V.3.1.          Der Auslöser des Konflikts: Judenmission als Identitätsmerkmal der Kirche

 

Auf der 21. Landessynode der Ev.-Lutherischen Landeskirche von Hannover berichtete der »Ausschuß für Weltmission und Ökumene« am 8.5.1992 über die Vollversammlung des ÖRK in Canberra 1991. Der Ausschuss hatte den offiziellen Bericht des ÖRK über die Vollversammlung im Hinblick auf die Frage bearbeitet, inwieweit in Canberra generell zum interreligiösen Dialog, besonders zum Dialog zwischen Christen und Juden bzw. Moslems Stellung genommen wurde. In dem Berichtsteil II.1. »Dialog zwischen Juden und Christen« heißt es:

 

»Der Überblick ergab, dass die Canberra-Texte im Blick auf einen Dialog mit dem Judentum wenig aussagekräftig sind. Die Diskussion war im wesentlichen durch die – politisch bestimmte – Auseinandersetzung mit dem Palästinenserproblem bestimmt.

 

In den Texten scheint die Tendenz zu bestehen, daß das Judentum als eigenständige Religion immer mehr an den Rand gedrängt wird und im Kontext des europäischen-nordamerikanischen Kultur- und auch Machtraums gesehen wird.

 

Der Ausschuß hält es für dringend erforderlich, daß die Kirchen darauf achten, daß solche einseitigen Verschiebungen bzw. Anbindungen im Falle des Judentums nicht zu neuen Antisemitismen führen, die möglicherweise noch durch christliche Quellen gespeist werden.

 

Für die Theologie am ökumenischen Horizont ist es wichtig, auf das geschwisterliche Verhältnis der Christen zum Judentum hinzuweisen.«[1]

 

Zu diesem Bericht nahm der von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Göttingen in die Landessynode entsandte Neutestamentler Georg Strecker laut Protokoll der Synode wie folgt Stellung:

 

»Ich beziehe mich bei diesem Papier nur auf das, was zum Verhältnis Christen und Juden gesagt wird. Der Ausbildungsausschuß wird noch Gelegenheit haben, sich damit zu befassen, und ich denke an die verschiedenen Äußerungen, die gerade jetzt auf uns zugekommen sind, etwa an die EKD-Denkschrift über Christen und Juden, auch an neuere Äußerungen zum Problem »Judenmission«. Ich kann anschließen an das, was mein Vorredner gesagt hat, habe aber den Eindruck, daß das, was er gesagt hat, und auch das, was ich jetzt sagen möchte, in der gegenwärtigen Diskussion unzeitgemäß zu sein scheint, jedenfalls im Bereich der evangelischen Kirchen. Deswegen möchte ich vorausschicken: Ich habe gute Bekannte, um nicht zu sagen Freunde, im Staate Israel und habe selbst ein Buch herausgegeben mit dem Titel: »Das Land Israel in biblischer Zeit«, an dem Juden und Christen mitgearbeitet haben. Ich frage mich aber, ob wir nicht allmählich in der evangelischen Kirche in eine Schieflage geraten. Ganz anders als in der katholischen Kirche. Ich denke etwa an das Papier der rheinischen Synode, über das ja oft gesprochen worden ist. Ich denke auch an die Synode der reformierten Kirche, die in dieser Woche in Nürnberg über das Thema Christen und Juden stattfindet. Ich meine, die Schieflage beginnt schon damit, daß man sagt, wie wir jetzt auch in epd lesen konnten, wie es die Auffassung einer spezifischen kirchlichen Arbeit ist, daß wir nämlich etwa auf den Begriff »Judenmission« zu verzichten hätten, daß wir, wie uns gelegentlich geraten wird, als Christen Verzicht leisten müßten auf bestimmte Grundaussagen des Christentums. Und ich frage mich, was meint dieses Papier mit dem Begriff »geschwisterliches Verhältnis zwischen Christen und Juden«? Welche Geschwisterlichkeit ist gemeint? Ist dies eine Aussage, die tatsächlich die Gesprächssituation zwischen Christen und Juden deckt? Christliche Freiheit gibt Raum für das Gespräch, ganz sicher, aber der Weg zur Geschwisterlichkeit verlangt doch einen weiteren Schritt. Wir hören die Warnung vor Antisemitismus. Mir scheint, ich möchte zumindest dies zur Erwägung geben, ob die hervorgehobenen Warnungen vor Antisemitismus nicht zur Folge haben, daß geradezu Antisemitismus in unserem Lande provoziert wird. Ich weiß, daß im Dritten Reich der Antisemitismus gerade in Deutschland keineswegs so verbreitet gewesen ist, wie uns das gesagt wird. Man sagt uns, seit Auschwitz müßten wir eine andere Theologie haben. Ist Auschwitz tatsächlich Wendepunkt der Theologie? Ist Auschwitz nicht Konkretion des Bösen, von dem wir als Christen immer schon wissen? Sind Kreuz und Auferstehung Jesu Christi nicht Wendepunkt der Theologie? Ich meine, wir können und dürfen das nicht aufgeben. Insofern bin ich positiv überrascht, daß am Schluß dieses Papiers auf Seite 4 im letzten Satz steht, daß man den Anspruch auf Mission nicht aufgeben darf.[2] Wie auch immer man den Ausdruck »Mission« verstehen mag, auf jeden Fall gibt es im Sinn von Matthäus 28 einen legitimen Sendungsauftrag der Kirche gegenüber allen Völkern, einschließlich der Juden. Das kann nicht ohne Sensibilität ausgeführt werden. Aber ich meine, wenn wir diesen Sendungsauftrag einfach streichen wollten, dann würden wir auch unsere Identität verlieren. Ich meine, unsere Aufgabe müßte sein, die Probleme nüchtern aufzuarbeiten, ohne daß wir unser eigenes Profil verlieren.«[3]

