Stimmen aus der Vergangenheit
Vor allem für die Holocaust-Forschung ist die "Oral History" unverzichtbar
von Lene Zade

Abraham Kimmelmann ist 82 Jahre alt, ein freundlicher, agiler, nicht sehr groß gewachsener Mann. "Den Holocaust", sagt er, "soll man nicht "billig" machen." Der Überlebende von Zwangsarbeit und Konzentrationslagern mag keine Gedenkveranstaltungen. "Ich lebe in der Gegenwart und für die Zukunft." Doch die Vergangenheit ist manchmal nur ein Wort entfernt. Wenn Abraham Kimmelmann zu erzählen versucht, wie es sich anfühlte, als das KZ plötzlich befreit war und er allein in der Baracke saß, unfähig hinauszugehen, unfähig an eine Zukunft zu denken -stocken seine Worte, bricht die Gegenwart weg, und es sitzt einem ein verängstigter Junge gegenüber. Für einen kurzen Moment. "Die Holocausterfahrung ist lebender Stoff meines Daseins", weiß der ausgebildete Lehrer, dessen Heimat inzwischen Israel ist.

Diese Ambivalenz von "überlebt-haben" und "in-der-Erinnerung-alles-immer-wieder-neu-erleben" müssen die meisten der Zeitzeugen der Schoa aushalten - aber auch die, die sie befragen. Die Interviewten sind eben nicht nur Zeugen eines Verbrechens, sie sind auch die Opfer desselben. Ihr Erzählen kann nicht distanzlos zum Ereignis sein. Hierin mag die Skepsis einiger Historiker gegenüber der, seit den 1980er Jahren sich als Fachgebiet etablierenden, Oral History begründet sein. Hinzu kommt die Genese von Erinnerung. Traumatische Ereignisse müssen in die individuelle Lebenserzählung integriert und verarbeitet werden, wofür die menschliche Psyche verschiedene Strategien entwickelt - vom Vergessen bis hin zur teleologischen Sinngebung.

Auf der anderen Seite ist die Geschichtsschreibung über den Holocaust auf die Berichte der Zeitzeugen angewiesen, denn ohne sie hätten die Historiker als Quellen nur das, was die Täter hinterlassen haben. Vom Gerichtszeugen zum so genannten Zeitzeugen, von der Fokussierung auf die Verbrechen hin zur Perspektive der Opfer brauchte die Geschichtswissenschaft zwei Generationen und den technischen Fortschritt. Mit Videokamera und leicht handhabbaren Aufnahmegeräten ausgestattet, waren es vor allem die Enkel derer, die Faschismus und Krieg erlebt haben, die nun die Überlebenden befragten. 87 Prozent der Zeitzeugeninterviews, die Eingang in US-amerikanische Holocaust-Archive fanden, wurden nach 1978 geführt, fand jüngst die Historikerin Maria Ecker heraus.

Das Image des Schoa-Zeitzeugen ist dadurch festgelegt: es sind überwiegend alte Menschen, die von sehr viel jüngeren Wissenschaftlern befragt werden. Schicksal und Altersunterschied machen, so scheint es, die Überlebenden zu unangreifbaren Respektspersonen. Fast wirkt es so, dass eben dieser Effekt auch die Bezweiflung des wissenschaftlichen Wertes der Oral History hervorruft, ein Affekt von Bilderstürmerei. Wie ein heilsamer Schock wirken in diesem Zusammenhang die Interviews des Projektes "Voices of the Holocaust", das im Rahmen eines Symposiums Anfang Juni vom Centre Marc Bloch im Haus der Wannsee-Konferenz vorgestellt wurde.

Frühe Zeugnisse

Der US-amerikanisch-jüdische Psychologe David Boder reiste im Sommer 1946 nach Europa um für zwei Monate an die 130 Interviews in Frankreich, Deutschland, Italien und der Schweiz auf Magnetbändern - der damals modernsten Aufnahmetechnik - aufzuzeichnen. Und so sind sie heute noch zu hören: Stimmen von Jugendlichen, die als Kinder in das KZ kamen, Männer und Frauen, die von Erlebnissen berichten, denen sie unmittelbar entronnen sind. Biographische Überformungen der Erinnerungen haben noch nicht stattfinden können, der Holocaust hatte noch längst keine Meta-ebene erreicht. Die Fragen, die Boder stellt, erscheinen vielleicht naiv, wenn er nach den sanitären Bedingungen der Deportation fragt, und sie wirken respektlos, weil Boder wie ein Staatsanwalt insistierend auf genauen Aussagen beharrt. So zeigen diese frühesten Zeitzeugenberichte jedoch auch auf, wie wenig über Judenvernichtung und nationalsozialistischen Terror in den Einzelheiten bekannt war.

