Urteil statt Vorurteil. Heute:
Feindesliebe
von Klaus-Peter Lehman
Das Gebot Liebet eure Feinde findet sich so formuliert
nur im Neuen Testament (Mt 5,43; Lk 6,27), nicht aber im Alten. Kirchen
und Christen haben aus dieser oberflächlich bleibenden Beobachtung
den trügerischen Schluss gezogen, das Neue Testament verkünde
die universale Menschenliebe, während das Alte Testament und das
Judentum Hass und Rache predigen. Die Stelle Mt 5,43f: Ihr habt gehört,
dass gesagt ist: 'Du sollst deinen Nächsten lieben' und deinen Feind
hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bittet für die,
welche euch verfolgen hat immer wieder zur Verachtung des Alten Testamentes
und zur Schmähung des Judentums als Rachereligion verführt.
Tatsächlich lässt sich im gesamten jüdischen Schrifttum
kein Satz finden, der als Weisung zum Feindeshass aufgefasst werden könnte.
So bleibt unklar, wie diese Worte des Matthäusevangeliums auszulegen
sind. (1)
Du sollst nicht hassen deinen Bruder in deinem Herzen
(3 Mose 19,17). Das Alte Testament ist die älteste Urkunde der Menschheit,
die gegen den Hass predigt. Das unbedingte Gebot, von jeglichem Hass Abstand
zu nehmen, kommt aus dem Judentum. Hass spaltet die Menschheit und zerstört
ihre Brüderlichkeit, die Mitmenschlichkeit. Dabei bricht sich hier
die Erkenntnis Bahn, dass Hass immer lügenhaft und grundlos ist (Ps
35,19; 38,20; 69,5). Für Hass gibt es keinen Grund, jeder vorgebrachte
ist nichtig und eitel. Der Talmud prägt den Begriff des "grundlosen
Hasses". (2)
"Der ist ein Held, der einen Feind zum Freunde macht",
lautet eine talmudische Maxime (vgl. Spr. 16,7). Von der Sehnsucht, aller
Hass möge untergehen, sind viele jüdische Gebete erfüllt:
"Gib es, Ewiger, mein Gott, Gott meiner Väter, dass in keines
Menschen Herzen Hass gegen uns aufsteige und gegen keinen Menschen Hass
in unserem Herzen aufsteige." (3)
Diese im Alten Testament aufscheinende Weisheit fundiert
und festigt das Gebot der Nächstenliebe in seiner Universalität.
Es umfasst das Gebot der Feindesliebe.
Eine prinzipielle Weisung der Feindesliebe steht nach
dem Talmud in 2 Mose 23,5f. Die Forderung, den gestürzten Esel des
Feindes, der unter seiner Last zu erliegen droht, nicht schadenfroh ohne
Beistand zu lassen, sondern ihm aufzuhelfen, schließt rabbinischer
Auslegungslogik zufolge umso mehr ein entsprechendes Verhalten gegenüber
seinem menschlichen Besitzer ein.
Der gerechte und fromme Hiob (Hi 1,1; Ez 14,14) klagt
angesichts der unverdienten Leiden, die über ihn gekommen sind: Habe
ich mich je gefreut über das Unheil meines Feindes, und war ich darüber
freudig erregt, dass ihn Unglück getroffen hat? Ich habe ja vielmehr
meinen Mund von der Sünde zurückgehalten, sein Leben zu verwünschen
(Hi 31,29f). Ein dieser Einklage entsprechendes Gebot, das die mitmenschliche
Achtung des Feindes als Gerechtigkeitsforderung Gottes qualifiziert, lesen
wir in Spr 24,17: Wenn dein Feind stürzt, so freue dich nicht, und
wenn er strauchelt, juble nicht dein Herz. Nicht weit davon finden wir
ein grundsätzlich formuliertes Gebot der Feindesliebe: Sprich nicht:
Ich will Böses vergelten. Hoffe auf den Ewigen und er wird dir helfen
(Spr 20,22). Diese alttestamentliche Weisung nimmt Paulus auf: Vergeltet
niemandem Böses mit Bösem; seid auf das Gute bedacht vor allen
Menschen (Röm 12,17). Wenige Sätze weiter zitiert Paulus das
Buch der Sprüche: Wenn dein Feind hungert, so speise ihn; wenn er
dürstet, so tränke ihn (Spr 25,21) und folgert: Lass dich vom
Bösen nicht überwinden, sondern überwinde das Böse
mit Gutem (Röm 12,20f). (4)
Der Talmud kommt zu folgendem Schluss: "Durch die
Erfüllung der Gebote soll man die bösen Triebe niederhalten:
deshalb soll man eher dem Feinde als dem Freunde Hilfe gewähren"
(Baba Mezia 32a). Das will sagen: Wer dem Feind die Mitmenschlichkeit
verweigert, übertritt das Gebot der Nächstenliebe; erst, wer
dem Feind hilft, hat es ganz erfüllt.
