Urteil statt Vorurteil. Heute:
Der Zorn des Mose
von Klaus-Peter Lehmann
Darstellungen von Mose, der in heiligem Zorn über
den Rückfall Israels in den Götzendienst die Gesetzestafeln
vom Sinai zerschlägt, sind im christlichen Abendland allgemein gegenwärtig
Die biblisch beeinflussten Kulturkreise, ob christlich, humanistisch aufgeklärt
oder islamisch, sehen Mose als strengen Gesetzgeber an ihrem geschichtlichen
Ursprung. Im Abendland gilt er als Vorläufer der christlich-humanen
Kultur, der jedoch als unbeherrscht zorniger Charakter die Züge eines
Gewaltherrschers annehmen kann. Als Verkünder des neben sich keinen
anderen duldenden Gottes, der jede Überschreitung seines Gesetzes
unbarmherzig ahndet, steht Mose zwar für eine allgemeine Moral, oft
aber auch für den lebensfeindlichen Rigorismus eines diktatorischen
Monotheismus. Die auf einen Übersetzungsfehler (1) zurückgehende
Darstellung des Mose mit zwei Hörnern verleiht seiner Gestalt zusätzlich
etwas Satanisches. Durch diese Schlagseite im abendländischen Bild
von Mose erscheint er modernen Bibelkritikern leicht als die Quelle des
religiösen Fundamentalismus. Damit wäre das antijudaistische
Vorurteil komplett. Auch wo das Mosebild weniger ins Gewalttätige
verzerrt erscheint, wie im Islam, (2) gilt er als Vorgänger der eigenen
Religion und Kultur. Der jüdische Mose bleibt immer verborgen. Außerhalb
des Judentums bleibt weitgehend unbekannt, weshalb er dort Rabbenu, d.h.
unser Lehrer genannt wird, und als sanftmütig gilt.
Nach biblischem Zeugnis entrüstete sich Mose erstmalig,
als er sah, wie ein ägyptischer Aufseher einen hebräischen Sklaven
schlug. Er eilte seinem Bruder zu Hilfe und erschlug dabei den Ägypter
(2Mose 2,11f). Auf seiner anschließenden Flucht nach Midian half
er Frauen, die ihre Schafe tränkten, gegen Hirten, die sie vom Brunnen
vertrieben hatten (2Mose 2,16f). Mose entdeckte den unterdrückten
Mitmenschen, der seine Solidarität beansprucht. Dem verdankt sich
der Exodus, die Befreiung Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten. Denn
in der Folge beruft der Gott der Väter, der die Elenden befreit (2Mose
3,6), den zu seiner rechten Hand, der im Geschlagenen und Vertriebenen
seinen Nächsten erkannte, dass du mein Volk, die Israeliten, aus
Ägypten führest (2Mose 3,10). Die Mosebücher sehen Gott
und Mose, beide zusammen, als Führer der Israeliten aus Ägypten
(2Mose 7,4; 20,2; 6,26f) und durch das Schilfmeer (2Mose 14,27-30; vgl.
Jes 63,12). So vertrauten sie dem Herrn und seinem Knecht Mose (2Mose
14,31).
Wer seinen leidenden Mitmenschen als Nächsten erkannt
hat, lässt nur den Erbarmer der Bedrückten als Gott gelten,
in Israel und für die ganze Welt: Wenn ihr auf meine Stimme hört
und meinen Bund haltet, so sollt ihr vor allen Völkern mein Eigentum
sein; denn mein ist die ganze Erde (2Mose 19,6). Immer spricht das Alte
Testament von Gottes Zorn, wo Unrecht herrscht und Unbarmherzigkeit. Witwen
und Waisen sollst du nicht bedrücken. Wenn du sie doch bedrückst,
und sie schreien zu mir, so werde ich ihr Schreien gewiss erhören,
und mein Zorn wird entbrennen (2Mose 22,22f). In der Bibel geht es, bei
Gott wie bei Mose, um den Zorn des Gerechten gegenüber denen, die
die Gerechtigkeit als Weisung für ihr Leben zurückweisen und
andern Göttern dienen wollen.
