Mitten im Alltag: Meditation über den Holocaust
von Marcus Franken
Um 9.30 Uhr schlafen die Touristen noch. Oder sitzen in
ihren Hotels und Pensionen am Frühstücksbuffet und planen bei
Berliner Schrippen mit Margarine ihr Tagespensum an Sehenswürdigkeiten.
Menschen, die in der Stadt arbeiten, eilen in bunten Kleinwagen am "Denkmal
für die ermordeten Juden Europas" vorbei, hinter hochgekurbelten
Scheiben sind sie in Gedanken beim Chef und den Kollegen. Der Bandwurm
von Autos und LKW schiebt sich durch den ehemaligen Mauerstreifen zwischen
Brandenburger Tor und Potsdamer Platz; ein unwirtlicher Ort, kein Kiez,
an dem die Stadt lebt wie in Moabit oder Pankow. Nur ein holländisches
Ehepaar läßt so früh am Morgen die Videokamera über
die Berliner Touristenattraktionen schweifen und erwischt mit absichtsloser
Neugierde die 2711 Betonstelen des Architekten Peter Eisenman. "Wo",
fragt der Mann freundlich auf deutsch, "geht es hier zum Checkpoint
Charlie?" Das Denkmal schweigt. Man kann nicht sagen, ob beleidigt
oder belustigt. Die Stelen saugen einfach die Wärme der frühen
Maisonne auf. Sie lassen die Welt zu sich kommen und geben ihr Rätsel
auf.
365 Tage nach der feierlichen Übergabe an die Öffentlichkeit,
38 Monate nach Baubeginn und 17 Jahre nachdem eine Bürgerinitiative
ein Denkmal forderte, herrscht jetzt der Alltag am Mahnmal. Ein Alltag
mit schreienden Kreissägen im Neubau der amerikanischen Botschaft,
einer Freßmeile an der Ostseite und Werbung für den 96. Katholikentag
an der benachbarten Vertretung des Saarlandes. Das Erhabene trifft das
Profane. Der Streit um die Entwürfe "Eisenman 1", "Eisenman
2", "Eisenman 3" und schließlich "Eisenman 2b"
ist nur noch in einem faustdicken Sammelband nachzulesen. In der Presse
ist es still geworden um das "offizielle Denkmal der Bundesrepublik
Deutschland zum Gedenken an die Ermordung der europäischen Juden".
Was ist aus all den Weissagungen und Befürchtungen
geworden, die über dem Denkmal ausgeschüttet wurden? Hat es
einen Schlußstrich unter der Debatte über die NS-Vergangenheit
gegeben? Lassen die Betonquader die Besucher gleichgültig? Was ist
mit den drei von vier Berlinern, die in einer Umfrage angegeben hatten,
das Mahnmal besuchen zu wollen, sind sie da gewesen? Und was haben sie
gedacht? Was haben sie gelernt? Hat das Denkmal einen Einfluß auf
die Menschen, die es betreten? Gar auf den Deutschen an sich und seinen
Umgang mit der eigenen Geschichte? Oder ist es, wie Robert Musil den Charakter
von Denkmälern beschreibt, mit der Zeit einfach unsichtbar geworden?
Hat man es schon vergessen?
Jede These hatte ihren Fürsprecher. Doch wenn man
sich jetzt auf die Suche nach Einfluß und Auswirkung des Denkmals
macht, dann scheint die Saat der Fragen keine Antworten hervorgebracht
zu haben. Die Klugen und die Lauten, die Berufenen und die Eingebildeten,
die Lobredner und Kassandra-Rufer haben das Interesse an ihren Thesen
schneller verloren, als sie in den Feuilletons abgedruckt waren. Nach
ihrer Erfüllung oder Widerlegung hat niemand mehr gefragt. Sicher
ist nur, daß im ersten Jahr eine halbe Million Menschen den "Ort
der Information" unter dem Stelenfeld besucht haben. Das zeigen die
Einlaßzähler. Die Zahl von 3,5 Millionen Besuchern für
das Stelenfeld dagegen ist eine bloße Schätzung: 10.000 Menschen
sollten pro Tag kommen. Gezählt wurden sie nie. "Es gibt auch
keine Untersuchung zur Wirkung des Denkmals", sagt Uwe Neumärker,
der die Mahnmal- Stiftung als Geschäftsführer leitet. Er selber
hat eine Umfrage wegen Finanzierungsschwierigkeiten abgebrochen, wie er
achselzuckend eingesteht. Man kann aus dem Schweigen den vorläufigen
Schluß ziehen, daß Berlin das Denkmal mit der gewissen Schnoddrigkeit
angenommen hat, mit der es alle Veränderungen anzunehmen pflegt.