 

Nach Unmutsäußerungen in der Synode[4] fügte Strecker seinen Ausführungen eine persönliche Erklärung an:

 

»Ich bin gebeten worden, noch einige Worte meinem Statement hinzuzufügen, das ich zu dem Aktenstück Nr. 36A abgegeben habe. Ich tue dies gern, weil ich es bedauern würde, wenn ein falscher Eindruck bestehen bleiben würde. Es ging mir nämlich nicht darum, wie offenbar einige es verstanden haben könnten, den Holocaust zu verharmlosen, wenn ich gesagt habe, daß Auschwitz eine Konkretion des Bösen ist, das die Menschheit erfahren hat. Im Gegenteil, Auschwitz ist eine Last, die uns als Deutsche und als christliche Kirche belastet und die auch unserem Gespräch mit dem jüdischen Volk eine besondere Qualität verleiht und eine besondere Sensibilität erfordert. Hiervon kann und soll nicht abgesehen werden, wenn es um die Gestaltung des Verhältnisses von Christen und Juden geht. – Der vorausgesetzte Kontext meiner Ausführungen aber war ein anderer. Nämlich die Forderung von einigen christlichen Theologen, daß man aufgrund dieser Vergangenheit von christlicher Seite einen Verzicht auf christliche Grundaussagen aussprechen müsse und das heißt, auch in Hinsicht auf die Botschaft von der befreienden Kraft von Kreuz und Auferstehung Jesu. Dies und darum ging es mir. Dieser Verzicht wäre auch dem Gespräch mit der jüdischen Theologie nicht dienlich. Ich danke Ihnen.« (Beifall).[5]

 

Nach Strecker befindet sich die evangelische Kirche in einer Schieflage. Dokumentiert findet er diese beispielhaft im Rheinischen Synodalbeschluss 1980 und in der EKD-Studie »Christen und Juden II.« Die Schieflage drückt sich für ihn in dem Verzicht auf Begriff und Sache der Judenmission aus. Der sog. »Missionsbefehl« Mt 28 gilt allen Völkern, einschließlich dem Judentum. Der Sendungsauftrag der Kirche zu den Juden gehört für Strecker zur christlichen Identität. Er stellt ein »geschwisterliches«, also das besondere Verhältnis der Kirche zum Judentum im Unterschied zu anderen Religionen betonende Verhältnis in Frage. Die Warnung vor Antisemitismus provoziert diesen eher, als dass sie ihn verhindert. »Auschwitz« ist für ihn in deutlicher Kritik am Rheinischen Beschluss und ihm darin folgender kirchlicher Verlautbarungen nicht Wendepunkt der Theologie. »Auschwitz« ist nicht Herausforderung zum Bekenntnis »christlicher Mitverantwortung und Schuld«,[6] sondern Konkretion des von Christen immer schon gewussten Bösen, eine Last zwar für Deutsche und die Kirche, aber deshalb noch kein Grund, den Juden gegenüber auf die Botschaft von der befreienden Kraft von Kreuz und Auferstehung Jesu zu verzichten.

 

Deutlich ist, dass die Forderung nach erneuter Judenmission ein zentrales Anliegen und kein Randthema der Ausführungen Streckers darstellt. Theologisch folgt er implizit dem »Subsumtionsmodell«[7] und damit der Eliminierung des Besonderen der Erwählung Israels und seiner Einordnung unter die allen Menschen geltende missionarische Verkündigung von Kreuz und Auferstehung Jesu. Dies bedeutet in der Sprache Streckers: Der Weg zur Geschwisterlichkeit verlangt die Bekehrung des Juden in die heidenchristliche Kirche. Wenn Kreuz und Auferstehung Jesu und ein »geschwisterliches Verhältnis« zwischen Kirche und Israel alternativ gegenübergestellt werden, dann bedeutet die Christologie die Negation Israels als Volk Gottes. Kreuz und Auferstehung sind dann nicht Teil der Geschichte des Gottes Israels mit seinem Volk (Röm 15,8ff), sondern Ausdruck der Krise Israels in Gestalt der heidenchristlichen Glaubensforderung an Israel. Strecker weist deshalb konsequenter Weise mit seiner Kritik am Rheinischen Synodalbeschluss und der EKD Studie »Christen und Juden II« die missionstheologische Differenzierung zwischen Israel und der Völkerwelt auf Grund der bleibenden Erwählung Israels ab. Denn die Forderung nach »Judenmission«, also Integration Israels in die heidenchristliche Kirche, erfordert die Bestreitung eines besonderen, »geschwisterlichen« Verhältnisses und faktisch die religiöse Paganisierung des Judentums.

