"Es gibt keine Skala des Leidens"
Yehuda Bauer über Holocaustforschung, Bildungsmethoden und die Vergleichbarkeit
von Genoziden
Herr Bauer, das Haus der Wannseekonferenz eröffnet
wie zuvor zahlreiche andere Gedenk- und Lehrorte eine neue Ausstellung.
Gibt es nach mehr als sechzig Jahren noch Neues über den Holocaust,
das solche Investitionen rechtfertigt?
Bauer: Oh ja. Wir sind in der Erforschung der Schoa nicht
am Ende des Weges, sondern eher in der Mitte. Die Öffnung der Archive
in Osteuropa hat unzählige neue Dokumente und tausende von Zeugenaussagen
zutage gebracht, die man jetzt auswerten kann. Über das Schicksal
der Juden auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion (SU) gibt es bisher
fast keine Untersuchungen, wir wissen auch wenig über die Politik
der SU. Eine zusammenfassende Geschichte des Holocaust in Griechenland
fehlt bisher. Studien über die Juden in Italien sind ganz neu. Und
selbst zu den deutschen Juden, deren Schicksal sehr gut erforscht ist,
gibt es immer wieder Klärungsbedarf, wie der Streit um Götz
Alys Studie über die wirtschaftlichen Dimensionen des Holocaust gezeigt
hat. Zwar halte ich Alys These, die Schoa lasse sich mehr oder weniger
monokausal aus finanziellen Interessen ableiten, für falsch. Aber
die Tatsache, daß die Deutschen von der Judenverfolgung wirtschaftlich
profitiert haben und vom Regime auf diese Art bestochen worden sind, erscheint
mir ein wichtiger Einzelaspekt, der bisher vernachlässigt wurde.
Wie kommt es, daß solche Details jetzt erst erforscht
und diskutiert werden?
Bauer: Es gibt eine neue Generation von Forschern, die
einen neuen Blick hereinbringen. So gibt es jetzt erstmals ein Promotionsvorhaben
über das Verhältnis der Juden zu den Polen - nicht umgekehrt.
Grundsätzlich wird zum Holocaust heutzutage eher mehr gearbeitet
als weniger. Die Forschung mußte sich erst mal einen Überblick
über den Umfang des Themas befassen. Erst jetzt kommt die Möglichkeit
hinzu, Einzelaspekte und Einzelschicksale zu erforschen und mit dem Grundsätzlichen
in Zusammenhang zu bringen.
Sind Historiker wegen des hohen Alters der letzten Zeitzeugen
unter Zeitdruck?
Bauer: Nein. Wir sind auf neue Aussagen von Zeitzeugen
nicht angewiesen, zumal aus wissenschaftlicher Sicht Schilderungen von
Menschen über Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, nicht
immer weiterhelfen. Außerdem sind die Aussagen Zehntausender Zeitzeugen
dokumentiert. Es gibt 51.000 neuere Berichte der Schoa-Foundation, 33.000
alte bei Yad Vashem, weitere in Polen und Rußland, die kurz nach
dem Krieg niedergeschrieben wurden. Die Quellenlage ist gut. Die Herausforderung
bleibt, die drei Perspektiven Täter-Opfer-Zuschauer so zusammenzubringen,
daß sich ein politisches Gesamtbild ergibt.
Der zeitliche und damit auch emotionale Abstand zu den
Ereignissen wächst. Welche Rolle spielen authentische Orte und Einzelschicksale,
um jungen Menschen die Schoa begreiflich zu machen?
Bauer: Einzelschicksale zu zeigen, ist etwa in Yad Vashem
ein sehr wichtiger und vergleichsweise neuer Schwerpunkt. Dort, wo sich
die Schicksale einzelner in die allgemeine Erklärung einfügen,
können sie emotional aber auch intellektuell beeindrucken. Auch authentische
Orte sind wichtig. Aber man darf es nicht übertreiben. Auschwitz
sieht heute ganz anders aus, es wirkt fast friedlich. Der Schlamm, der
Terror, die Angst, der Gestank, all dies ist nicht mehr da. Es ist unverzichtbar,
dies Besuchern vorher zu erklären. Auf Besuche an authentischen Orten
muß man vorbereitet sein, sonst bringt es nichts.
Ist die Konfrontation mit dem Holocaust in Deutschland,
dem Land der Täter, schwerer als etwa in Israel?
Bauer: Auch in Israel ist die Identifikation mit den Opfern
nicht selbstverständlich. Sie kommt in jeder Generation erst nach
und nach, denn die Mehrheit der Israelis stammt nicht aus Europa und hat
zur Schoa familiär keine Verbindung. Jede Gesellschaft und jede Generation
ist anders. Das macht Bildung zu diesem Thema so anspruchsvoll.
Kann man die Schoa mit anderen Völkermorden vergleichen?
Bauer: Natürlich. Vergleichen heißt aber nicht
gleichsetzen. Das industrielle, unterschiedslose Töten von Menschen
allein aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit gab es so nur in der Schoa.
Es gibt aber auch Parallelen. Die wichtigste ist das Leid der Opfer. Alle
Opfer in allen Völkermorden erleiden dasselbe. Mord ist Mord, Kindermord
ist Kindermord. Da gibt es keine Skala.
Mit dem Holocaustforscher sprach Tobias Kaufmann.
Jüdische Allgemeine, 19.1.2006
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