Der Zorn des Mose in der berühmten Erzählung
vom goldenen Kalb (2Mose 32) bezieht sich auf die Israeliten, die soeben
die ewigen Weisungen des gerechten Gottes spontan und feierlich angenommen
hatten (2Mose 24,7f) und wenig später dem Gott des Reichtums und
der Fruchtbarkeit im Götzenbild eines Kalbes die Ehre gaben.
Das hebräische Wort, das mit "Zorn" wiedergegeben
wird, bedeutet auch "Entrüstung", die Regung im menschlichen
Inneren angesichts eines großen Unrechts. "Wer etwas im Zorn
zerbricht, handelt wie ein Götzendiener", sagt eine rabbinische
Überlieferung. Moses Entrüstung angesichts des Kalbes ist aber
alles andere als ein ungezügelter Gefühlsausbruch. So ist zu
unterschieden zwischen den Zorn des Gerechten, einer moralisch getragenen
Entrüstung, und dem Zorn als unkontrolliertem Wutausbruch. Der wahre
Scherbenhaufen besteht darin, dass Israel, am Sinai soeben zum Träger
der denkbar gerechtesten Gesetze erwählt (5Mose 4,8), diese einzigartige
Weisung zum Leben ohne ersichtlichen Grund verworfen und sich dem Wahn
eines Kultes menschlicher Potenz ergeben hat. Schon am Fuße des
Sinai zeigte Israel sich der Erwählung nicht würdig und verschmähte
sie. Wird Gott diese Selbstverwerfung Israels hinnehmen? Dagegen stemmt
sich Mose flehentlich. Der Verwerfung durch Gott, die gerecht wäre,
stellt er Gottes Barmherzigkeit und Treue entgegen, die seinen eigenen
Verheißungen wesenhaft eingeschrieben sind: Lass ab von der Glut
deines Zorns und lass dich das Unheil gereuen, das du über dein Volk
bringen willst. Gedenke deiner Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen
du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen
so zahlreich machen wie die Sterne am Himmel, und dieses ganze Land, von
dem ich gesprochen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen
es für immer besitzen (2Mose 32,12bf). Zwar übernimmt Mose den
Zorn Gottes (2Mose 32,10.19), bringt ihn aber nicht ohne das Kleid der
Barmherzigkeit zur Geltung. Indem er die Bundestafeln vom Sinai mit hinabnimmt
und zerschmettert, kommt der gerechte Zorn, die Entrüstung angemessen
zur Darstellung. Indem Mose, der zuvor von Gott die Treue zu seinem Volk
erflehte (2Mose 32,11-14), das tut, bleibt die Situation offen für
einen Neuanfang. Die Gabe der neuen, steinernen Bundestafeln markieren
ihn (2Mose 34). So bringt der Zorn des gerechten Mose, der von der Barmherzigkeit
und Heiligkeit Gottes entflammt ist, gerechte Entrüstung zum Ausdruck.
Mose steht dafür, dass die Menschen von der Vergebung leben, weil
sie ihnen durch moralische Umkehr den Weg zur Heiligung des Lebens erneut
eröffnet.
Mit der Wendung zum Götzendienst wäre Gottes
menschheitsgeschichtliches Projekt "Israel", ein Volk unter
allen, beispielgebend für alle, zum Licht seiner Gerechtigkeit zu
erwählen, schon in seinen Anfängen gescheitert - wenn nicht
Mose Gottes berechtigten Zorn besänftigt und adäquat umgesetzt
hätte (2Mose 32,7-14).
Mose steht nicht nur für Befreiung, Gerechtigkeit
und Heiligkeit, sondern auch für Sanftmut oder Demut. Die Bibel nennt
ihn den sanftmütigsten Menschen (4Mose 12,3), weil er sich gegen
die ungerechtfertigten Anschuldigungen seiner Geschwister Aaron und Mirjam
nicht zur Wehr setzte, sondern Gott das Urteil überließ. Mose,
der Israel die Tora vermittelte, verkörpert auch ihren Friedensgeist,
von dem alle Menschen ergriffen werden sollen. So kann eine rabbinische
Auslegung von 1Mose 1,1 auf die Frage, um wessen willen die Welt erschaffen
wurde, antworten: um der Tora willen und: um Mose willen. (3)
Der Exodus und die Tora, das Pesachfest, diese ewige Tradition
eines Befreiungsfestes (2Mose 12,14), und das einzige Gesetzeswerk der
Menschheit auf allein moralischer und ritueller Grundlage sind mit Mose
auf immer verbunden. Mit Mose ist in der Geschichte eine neue Stunde angebrochen,
die der Erlösung vom Elend, der Befreiung aus Knechtschaft und der
begründeten Hoffnung auf eine gerechte Menschengesellschaft.