 

Dem korrespondiert die Bestreitung des Holocausts als Wendepunkt der Theologie, also als Wendepunkt im Verhältnis der Christen zu den Juden. Streckers Ausführungen legen ein illusionäres Theologieverständnis nahe, wie es schon in den »Bonner Erwägungen« aftrat. Illusionär insofern, als könne man sich dem Neuen Testament unter Überspringen und unter Übergehen der Wirkungsgeschichte des Antijudaismus zuwenden. Er verweigert sich einer für Theologie und Kirche durch den Holocaust herausgeforderten, schmerzhaften Reflexion und damit theologischen Ursachenforschung, inwieweit die kirchliche Weise der Verkündigung von Kreuz und Auferstehung Jesu zur Verfolgung und Ermordung der Juden beigetragen hat. Die von zahlreichen kirchlichen Verlautbarungen geforderte theologische Revision kirchlicher Lehre und Verkündigung im Blick auf das Judentum im Sinne der Überwindung als falsch erkannter Denkschemata[8] ist nicht im Blick. Ebenso wenig eine kritische Infragestellung der »Judenmission« sowohl aus theologischen wie aus historischen Gründen. Strecker weist damit die Frage ab, ob angesichts des Antijudaismus und Antisemitismus in der kirchlichen Tradition, der Praxis der Judenmission über die Jahrhunderte hinweg sowie der Mitverantwortung und Schuld der Christenheit am Holocaust dieser Weg nicht obsolet geworden ist.[9]

 

V.3.2.                      Reaktionen: Problematische Judenmission

 

Eine erste öffentliche Reaktion auf Streckers Votum vor der Hannoverschen Landessynode stellt der Artikel »Fortfahren mit der Judenmission« vom 12.5.1992 im Lokalteil des Göttinger Tageblatts dar. Er bringt eine kurze, durchaus zutreffende Zusammenfassung der Aussagen Streckers.

 

Dieser Artikel provoziert den entschiedenen, öffentlichen Widerspruch eines Fakultätskollegen Streckers, des Judaisten und Neutestamentlers Berndt Schaller. In einem Vortrag, gehalten am 17.5.1992 zum Sonntagsgespräch in der Göttinger Albanigemeinde,[10] nimmt er, ohne Streckers Namen zu nennen, Bezug auf dessen Äußerungen vor der Synode. Zu Beginn seines Vortrags erinnert Schaller an die Deportation der letzten in Göttingen verbliebenen Juden und Jüdinnen am 25. März 1942 nach Theresienstadt. Vor dem Hintergrund dieser Leib und Leben betreffenden Geschichte, einer Verfolgungs-, Leidens- und Mordgeschichte, bei der Juden die Opfer und Christen oft genug Zuschauer und Täter gewesen seien, müsse über das Verhältnis von Juden und Christen nachgedacht und gesprochen werden. Weiter heißt es dann mit Bezug auf Streckers Äußerungen:

 

»Über das Verhältnis von Christen und Juden, von uns Christen zu den Juden heute zu sprechen, kann und darf davon nicht absehen. Das Thema läßt sich nicht in der dünnen Luft akademischer, professoraler Theorie behandeln. Und es reicht auch nicht aus, Auschwitz als ›die Konkretion des Bösen‹ zu bezeichnen. Das ist ebenso unbeholfen wie verharmlosend. Das Böse oder der Böse hat sich nicht abstrakt konkretisiert. Es hat Täter, Beteiligte und Zuschauer gegeben. Es hat Schuldige und Verantwortliche gegeben. Und im Blick auf die Judenverfolgung und Judenvernichtung in unserem Land ist nicht nur von der Schuld der damaligen politischen Machthaber und ihrer unmittelbaren Helfershelfer zu sprechen. Wir können nicht umhin, auch von der Schuld und Mitverantwortung der christlichen Kirchen, unserer Kirchen zu sprechen und sie zu bekennen. Der moderne, politische und rassische Antisemitismus hat entscheidend auch christliche Wurzeln ... Wenn immer wir heute über das Verhältnis von Christen und Juden reden, dann können wir nicht in der Abstraktion theologischer Glasperlenspiele verharren.«[11]

 

Vor dem Hintergrund der historischen Frage, nämlich der christlichen Schuld und Mitverantwortung an der Judenverfolgung und Judenvernichtung geht es Schaller dann allerdings um eine theologische Erkenntnis:

 

»Entscheidend war hier und ist hier die Frage, ob die Kirche erkennt und anerkennt, daß Israel, das Judentum, keine überholte und erst recht keine ›tote Religion‹ ist, wie es Schleiermacher formuliert hat, sondern daß Israel, das Judentum, auch heute unverändert unter der Erwählung Gottes steht, Gottes Volk ist und daher der Kirche als selbständiger Partner gegenübersteht und es von daher eine wirkliche, grundlegende Gemeinschaft zwischen Christen und Juden gibt.«[12]

 

Die bleibende Erwählung Israels als Volk Gottes ist demnach der entscheidende Aspekt, das Verhältnis von Christen und Juden als »grundlegende Gemeinschaft« zu bezeichnen.

