60 Jahre Seelisberger Thesen
von Friedhelm Pieper

Das Datum des 60. Jubiläums der "Emergency Conference on Anti-Semitism" 1947 im schweizerischen Seelisberg war Anlass für zwei Veranstaltungen im Juli diesen Jahres. Erinnerung wurde verbunden mit der Frage nach den künftigen Herausforderungen des jüdisch-christlichen Dialogs.

Die Konferenz im Lassalle Haus war geprägt von den Vorträgen von Dr. Christian M. Rutishauser SJ, Edlibach, Schweiz, Prof. Daniel M. Boyarin, Berkley, USA sowie Prof. Otmar Keel aus Fribourg, Schweiz.

C. Rutishauser versuchte unter dem Titel "Nach dem Feuer kam ein sanfte, leises Säuseln - Die bleibende Bedeutung des Judentums für die christliche Identität" eine Diagnose des christlich-jüdischen Dialogs. Nachdem für ihn die Pionierzeit des Dialogs an ihr Ende gekommen ist, erscheinen ihm für die Zukunft fünf Fragestellungen besonders wichtig:

1. Weitgehende Öffnung des Dialogs. Der spezifische jüdisch-christliche Dialog ist im Rahmen des allgemeinen interreligiösen Dialogs als besonderes Thema zu profilieren. Er darf gleichzeitig nicht ein Gebiet für Spezialisten bleiben, sondern muss in den christlichen und in den jüdischen Gemeinden in großer Breite verankert werden.

2. Ein neuer Blick auf die Geschichte. Die Schoah prägte die Pionierphase und bleibt ein ganz zentrales Thema. Heute hat der Nahostkonflikt erhebliches Gewicht bekommen. Daneben aber ist der Dialog für die gesamte Breite der Geschichtsforschung zu öffnen. Details aus den Beziehungen zwischen Christen und Juden in der Antike, im Mittelalter und in der Aufklärung bieten ein neues erheblich vielseitigeres Bild der Begegnungen und gar gegenseitigen Beeinflussungen.

3. Dialog mit dem Islam. Der christlich-jüdische Dialog ist heute im Prozess der zunehmenden Globalisierung ein Teilgebiet der unterschiedlichen Bemühungen im interreligiösen Dialog. Dabei tritt für Juden und Christen jeweils einzeln aber auch gemeinsam der Dialog mit Muslimen in den Vordergrund. Der trilaterale Dialog ist eine der entscheidenden künftigen Aufgaben.

4. Glaube in der globalisierten Gesellschaft. Juden und Christen stehen gemeinsam und einzeln vor den Herausforderungen der Respiritualisierung. Welche Rolle kann für die Religion in der Zivilgesellschaft heute beschrieben werden angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, sich zunehmend global vernetzender Wirtschaften und neuer religiöser Strömungen?

5. Konsequenzen des Dialogs. Der Dialog wirkt auf die Entwicklungen der eigenen Identität zurück. Die Reflexion dieser Rückwirkung ist von Christen und Juden für ihre jeweilige Gemeinschaft zu bearbeiten.

In Bezug auf den letzten Punkt (Reflexion der Rückwirkung des Dialog) sieht Rutishauser folgende Themen für den weiteren innerchristlichen Diskurs: Ekklesiologie (Kirche zwischen besonderer Beziehung zum Judentum und multireligiöser Gesellschaft), die neu aufflammende Debatte über Monotheismus auch bezüglich des Vorwurf eines latenten Gewaltpotentials, das Konzept einer Heilsgeschichte mit Blick auf die Krise der Moderne, Glaube als Lernen und Handeln sowie Förderung einer Kultur des Anderen.

Einen neuen Blick auf die Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Christen zu werfen unternimmt Prof. Daniel M. Boyarin. Unter dem Titel "Dethroning the Son of Man: Daniel and the Antiquity of Christianity" versucht er die These zu begründen, dass das frühe Christentum eine Strömung des Judentums gewesen sei, wobei dann typisch christliche Begriffe wie z.B. "der Menschensohn" ihren Ursprung im hellenistischen Judentum hätten. Das spätere christliche Gottesbild sowie christologische Titel wurzeln nach Boyarin erheblich tiefer im hellenistischen Judentum als bisher angenommen. Durch das Auseinanderbrechen der Entwicklung in rabbinisches Judentum und frühes Christentum würden diese Ursprünge verdeckt. Die Begründung seiner These anhand einer Exegese von Daniel 7 wurde allerdings kontrovers diskutiert. Dennoch zeigt sich, dass die neue Erforschung der Geschichte, die sich nicht nur auf das Auseinandergehen von Judentum und Christentum konzentriert, überraschende Details über gegenseitige produktive Beeinflussungen beider Gemeinschaften auch in den Zeiten zu finden vermag, die von Konflikte und Abgrenzungen geprägt waren.