Selten wird im Judentum ein grundsätzlicher Pazifismus
vertreten. Das Recht auf Selbstverteidigung stand für das in seiner
Geschichte ständig angegriffene und malträtierte Volk nie in
Frage. Aber der Gewalt bei einer notwendigen Verteidigung werden schon
im Alten Testament ethische Grenzen gesetzt, die von daher kommen, dass
auch der Feind als Geschöpf Gottes, als Mitmensch respektiert wird
(5 Mose 20,19f).
Seit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 war das
Judentum über zwei Jahrtausende nicht in der Lage seine Existenz
als Volk mit den Mitteln staatlicher Gewalt zu schützen. Die Geschichte
der Juden im christlichen Abendland ist eine nie abbrechende Folge von
Diffamierung, Entrechtung, Vertreibung und mörderischen Pogromen.
Leo Baeck schreibt dazu: "Das ergreifendste Kapitel der Feindesliebe
hat die Glaubensgemeinde geschrieben. Das Judentum hat von unsäglichen
Leiden, von qualvollen Martern zu berichten. Aber kein Unrecht, keine
Vergewaltigung hat die Menschenliebe in ihren Herzen zu ersticken vermocht,
sie ist nicht in dem Strom des unschuldigen Blutes untergegangen."
(5)
"Die Rabbanan lehrten: über diejenigen, die
gedemütigt werden, ohne zu demütigen, die ihre Schmähung
anhören, ohne zu erwidern, die aus Liebe handeln und freudig die
Prüfungen ertragen, sagt die Schrift: die ihn lieb haben, sind wie
der Aufgang der Sonne in ihrer Pracht." (6)
Anmerkungen:
(1) Manche meinen, sie richte sich gegen den Hass auf die römischen
Besatzer z.Zt. Jesu, eine Einstellung, die für einen Normalisraeliten
aber auch die Qumran-Sekte kennzeichnend gewesen sein soll.
(2) Die kaum zu überschätzende Reichweite dieser Erkenntnis
formulierte der jüdische Religionsphilosoph Hermann Cohen: "Der
Pessimismus wurzelt in dem psychologischen Irrgedanken, dass der Hass
eine wirtschaftliche Ordnungskraft im Haushalt der Natur wäre, wie
der Kampf ums Dasein, der unzählige Keime ausrottet, um sie aus dem
Wettkampf auszuschalten ... Ich kann den Hass nur dadurch aus dem Menschenherzen
entfernen, dass ich überhaupt keinen Feind mehr kenne ... Das Individuum
kann den Frieden seiner Seele nicht erlangen ohne die Sicherung des Weltfriedens
.. Für meinen eigenen Frieden bedarf ich der Zuversicht, dass der
Völkerhass ausgetilgt werde aus dem Kulturbewusstsein der Menschheit"
(Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 522f).
(3) Jerusalemer Talmud, Berachot 4,2; s. L. Baeck, Das Wesen des Judentums,
S. 239
(4) Weitere Stellen des Alten Testamentes, die das Gebot der Feindesliebe
bedeuten: 3 Mose 19,18; Spr 3,7; 24,29
(5) L. Baeck, Das Wesen des Judentums, S. 240
(6) Babylonischer Talmud, Sabbat 88b; zitierte Bibelstelle Ri 5,31
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