 

Schaller beschreibt im Folgenden den Erkenntnisprozess im christlich-jüdischen Gespräch und verweist auf die Arbeit der »AG Christen und Juden« beim DEKT seit 1961, auf den Rheinischen Synodalbeschluss und auf die EKD-Studie »Christen und Juden II«. Dezidiert spricht Schaller von Israel als dem Partner der Kirche.[13] Entscheidende Grundlage dieser Partnerschaft ist für ihn die Gemeinsamkeit des Glaubens an den einen Gott, der Israel erwählt und die Kirche berufen hat, »der sein Heil für alle Menschen vollenden wird.«[14] Dieser Gott sei der Gott Israels, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Vater Jesu Christi und nicht ein allgemeiner, philosophischer Gottesglaube. Dies verbinde, über alle Trennungen hinweg und durch alle Trennungen hindurch, die Kirche mit dem Judentum und eröffne eine neue Perspektive der Verbindung und Beziehung.

 

Diese neue Sicht nivelliere jedoch nicht die Unterschiede. Der Differenz- und Konfliktpunkt sei das im Rheinischen Synodalbeschluss formulierte Bekenntnis zu dem »Messias Israels, der der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet.« Für jeden Juden sei das eine Zumutung:

 

»Um seines Glaubens willen muß er hier nein sagen. Um unseres Glaubens willen müssen wir es ihm zumuten. Die Frage an uns ist: Wie gehen wir mit seinem Nein um?«[15]

 

Schaller redet nicht einem theologischen Besitzverzicht das Wort und nivelliert nicht die Differenzen zwischen Juden und Christen. Aber er betont, anders als Strecker, nicht die Differenzen, sondern die theologischen Grundlagen des gemeinsamen Glaubens von Juden und Christen. Er bringt die Diskussion auf den entscheidenden Punkt, wenn er den christlichen Umgang mit dem jüdischen Nein ins Spiel bringt. An dieser Stelle seines Vortrags geht Schaller erneut direkt auf Strecker und den Artikel im Göttinger Tagblatt vom 12.5.1992 ein:

 

»Hier kommt die Frage nach Rolle und der Berechtigung der Judenmission ins Spiel. ›Fortfahren mit der Judenmission‹, so stand es vor ein paar Tagen im Lokalteil des Göttinger Tageblatts zu lesen im Zusammenhang eines Berichtes über ein Votum auf der Synode der Hannoverschen Landeskirche. Der Verzicht auf Judenmission bringe die Kirche in eine ›Schieflage‹ hieß es da weiter. ›Mit dem Verzicht auf die Judenmission verliere die evangelische Kirche ihre Identität.‹ Wie bei jeder Zeitungsmeldung kann man nicht unbedingt davon ausgehen, daß sie im Wortlaut ganz stimmig ist, aber daß sie in der Sache sich zutreffend äußert – auch wenn etwas verkürzt, ist auch auf Nachfrage hin nicht dementiert worden.«[16]

 

Schaller nimmt in seinen weiteren Ausführungen Streckers Verweis auf den »Missionsbefehl« Mt 28 als theologische Grundlage der »Judenmission« auf:

 

»Auf den ersten Blick scheint es ja auch durchaus folgerichtig, Judenmission zu fordern und die Bekehrung von Juden zu betreiben. Da gibt es doch den Taufbefehl des erhöhten Christus an die Jünger am Ende des Matthäusevangeliums: ›Gehet hin in alle Welt und taufet alle Völker.« Und da gibt es doch im Johannesevangelium ebenfalls ein Christuswort: ›Niemand kommt zum Vater denn durch mich.‹ Mission, auch und gerade an den Juden tut not. Das macht die Identität der Kirche, wenigstens der evangelischen Kirche aus. So zu reden, solches zu fordern, hat den Anschein theologischer Kompetenz. Aber in aller Deutlichkeit gesagt: dieser Schein trügt. So einfach und so schlicht läßt sich das Problem der Judenmission nicht beantworten.«[17]

 

Schaller beschreibt mit einer gewissen Ironie die klassische Argumentationsstruktur der Judenmission, die vom 19. Jahrhundert her bekannt ist und ausführlich dargelegt wurde, und in deren Argumentationsgefälle sich Streckers Äußerungen bewegen. Danach gilt der missionarische Auftrag der heidenchristlichen Kirche im Gegenüber zu Israel und der Völkerwelt universal und grenzenlos.

