grenzen? Hinter diesen Fragen stand die furchtbare Angst, es gäbe
überhaupt keine Grenzen und das letzte Wort wäre Verzweiflung.
Doch am Ende des Hiobbuchs erhob Gott seine Stimme und sprach zum Meer:
"Bis hierher und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen
Wellen." Damit sprach Gertrud Staewen sich selber den Trost zu, den
sie so dringend brauchte." (S. 228f)
Marlies Flesch-Thebesius hat das Leben dieser Frau, die
durch die Verheiratung ihrer Schwester auch Schwägerin des späteren
Bundespräsidenten Gustav Heinemann war, in eindrucksvoller Weise
in Erinnerung gerufen. Gertrud Staewen hat das "3. Reich" überlebt
und später ihren Dienst an den Außenseitern der Gesellschaft
auch nach dem Krieg fortgesetzt als kirchliche Fürsorgerin in der
Männerhaftanstalt Berlin-Tegel (S. 291).
Die Darstellung ihres Lebens, das sich mit so vielen Biografien
anderer Persönlichkeiten verbindet, lässt wie in einem Brennpunkt
dieses einen Lebens die gesamte Generation derer, die sich mit dem "3.
Reich", mit dem Nationalsozialismus und der Verfolgung von jüdischen
und anderen Menschen auseinandersetzen mussten, lebendig werden.
Marlies Flesch-Thebesius, Zu den Außenseitern gestellt
- Die Geschichte der Gertrud Staewen 1894-1987, Wichern-Verlag 2004
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