Die ewige Erinnerung an den Exodus durch die Pesachfeier,
auf der das Brot des Elends und der Wein der Freiheit getrunken werden
(2Mose 12,14-17), halten die Tür zur Erlösung Israels und der
Menschheit offen. Kann sie wieder zufallen? Jeder Jude, der nach der Tora
lebt, trägt das Joch des Reiches Gottes. Im Judentum galt schon immer
der durch Mose angeführte Exodus als Vorbild der endgültigen
Erlösung durch den Messias. Auf einem öffentlichen Disput 1263
in Barcelona antwortete der jüdische Gelehrte Nachmanides seinen
kirchlichen Kontrahenten, die nachzuweisen versuchten, dass der Messias
schon gekommen sei: der Messias werde erst gekommen sein, wenn er, wie
einst Mose vor den Pharao, vor den Papst trete und fordere: Entlasse mein
Volk (2Mose 5,1).
Auch das Neue Testament sieht Mose in messianischer Spur.
Aus Glauben ... achtete er die Schmach des Messias für größern
Reichtum, als die Schätze Ägyptens. Aus Glauben verließ
er Ägypten, ... denn er hielt an dem Unsichtbaren fest, als ob er
ihn sähe (Hebr 11,24ff). Glaube ist messianisch, Zuversicht auf das,
was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht (Hebr
11,1). Grundlage des Messias-Glaubens ist die Treue zur Tora des Mose:
Wenn ihr Mose glaubtet, würdet ihr mir (dem Messias Jesus) glauben
(Joh 5,46; s.a. Lk 16,31).
Die kirchliche Tradition hat ihren Bezug auf Mose und
den Exodus verengt und verzerrt. Nirgendwo behalten Exodus, Pesach und
Moses den prophetischen Horizont einer Befreiung für die Menschheit,
die in Israel anhebt. Für Augustinus gibt es keinen geschichtlichen,
nur noch einen symbolischen Bezug. Das Pesach-Lamm degeneriert zum Vorzeichen
des erlösenden Leidens Christi. Die Tora verliert ihre vorbildhafte,
universalgeschichtliche Bedeutung eines Gesetzes, dessen einziges Motiv
der Hunger nach Gerechtigkeit ist (5Mose 4,8; Mt 5,6). Auch Luther verkleinerte
und verzerrte die Aufgabe des Gesetzes des Mose: "Moses ist aller
Henker Meister, und niemand ist über ihm noch ihm gleich mit Schrecken,
Ängstigen, Tyrannisieren, Dräuen und dergleichen Strafpredigten
und Donnerschlägen. Denn er greift das Gewissen mit der Schärf
hart an, schreckts, marterts, stockts und plockts, und solch aus Gottes
Befehl als sein Statthalter."
Darin liegt ein wichtiger Aspekt des christlichen Antijudaismus.
Er nimmt der Tora Israels ihre Barmherzigkeit und ihre universale Gerechtigkeit
und ordnet beides allein der kirchlichen Verkündigung zu. Unter diesem
Blickwinkel mutiert auch der Zorn des Mose. In ihm drückt sich nicht
mehr die gerechte, moralische Empörung über den Abfall von dem
Gott aus, der aus der Sklaverei befreit (2Mose 20,2). Sondern er steht
nun für ein antijüdisches Vorurteil, die Tyrannei eines unduldsamen
Gesetzgebers. Deshalb sei zum Schluss darauf hingewiesen, dass nach der
Ausrufung des Dekalogs die Tora des Mose in ihren Einzelweisungen mit
Anordnungen zur Befreiung von Sklaven einsetzt, Bestimmungen, die in der
Antike ohne Vergleich dastehen (2Mose 21,1-11). (5)
(1) Hieronymos übersetzt 2Mose 34,29f, dass Moses
Antlitz gehörnt war, und die Israeliten sich deshalb vor ihm fürchteten,
als er mit den zweiten Gesetzestafeln vom Sinai herabkam. Richtig übersetzt
heißt es, dass er nicht wusste, dass die Haut seines Antlitzes strahlend
geworden war, als er mit dem Herrn redete.