In vierfacher Weise stellt Schaller diese Argumentationsstruktur in Frage:

 

1.             Zuerst befragt er die Motivation derer, die erneut Judenmission als Identitätsmerkmal der Kirche einklagt. Wer Judenmission heute fordert, muss sich nach seiner judenmissionarischen Betätigung fragen lassen. »Solange der Ruf ›Fortfahren mit der Judenmission‹ nur als Theorem vorgebracht wird, diskreditiert er sich selbst.«[18] In diesem Zusammenhang verweist er auf den Weg des von F. Delitzsch gegründeten »Evangelisch-Lutherischen Zentralvereins für Mission unter Israel«, der als einer der ältesten und traditionsreichsten Gruppen der organisierten Judenmission 1985 seinen Namen und, so die Meinung Schallers,[19] damit auch seine inhaltliche Ausrichtung in »Evangelisch-Lutherischer Zentralverein für Zeugnis und Dienst unter Juden und Christen« änderte. Schaller fragt also kritisch an die Adresse von Strecker: Wenn schon die in der Judenmission Aktiven diese problematisieren, dann diskreditiert sich eine theoretisch vorgebrachte Forderung von nicht aktiv Beteiligten von selbst.

 

2.             In einem zweiten Argumentationsgang wendet er sich den vorgebrachten theologischen Argumenten zu. »Schon im Blick auf das Neue Testament ist ›Judenmission‹ durch uns höchst fragwürdig.«[20] Zumindest unsicher sei, so fährt er fort, ob der Missionsbefehl Mt 28 auch auf Israel und nicht nur auf die Völker zu beziehen sei. Im Blick auf Paulus würde es jedoch noch zweifelhafter, »ob wir Christen aus den Heiden überhaupt berechtigt sind, Juden zu missionieren.«[21] Die missionstheologische Aussage des Rheinischen Synodalbeschlusses, wonach die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völker wahrnehmen kann,[22] lasse sich nicht einfach zur Seite »wischen«.[23]

 

3.             Drittens fragt er nach dem historischen Recht der Judenmission in Deutschland. Wenn im Namen der Glaubensverkündigung, »ja sogar unter Hinweis auf den Missionsbefehl Christi«[24] die Juden verfolgt und vernichtet worden seien, dann sei angesichts dieser Schuld und Mitverantwortung der Kirchen »mehr Bescheidenheit und Bußfertigkeit«[25] angebracht. Mit Verweis auf P. Lehnhardt, einem französischen Mönch in Jerusalem, fordert er vor aller Mission für längere Zeit den Juden gegenüber eine humane und religiöse Bewährung. Eine solche Bewährung aber stünde noch aus.

 

4.             Schallers entscheidendes, theologisches Argument, das in der Diskussion weithin vernachlässigt wird, ist die Frage nach dem Subjekt der missionarischen Sendung. Sind »Christen aus den Heiden« berechtigt, Juden zu missionieren? Neben der Betonung der bleibenden Erwählung Israels als Volk Gottes post Christum natum fragt Schaller kritisch nach dem missionarischen Mandat der heidenchristlichen Kirche gegenüber Israel. Die Verkündigung und Bezeugung Jesu als des Messias Israels war und ist, so ist aus der kritischen Anfrage zu folgern, allein jüdische und nicht heidenchristliche Angelegenheit. Der Weg des Evangeliums geht von Israel aus zu den Völkern. M.a.W.: Die Völkerwallfahrt zum Zion kann nicht eigenmächtig in eine Israelwallfahrt der Synagoge in die heidenchristliche Kirche uminterpretiert werden.[26]

 

V.3.3.                      Die Spaltung der Fakultät im Streit um die »Judenmission«

 

Auf Schallers Vortrag vom 17.5.1992 in der Göttinger Albanigemeinde, den er Strecker zukommen ließ, reagiert dieser mit einer öffentlichen Erklärung vom 26.5.1992. Darin weist er die Darstellung seiner Position sowohl durch den Artikel des »Göttinger Tageblatt« als auch Schallers Äußerungen »mit aller Schärfe zurück.« Er fühlt sich missverstanden, gar verleumdet und kündigt die gemeinsame Leitung des Doktorandenkolloquiums mit seinem Kollegen Schaller auf.

 

Der Konflikt zwischen den beiden Professoren um die »Judenmission« bleibt jedoch in der Folge kein persönlicher, sondern greift auf den Fachbereich Evangelische Theologie über. Durch öffentliche Aushänge in der Fakultät seitens der Fachschaft der Theologiestudierenden, durch Leserbriefe aus der interessierten Öffentlichkeit sowie einer öffentlichen Stellungnahme von Bewohnern des »Theologischen Stifts«, einer Einrichtung der Theologischen Fakultät, mit dem Titel »Verharmlosend die konkrete Schuld außer acht gelassen«,[27] in der Strecker mit Bezug auf den Rheinischen Synodalbeschluss sowie die EKD Studie »Christen und Juden II« scharf angegriffen wird, kommt es 1. zu einer in der Presse veröffentlichten Solidaritätserklärung von 13 Professorinnen und Professoren der Theologischen Fakultät mit Strecker.[28] Darauf antworten 2. 7 Professoren mit einem offenen Brief und einer theologischen Stellungnahme gegen die Erklärung der Göttinger »13«.