Darum beginnt die Recherche an diesem Morgen bei den Leuten,
die immer da sind: den Wächtern. Stefan Kosellek, 55, ist einer der
Angestellten der Firma Kötter Security, die seit einem Jahr ihre
Bahnen um die Skulptur ziehen und so viele Besucher treffen wie sonst
niemand. Noch hat er Zeit, denn die Touristen rollen erst ab elf an. Das
Mahnmal liegt auf der Route zwischen Reichstag, Brandenburger Tor und
Potsdamer Platz. Reiseprofis wie die Berliner Tourismus Marketing GmbH
haben das Mahnmal längst in die Reihe der Berliner Sehenswürdigkeiten
eingereiht und laden zum "Bummeln" ein. Das USReisemagazin Travel
& Leisure hat dem Mahnmal sogar einen Preis in der Kategorie "Best
Cultural Place" (Bester kultureller Ort) verliehen. Das Denkmal und
die Imbißbuden als touristische Mahn-Mall. So kommen viele Ahnungslose
in den Tiergarten.
"Die meisten Leute sind nicht vorbereitet oder erwarten
so etwas wie das Goethe- Denkmal da drüben", sagt Kosellek und
zeigt auf das Standbild am Rande des Tiergartens, wo der alte Goethe denkmalgerecht
in die Landschaft blickt. Peter Eisenman, der Architekt des Mahnmals,
wollte nicht, daß man den Vorbeikommenden mit Schildern oder Tafeln
erklärt, was er da gebaut hat. Auch Wegweiser zum "Ort der Information"
hat man bewußt weggelassen. Nur ein paar Plexiglasschilder zwischen
den Pflastersteinen geben eine Art Hausordnung vor: Ruhe ist gefordert,
den Anweisungen des Sicherheitspersonals ist zu folgen. Den Besuchern
muß das sehr deutsch vorkommen - wenn sie denn die Sprache sprechen.
Aber mit der Hausordnung gibt es kaum Probleme, sagt Kosellek. Die Schüler,
die ihren Lehrern ausbüxen und von Stele zu Stele hüpfen, kommen
meist zurück, wenn er sie mit seinem einstudierten "Get down,
please" zur Ordnung ruft. Die deutsche Sprache wurde durch sie immerhin
um das Wort "Stelenspringer" bereichert. Und statt zu mekkern,
erklärt Kosellek den Touristen bereitwillig, was sie da betreten
haben, "bis ich Fransen am Mund habe". Mitarbeiter des "Ortes
der Information" verteilen Broschüren, wenn die Schlange vor
dem Untergeschoß nicht so lang ist und die Anstehzeit von zwei Stunden
auf ein paar Minuten sinkt. Formal fügt die Denkmals-Verwaltung sich
so dem Willen Eisenmans - um ihn leise mit lebenden Litfaßsäulen
zu unterlaufen.
Doch selbst wenn es sich gegen einfaches Verstehen sperrt,
nötigt das schweigende Feld den Passanten auf geheimnisvolle Art
und Weise Respekt ab: Als gingen sie in einen Tempel, drücken die
Leute ihre Zigaretten aus, bevor sie sich zwischen die Stelen begeben.
Eine Spur der Stummel zeugt davon. "Im Inneren finden wir kaum Zigaretten",
sagt eine Angestellte, die mit ihrer Greifzange Taschentücher und
kleinen Unrat aufliest.
Was aber empfinden die, die sich in den Schatten der Stelen
wagen? Am Rand des Feldes geht Martina Mehren, 25, mit einem Notizblock
auf die Touristen zu. Die Studentin tut für die Uni, was die Berufsredner
vergessen haben, nachdem sie sich in der Diskussion um das Denkmal verausgabt
hatten: Für ihre Examensarbeit "Das Holocaust-Mahnmal in Berlin
als Ort der Erinnerung - Besucherwahrnehmung und Besucherstruktur"
hat sie inzwischen 170 Passanten nach ihren Eindrücken befragt. "Die
ausländischen Besucher wissen oft nicht, was das hier ist",
sagt sie. Besonders für die vielen Japaner und anderen Asiaten ist
die Installation kaum verständlich. Ihnen könnte nicht einmal
Kosellek helfen, denn sie verstehen oft kein Englisch. Die Deutschen kämen
dagegen meist gezielt. Sie kennen das Mahnmal durch die jahrelangen Diskussionen
um die Gestaltung. Was noch nicht heißt, daß sie immer einen
Zugang dazu finden. Auch wenn sie es als Anwohner jeden Tag erleben.