(2) Im Koran erscheint Mose als Vorgänger Mohammeds,
der von den Israeliten die Almosensteuer forderte und ihnen keine "drückende
Verpflichtung" auferlegte. Auch der Koran betrachtet die Weisungen
der Tora, ihre rituellen Gebote, die Sabbat- und Speisevorschriften, die
ethischen Forderungen, als "Fessel" und hat keinen Sinn für
die jüdische Freude an der Tora (Sure 7,155b).
(3) Im Anfang / reschit schuf Gott Himmel und Erde. Das
hebräische Wort reschit bezeichnet Umfassenderes als den zeitlichen
Anfang, nämlich das Prinzip, den Urgrund, den Erstling. Damit legt
sich mit Beginn der biblischen Lektüre automatisch die Frage nahe:
Aus welchen Grund erschuf Gott die Welt? In der Bibel geht es von Anfang
an geht es um ihren Zweck, den Sinn des Lebens.
(4) Viele Kritiker des biblischen insbesondere des alttestamemtlichen
Glaubens sprechen von der mosaischen Unterscheidung und meinen damit die
Gewalthaltigkeit eines sich absolut setzenden, intoleranten Monotheismus,
der auf Mose zurückgehe und der antiken Welt eines friedlichen, religiös
toleranten Polytheismus, das Ende bereitet habe. Mit Mose und seinem rachedurstigen
Gott sei "eine neue Form von Hass in die Welt gekommen, der Hass
auf Heiden, Ketzer und Götzendiener." Demgemäß wird
die Erzählung vom Goldenen Kalb zur Schlüsselszene mit einem
vor intoleranter Wut rasenden Anführer Mose (Der Spiegel, 22.12.06,
S. 113 mit Berufung auf den Ägyptologen J. Assmannn). Demgegenüber
ist anzumerken: Die Welt des Polytheismus war keineswegs eine prinzipiell
friedliche. Voraussetzung der religiösen Toleranz war die politische
Unterordnung der Unterworfenen. Andererseits ist die Einzigkeit des biblischen
Gottes kein willkürliches Prinzip religiöser Diktatur, sondern
die einzige Wahrheit dieses Gottes ist Befreiung von allen Formen menschlicher
Entwürdigung und abstrichlose soziale Gerechtigkeit (Jer 22,16).
Mit diesem Gott der Gerechtigkeit sind Religionen und Götter, die
Sklaverei und Ungerechtigkeit tolerieren, nicht vereinbar.
(5) "Moses wollte nicht das Eigentum abschaffen,
er wollte vielmehr, dass jeder dessen besäße, damit niemand
durch Armut ein Knecht mit knechtischer Gesinnung sei. Freiheit war immer
des großen Emanzipators letzter Gedanke, und dieser atmet und flammt
in allen seinen Gesetzen, die den Pauperismus betreffen. Die Sklaverei
selbst hasste er über alle Maßen, schier ingrimmig, aber auch
diese Unmenschlichkeit konnte er nicht ganz vernichten, sie wurzelte noch
zu sehr im Leben jener Urzeit, und er musste sich darauf beschränken,
das Schicksal der Sklaven gesetzlich zu mildern, den Loskauf zu erleichtern
und die Dienstzeit zu beschränken. Wollte aber ein Sklave, den das
Gesetz endlich befreite, durchaus nicht das Haus des Herrn verlassen,
so befahl Moses, dass der unverbesserliche servile Lump mit dem Ohr an
den Türpfosten des herrschaftlichen Hauses angenagelt würde,
und nach dieser schimpflichen Ausstellung war er verdammt, auf Lebenszeit
zu dienen. O Moses, unser Lehrer, Mosche Rabenu, hoher Bekämpfer
der Knechtschaft, reiche mir Hammer und Nägel, damit ich unsere gemütlichen
Sklaven in schwarzrotgoldner Livree mit ihren langen Ohren festnagle an
das Brandenburger Tor!" (H. Heine, Geständnisse).
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