 

1.                            »Christliches Zeugnis gegenüber den Juden«

Die Erklärung der 13 Professorinnen und Professoren hat folgenden Wortlaut:

 

Christen müssen Jesu als Heil der Welt bezeugen

 

Betrifft: Christliches Zeugnis gegenüber den Juden

 

Anläßlich der Äußerungen unseres Fakultätskollegen Professor Dr. Georg Strecker vor der hannoverschen Landessynode zum Zeugnis der Christen gegenüber den Juden sowie anläßlich einiger Reaktionen darauf erklären wir:

 

Die christliche Kirche ist durch den Missionsauftrag des auferstandenen Christus »Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde« (Apg. 1.8) zum Zeugnis gegenüber allen Menschen und Völkern aufgerufen. Dieses Zeugnis steht in der Ausrichtung auf das jüdische Volk für uns unter besonderer Belastung und Verantwortung. Dies entbindet Christen aber nicht davon, Jesus als Heil der Welt zu bezeugen. So entspricht es dem Gesamtzeugnis des Neuen Testaments, und schon der missionarische Weg des Apostels Paulus ist ohne sein Zeugnis gegenüber den jüdischen Gemeinden nicht zu verstehen. Die deutsche Schuld an der Judenvernichtung wird nicht dadurch gemindert, daß Christen die Botschaft des Neuen Testaments verändern oder verschweigen.

 

Professoren d. Theol. Fakultät: A. Aejmelaeus, J. Baur, H. Hübner, I. Mager, J. Martikainen, B. Moeller, E. Mühlenberg, U. Nembach, L. Perlitt, J. Ringleben, R. Smend, D. Wendebourg, G. Wießner.

 

Anders als Strecker vor der hannoverschen Synode bezieht sich die Erklärung nicht auf den sog. »Missionsbefehl« Mt 28, sondern auf die Verheißung der Zeugenschaft Jesu Christi an die (jüdische!) Jüngergemeinschaft von Jerusalem bis an die Enden der Erde aus Apg 1,8. Sie folgt damit einer Argumentationslinie der klassischen Judenmission des 19. Jahrhunderts, für die diese Stelle eine Schlüsselposition für die Begründung der universalen Sendung der Kirche in die Welt einschließlich des Judentums innehatte.[29]

 

Um die Universalität der missionarischen Sendung geht es auch in der Erklärung der 13 Göttinger Professoren. Indirekt bezieht die Erklärung mit diesem universalistischen Ansatz die Position Streckers, die er auf der Hannoverschen Synode gegen die Redewendung von einem »geschwisterlichen Verhältnis von Juden und Christen« formuliert hatte. Die universale missionarische Sendung der mehrheitlich heidenchristlich gewordenen Kirche, d.h. Judenmission in Analogie zur Völkermission einerseits und ein geschwisterliches- bzw. partnerschaftliches Verhältnis der heidenchristlichen Kirche zum Judentum auf Grund dessen bleibender Erwählung andererseits sind der alles bestimmende grundsätzliche Streitpunkt. Für die Verfasser der Erklärung gibt es keine besondere Beziehung zwischen Israel und der Kirche, die es theologisch notwendig machen würde, das Verhältnis von Israel und Kirche, von Juden und Christen von dem christlichen, missionarischen Verhältnis zu anderen Religionen und Weltanschauungen kategorial zu unterscheiden.

 

Inwieweit die Begründung einer unterschiedslosen universalen Sendung der heidenchristlichen Kirche durch Apg 1,8 gedeckt ist, bleibt auch exe­getisch fraglich.[30] Die Argumentationsstruktur ist eher biblizistischer, denn historisch-kritischer Natur, wenn das Programm und Dispositionsschema der lukanischen Apostelgeschichte zum zeitlosen »Missionsauftrag« stilisiert wird. Auch in der Erklärung vermisst man eine deutliche Differenzierung zwischen der Beauftragung und Sendung der jüdischen Jüngerschaft und des Juden Paulus einerseits sowie dem missionarischen Auftrag der heidenchristlichen Kirche des 20. Jahrhunderts nicht nur post Christum natum et resuscitatum, sondern nach Auschwitz. Wenn in der Erklärung von »der« christlichen Kirche gesprochen wird, ist faktisch immer die heidenchristlich gewordene Kirche im Blick.[31]

 

Die Aussage »Dieses Zeugnis steht in der Ausrichtung auf das jüdische Volk für uns unter besonderer Belastung und Verantwortung«[32] lässt zumindest offen, wie sich diese besondere Last und Verantwortung gerade für die Christenheit in Deutschland nach Auschwitz konkret auswirkt. Dass es, unabhängig von der grundsätzlichen theologischen Frage nach Sinn und Berechtigung christlicher »Judenmission«, eine historische Infragestellung derselben auf Grund der Mitverantwortung und Schuld am Holocaust geben könnte, ist für die Erklärung nicht im Blick. Dieser Eindruck verstärkt sich in den folgenden Überlegungen der Erklärung. Mit der die konkrete Mitverantwortung und Schuld relativierenden Formulierung »besondere Belastung und Verantwortung« wird betont, dass selbst »Auschwitz« kein Grund ist, auf das judenmissionarische Zeugnis den Juden gegenüber zu verzichten. Jesus, auch dies impliziert diese Formulierung, gehört als zu Bezeugender an die Seite der heidenchristlichen Kirche, nicht als der Jude Jesus und Messias Israels natürlicherweise (vgl. Röm 9,5) an die Seite Israels. Auch nach Auschwitz gilt es, wie der Apostel Paulus es vorgelebt hat, den jüdischen Gemeinden gegenüber missionarisch zu wirken.