"Ick weeß nich, was det soll", grummelt
Werner Wegener, 67, der mit seiner Frau Waltraut, 66, seit 15 Jahren in
den Plattenbauten an der Wilhelmstraße wohnt und sich zwischen Schrankwänden
mit Eichenfurnier eingerichtet hat. "Det is ja viel zu riesich, und
det is alles so schief und krumm." Unter einem Denkmal stellt sich
auch seine Frau etwas anderes vor. Mehr so wie Goethe. Die Wegeners hatten
die Hausmeisterstelle in dem Wohnblock und erzählen gerne über
Mieter wie Angela Merkel, Gregor Gysi, Franz Müntefering oder Günter
Schabowski - die beiden letzteren wohnen immer noch hier. Rund um das
Mahnmal beschäftigt sie jedoch weniger die Gestaltung als die Tatsache,
daß die früher so stille Straße vor ihrem Fenster jetzt
eine laute Durchgangsstraße ist. Das Denkmal, na ja. Es paßt
nicht besonders in ihre rechtwinklige Vorstellung vom Bauen. Aber zu teuer
finden sie es nicht. "Für 28 Millionen Euro kriegt man ja nich
ma' ne Radkappe vom Eurofighter", weiß Werner Wegener. Und
ein Gutes haben die vielen Touristen vor dem Haus auch: "Jetzt kriegt
man wenigstens immer eine Taxe", sagt Frau Wegener.
Im Chor der Meinungen fällt auf, daß bei allen
Schwierigkeiten zu verstehen, niemand das Denkmal wirklich ablehnt. Beobachter
am Rande haben das Gefühl, daß ihnen die Menschen gleichsam
verlorengehen, wenn sie langsam in die höher werdenden Stelen eintauchen.
Beim Blick durch die langen Wege zwischen den Betonquadern tauchen Leute
so plötzlich auf und verschwinden so unmittelbar wieder, daß
sie wie Gespenster wirken. Oder wie die, die willkürlich verschleppt
wurden? Am Abend und nachts wird das Mahnmal in der Dunkelheit und Stille
als intensiver empfunden, beängstigender. Aber selbst wenn die Stelen
tagsüber den Krach der Straßen und Baustellen nicht wegschlucken
können, erzählen die Besucher des Mahnmals von dem beklemmenden
Gefühl, das sich zwischen ihnen einstellt. So taucht das Wissen um
das Sterben der Juden Europas das Mahnmal in die Farbe von Tod und Verzweiflung.
"Irjendwie is det beengend", sagt Hausmeisterehefrau Waltraut
Wegener.
Auf Maximilian Johannson wirkt das Denkmal wie ein Massengrab.
Er sagt das nicht unfreundlich. Max lebt in Berlin und kam zum ersten
Mal kurz nach der Eröffnung her, weil er mit Freunden in der Gegend
war. Danach hat der 17jährige das Mahnmal noch einmal mit seiner
Schulklasse besucht. Der Holocaust ist Schulstoff in Geschichte, Deutsch
und Religion, mindestens. "Wir haben das Dritte Reich ungefähr
fünf Mal durchgenommen", das reiche ihm langsam. Dabei war seine
Großmutter Jüdin, und er sagt vorsichtig: "Das betrifft
mich irgendwo." Maximilian engagiert sich in evangelischen Kirchengruppen,
er trägt einen Zopf über einem gelben T-Shirt der Band Sex-Pistols,
er ist klug und kritisch und koordiniert seine Verabredungen für
den Nachmittag über das Handy. Das Massengrab, sagt er, sei gleichzeitig
"schön".
Zum "Ort der Information", in die spät
geplante Ausstellung zur Schoa unter dem Stelenfeld, führt der Weg
tief zwischen den Betontürmen hindurch. Obwohl von draußen
die Trillerpfeifen irgendeiner Demonstration hineinklingen und am Horizont
die Häuser nicht kleiner werden, erzählt Maximilian, daß
ihn hier eine Vorstellung davon erreicht, wie die Menschen in den Konzentrationslagern
sich gefühlt haben könnten: erdrückt von Trauer und ohne
einen Funken Hoffnung. Seine eigenen Urgroßeltern kommen aus der
Gegend von Stettin und sind, soweit man das weiß, im Warschauer
Ghetto umgekommen. Neu ist das alles für ihn nicht, was der "Ort
der Information" zeigt. Aber als er im ersten Raum die Bilder von
den Juden sieht, die im Warschauer Ghetto eingeschlossen sind, sagt er
schnell: "Bitte, können wir hier wieder rausgehen." Und
kämpft mit den Tränen.
So geht es vielen Besuchern. Jenseits der Informationen
und einer klaren präzisen Interpretation des Stelenfeldes ist ein
Gang durch das "Mahnmal für die ermordeten Juden Europas"
eine Meditation über den Holocaust. Über die Opfer. Auch darüber,
daß das Leben weitergeht. Am Rand des Feldes und am Rand des Holocaust.
Viele Besucher des Mahnmals weinen, wenn sie den kühlen und abgedunkelten
"Ort der Information" verlassen. Was draußen im Tageslicht
eine Ahnung ist, bekommt hier Stimme und Gesicht. Die Denkmal- Stiftung
hat ihre Mitarbeiter angewiesen, die Trauer in Gesprächen aufzufangen
und Taschentücher bereitzuhalten.
Jüdische Allgemeine, 11.5.2006
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