Prof. Otmar Keel öffnet mit seinem Vortrag "Vertikale Ökumene - Dialog durch die Zeit vom Kanaanismus, Judentum, Christentum, Islam bis hin zur Moderne" die Wahrnehmung dafür, dass interreligiöse Begegnung und Beeinflussung nicht nur ein Phänomen der Moderne ist (horizontale Ökumene), sondern auch durch die Zeiten hinweg (vertikal) wirkt. Judentum, Christentum und Islam sind nicht nur auf einen angenommenen und dabei historisch bisher nicht greifbaren abrahamischen Ursprung zurückführbar. Historisch eher wahrnehmbar sind die Bezüge ihrer Traditionen zu den Religionen des alten Orients, einschließlich der Strategien der Abgrenzung und der auch gewalttätigen Abtrennung. Solche Strategien zeigten sich dann insbesondere im Verhältnis der werdenden Kirche zur jüdischen Mutterreligion. Das Projekt einer vertikalen Ökumene versucht demgegenüber die negativen Folgen religiöser Absolutheitsansprüche bewusst zu machen sowie Innen- und Außenansichten religiöser Gemeinschaften vermehrt in Beziehung zueinander zu setzen. So sollen Beiträge zu einem produktiven Zusammenleben in der multireligiösen Gesellschaft erarbeitet werden. Da Prof. Keel aber auch für bestimmte Werte wie z.B. Gewaltverzicht, Menschrechte und Nächstenliebe eintritt, entsteht die Frage, wie in seinem Programm bestimmte Abgrenzungen (z.B. gegen religiöse Legitimierung von Gewalt) nicht unter die Kritik eines Absolutheitsanspruches geraten sondern auch produktiv aufgenommen werden können.

Festakt auf dem Seelisberg

An historischer Stätte auf dem malerisch über dem Vierwaldstätter See und dem Urner See gelegenen Seelisberg wurde am 8. Juli 2007 mit einem Festakt das 60-jährige Jubiläum der "Seelisberger Thesen" begangen. Allerdings nicht in dem damaligen Konferenzhotel (Hotel Kulm), in dem sich heute ein Zentrum der Transzendentalen Meditation befindet - eine Tatsache, die die Teilnehmer am Festakt an die Gegenwart multireligiöser Begegnungen erinnerte. Auf dem Festakt wurde die historische Bedeutung der Thesen betont. Sie markieren den Beginn einer im Zeichen der Schoah stehenden Umkehrbewegung der Kirchen. Es wurde daran erinnert, dass Organisationen des christlich-jüdischen Dialogs 1947 die Seelisberger Konferenz ermöglicht haben und dass dabei nicht nur die Seelisberger Thesen formuliert wurden, sondern auch der Plan zur Gründung eines "Internationalen Rates der Christen und Juden" (ICCJ) eine deutliche Unterstützung erhielt und so einen erheblichen Schritt weiter seiner Realisierung (Fribourg 1948) entgegen ging. Der ICCJ war bei dieser Feier durch Dr. Markus Himmelbauer (Wien) und den ehemaligen ICCJ Generalsekretär Pfr. Friedhelm Pieper vertreten.

In Anerkennung der Leistungen der Pionierphase des christlich-jüdischen Dialogs verpflichteten sich der Evangelische Kirchenbund in der Schweiz, die Schweizer Bischofskonferenz und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund in einer gemeinsamen Erklärung, das Erbe des Dialogs zu wahren und sich den heutigen Herausforderungen der pluralistischen Gesellschaft zu stellen. (s.u.)

Das von Dr. Markus Himmelbauer vorgetragene Grußwort des ICCJ Präsidenten Prof. Dr. John Pawlikowski machte deutlich, dass die Erinnerung an die Seelisberger Thesen mehr als ein regionales Ereignis darstellt. Es ging 1947 im Kern darum, die Themen des christlich-jüdischen Dialogs auf die globale Ebene zu heben. Die Herausforderungen der Überwindung des Antisemitismus und der Erneuerung der Beziehungen der Kirchen zum Judentum sind kein rein "westliches" Thema. Sie machen eine kritische Reflektion der Lehre und des Handelns der Kirchen in allen Kontinenten notwendig. Es gilt anzuerkennen, was dabei inzwischen geleistete wurde und die Aufgaben anzupacken, die noch ausstehen. Der künftige Dialog wird dabei eine stärkere Ausrichtung auf Gegenseitigkeit haben und also verstärkt Anfragen sowohl an das Christentum wie auch an das Judentum mit aufnehmen.

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