 

Mit der Klassifizierung von Apg. 1,8 als »Missionsauftrag« und der Formulierung »der missionarische Weg des Apostels Paulus« macht die Erklärung deutlich, dass es ihr nicht nur um ein selbstverständliches Bezeugen des eigenen Glaubens an Jesus, das Heil der Welt, im Kontext eines »geschwisterlichen«, innerbiblischen Dialogs mit dem Judentum geht, sondern um die Ausübung eines missionarischen Auftrags der Kirche in Form des »missionarischen Zeugnisses«. Dabei wird einerseits die Gestalt der vorfindlichen Kirche als »heidenchristliche« nicht problematisiert und andererseits das Judentum der »Welt« zugeordnet und damit paganisiert.

 

Die Sprachregelung der Erklärung wirkt verschleiernd, weil der strittige Begriff der Judenmission, den Strecker vor der Hannoverschen Synode ausdrücklich verwandt hatte, vermieden wird. Die judenmissionarische Intention der Erklärung steht jedoch außer Frage.

 

Als in der Formulierung zutiefst problematisch erweist sich der abschließende Satz der Erklärung:

 

»Die deutsche Schuld an der Judenvernichtung wird nicht dadurch gemindert, daß Christen die Botschaft des Neuen Testaments verändern oder verschweigen.«[33]

 

Abgesehen davon, dass die »Schuld an der Judenvernichtung« nicht nur ein deutsches, sondern ein christliches Problem darstellt, wird hier zweierlei unterstellt: Einmal, dass es Christen gebe, die Juden gegenüber die christliche Botschaft verändern oder verschweigen. Nun mag es dies gelegentlich auch geben. Unterstellt wird dies jedoch, bedenkt man den Kontext der Erklärung, implizit all denen, die ausdrücklich im Kontext dieses Streites um die Judenmission bzw. des »judenmissionarischen Zeugnisses« von einer »geschwisterlichen« Beziehung von Juden und Christen ausgehen und damit eine kritische Haltung der Judenmission gegenüber einnehmen.

 

Zum anderen wird unterstellt, dass diese Veränderung und dieses Verschweigen der neutestamentlichen Botschaft geschehe, damit die Schuld an der Judenvernichtung gemindert und damit wenigstens partiell gesühnt werde.

 

Dieser Satz fällt ein vernichtendes Urteil über alle, die in dieser Angelegenheit anders denken. Eine theologische Auseinandersetzung in der Sache wird damit außerordentlich problematisch. Nicht ohne Grund fühlten sich die an der Diskussion Beteiligten »verketzert.«[34]

 



[1]    Aktenstück Nr. 36A der 21. Landessynode der Ev.-Luth. Landeskirche Hannover.

[2]    Im Bericht des Ausschusses für Weltmission und Ökumene heißt es wörtlich: »Im Ausschuss wurde die Frage nach der Wichtigkeit und den Grenzen des interreligiösen Dialogs intensiv diskutiert. Christen haben es zu lernen, bei der Begegnung mit Menschen anderen Glaubens empfindsamer zu werden. Die Notwendigkeit eines weltweiten Konziliaren Prozesses – Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – fordert geradezu den interkulturellen und interreligiösen Dialog. Dabei geht es auch entscheidend um die Frage, ob und inwieweit das Christentum zu einem offenen, respektierenden Gespräch mit anderen Religionen bereit ist, ohne damit zugleich den Anspruch auf Mission aufzugeben.« Vgl. Aktenstück 36 A, 4. Der Bericht des Ausschusses legt nahe, zwischen dem »geschwisterlichen« Verhältnis zwischen Christen und Juden einerseits und der dialogischen Mission im interreligiösen Dialog andererseits zu unterscheiden.

[3]    Jetzt abgedruckt in: Materialdienst Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau 5/1992, 18.

[4]    Laut »Göttinger Tagblatt« vom 12.5.1992 äußerte sich Superintendent Hinrich Buß aus Wolfsburg mit den Worten: »Mir hat's die Sprache verschlagen.«

[5]    Materialdienst 5/1992, 18.

[6]    RSB 4 (1), UuE, 264; CuJ II, 16.

[7]    B. Klappert: Israel und die Kirche, 22ff.

[8]    Vgl. beispielhaft CuJ II, 25.

[9]    So J.-C. Kaiser: Evangelische Judenmission im Dritten Reich, 207f.

[10] Gekürzt veröffentlicht in: Evangelische Aspekte 2/1992, Heft 4, 4–7 unter dem Titel: »Nicht in der Abstraktion theologischer Glasperlenspiele! Das Gespräch zwischen Juden und Christen: Stand und Aufgabe.« Zitation erfolgt nach der Vortragsfassung mit dem Titel: »Das Gespräch zwischen Juden und Christen: Stand und Aufgabe«, Handakte B. Schaller.

[11] B. Schaller: a.a.O., 1f.

[12] B. Schaller: a.a.O., 4.

[13] Ebd.

[14] B. Schaller: a.a.O., 7.

[15] Ebd.

[16] B. Schaller: a.a.O., 8. In einer öffentlichen Erklärung vom 26. Mai 1992 bestätigt Strecker die im Vortrag von Schaller erwähnte Nachfrage: »Herr Schaller rief mich vor seinem Vortrag in der Albani-Gemeinde an und fragte, ob die GT-Darstellung [Göttinger Tagblatt] der Wahrheit entspräche. Ich habe ihn damals darauf hingewiesen, daß der Begriff ›Judenmission‹ nur am Rande genannt worden sei ...« Der Vergleich zwischen Streckers Äußerungen auf der Synode und dem Zeitungsartikel bestätigt Schallers Darstellung. Die Analyse hat gezeigt, dass Streckers Forderung nach erneuter Judenmission ein zentrales Anliegen und kein Randthema seiner Äußerungen auf der Synode war.

[17] B. Schaller: a.a.O., 8.

[18] Ebd.

[19] Vgl. kritisch dazu Kap. V.2.1.

[20] Ebd., Kursivierung R.B.

[21] B. Schaller: a.a.O., 9.

[22] Vgl. RSB Ziffer 4 (6), UuE, 265.

[23] B. Schaller: a.a.O., 9.

[24] Ebd.

[25] Ebd.

[26] So B. Klappert: Eine Christologie der Völkerwallfahrt zum Zion, 298.

[27] Göttinger Tageblatt vom 21.5.1992.

[28] epd vom 24.6.92; EZ vom 26.6.92; Göttinger Tageblatt vom 30.6.92.

[29] Vgl. Kap. I.3.3.

[30] Vgl. die ausführliche Exegese in Kap. VI.

[31] Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, sprechen wir hier von der »heidenchristlichen Kirche« bzw. der »ökumenischen Völkerkirche«.

[32] Vgl. oben Erklärung der Göttinger »13«.

[33] Ebd.

[34] So die Wertung B. Schallers: »Judenmission« und christliches Zeugnis. Anmerkungen zu einem unzeitgemäßen, aber nötigen Streit. In: RKZ 9.92, 254. In einem Brief vom 27.6.1992 schreibt Schaller an die Unterzeichner / innen der Erklärung: »Daß Sie der Ansicht waren, das Votum des Vertreters unserer Fakultät vor der Landessynode zur ›Judenmission‹ begleiten und stützen zu sollen, ist Ihre Sache. ... Daß am Schluß der Erklärung (nach den Regeln der Rhetorik gemeinhin der Höhepunkt einer Aussage) der Satz steht: ›Die deutsche Schuld an der Judenvernichtung wird nicht dadurch gemindert, daß Christen die Botschaft des Neuen Testaments verändern oder verschweigen‹, kann ich aber nicht unkommentiert lassen. Haben Sie wirklich überlegt, was Sie damit sagen? In aller Offenheit und Deutlichkeit gesagt: Ich empfinde es als beschämend, daß ein Theologe einen solchen Satz sich hat ausdenken können und daß andere ihn unterschrieben haben. Haben Sie nicht gemerkt, daß dieser Satz eine unglaubliche Verleumdung enthält. Unter der Hand besagt er nichts anderes, als daß es Christen gibt, die darauf aus sind, die ›Botschaft des Neuen Testaments‹ zu verändern oder zu verschweigen, um die deutsche Schuld an der Judenvernichtung zu mindern (oder – wie es im ursprünglichen Textentwurf sogar noch hieß – zu sühnen). Das ist gleich eine doppelte Unterstellung. Hier wird zum einen unterstellt, daß es Leute gibt, die im Blick auf das Judentum ›die Botschaft des Neuen Testaments‹ (es lebe der Pauschalismus) verändern oder verschweigen. Wer ist damit eigentlich gemeint? Der unbefangene Leser kommt kaum darum herum, die im Text erwähnten kritischen Reaktionen auf das Votum vor der Synode damit in Verbindung zu bringen. Wenn es beabsichtigt war, nähert sich das der Rubrik ›falsches Zeugnis‹, wenn es nicht beabsichtigt war, gehört es unter die Rubrik ›Fahrlässigkeit‹. Aber das ist noch nicht alles. Der letzte Satz unterstellt nicht nur ein Verschweigen oder Verändern des Evangeliums, sondern darüber hinaus, daß dies geschehe, um Schuld zu mindern (und damit zu sühnen). Sie mögen es oder sich wenden wie Sie wollen, was hier absichtlich oder unabsichtlich behauptet wird, hat mit sachlicher Kritik nichts mehr zu tun. Dem Gegenüber, dem ›Gegner‹ – wer immer es sei – wird eine Absicht unterschoben, die ihn theologisch wie moralisch diskreditieren soll.«