Nach der Entdeckung der Konzentrationslager hatte Dwight D. Eisenhower Journalisten aufgefordert, sich vor Ort von den Gräueltaten zu überzeugen. Boder nahm die Aufforderung ernst und reiste von einem Lager für "Displaced Persons" zum anderen. Die Überlebenden konnten in der Sprache ihrer Wahl mit ihm reden. Boder sprach deutsch wie auch jiddisch, russisch, englisch, polnisch, spanisch, für einen gebürtigen Osteuropäer seiner Zeit - er wurde 1886 in Litauen geboren und lebte seit 1926 in den USA - keine Seltenheit. Für sein Projekt war dies ein Glücksfall, denn es gab in den ersten Monaten nach dem Zweiten Weltkrieg kaum Korrespondenten, die ausreichend Fremdsprachen konnten, um die Überlebenden der KZs, die aus allen Teilen Europas kamen, nach ihrem Schicksal zu befragen.

Seine wichtigste "Quelle" war der 19-jährige Abraham Kimmelmann, mit dem er am 27. August 1946 das längste Interview - von viereinhalb Stunden - führte und dem er erklärte, warum er so viele Menschen wie nur möglich befragt: Von dem wenigen, was er von dem Einzelnen erfahre, ließe sich, so Boder, in der Zusammenschau vieler Interviews ein Mosaik erstellen, ein Gesamtbild dessen, was geschehen war. Boder zögerte, die Interviews zu kürzen, sie zu redigieren. Für ihn waren sie Erzählungen, Literatur. Nur acht der Interviews veröffentlichte er, übersetzt ins Englische, zu Lebzeiten: "I did not interview the dead" erschien 1949. Danach geriet das Projekt, das Boder ohne nennenswerte institutionelle Unterstützung durchführte, in Vergessenheit.

Fülle an Material

Inzwischen gibt es das Internet. Das Illinois Institute of Technology, das die Magnetbänder und Transkripte der Interviews 1998 wieder entdeckte, richtete für das Boder Interview Project eine Seite ein, auf der nicht nur einige der Interviews im Originalton als audiofiles zu hören, sondern auch die Übersetzungen von 70 Manuskripten inklusive der jeweiligen Hintergrundinformationen nachlesbar sind. Ein Service, den andere Zeitzeugenarchive schon aus rechtlichen Gründen nicht leisten können. So ist das weltweit umfangreichste audiovisuelle Zeitzeugenarchiv, das Visual History Archive (VHA) der Shoah Foundation, die der Regisseur Steven Spielberg ins Leben rief, zwar auch im Internet präsent und seit Dezember 2006 auch über den Server der Freien Universität Berlin einsehbar, um das Archiv aber wirklich nutzen zu können, müssen sich Interessierte auf das Campusgelände begeben und sich - wenn sie nicht Angehörige der Universität sind - mit Begründung ihrer Forschungsinteressen anmelden. Diese Benutzereinschränkung hat allerdings auch einen technischen Grund, denn das VHA umfasst rund 52.000 Videointerviews, die in 56 Ländern in 32 Sprachen geführt wurden. Die üblichen Server für den privaten Internetverkehr können diese Datenmenge bislang nicht bewältigen.

Die von 1994 bis 1999, also knapp 50 Jahre nach Boder, ausschließlich von Ehrenamtlichen durchgeführten Interviews wurden anschließend digitalisiert, indexiert und verschlagwortet. Eine Arbeit, die bis 2005 andauerte, ohne die die Fülle an "Material" aber auch kaum zu bewältigen wäre. Zeichnet sich dieses Projekt durch den globalen Anspruch, möglichst alle noch lebenden Opfer des nationalsozialistischen Rassismus zu interviewen, die in der Lage und Willens dazu sind, über ihre Erlebnisse zu berichten, aus, so konzentrierte sich ein anderes Projekt, das "Archiv der Erinnerung" auf eine Region, auf Brandenburg/Berlin, und damit auf die Erinnerungen an die Schoa in den beiden deutschen Staaten. Knapp 80 Überlebende wurden zwischen 1995 und 1996 in mehrstündigen lebensgeschichtlichen Videointerviews befragt. Das interdisziplinär zusammengestellte Wissenschaftlerteam wurde von dem Psychoanalytiker Dori Laub unterstützt, der die Methode der therapeutischen Gesprächsführung für die Befragung von Schoa-Überlebenden entwickelte. Einsehbar sind die Interviewfilme im Haus der Wannsee-Konferenz, das auch die Transkripte und Hintergrundmaterialien aufbewahrt. Für den Einsatz in Schulen wurde eine sechsteilige Videoedition erstellt, die zum Selbstkostenpreis an Pädagogen abgegeben wird.

Anders als David Boder, der die Überlebenden vor allem nach ihrem Schicksal in der Verfolgung und Internierung befragte, interessierten sich die Potsdamer Wissenschaftler auch für die Zeit vor und nach der Schoa, um auf diese Weise der Zerstörung der Lebenszusammenhänge, vom Verlust von Kindheit bis zu den Nachwirkungen von Folter, Erniedrigung und Verlust von Familie und Freunden in der Gegenwart nachzuspüren.

Dialogisches Prinzip

So sehr sich jedoch die Interviewer zurückhalten, sie sind - und das sollte eine kritische Analyse von Zeitzeugeninterviews mit berücksichtigen - als Fragende, Stichwortgeber, auch wesentlich dafür verantwortlich, was die Zeitzeugen erzählen. Sie sind nicht neutral, keine objektiven Stichwortgeber. Die Oral History beruht, anders als schriftliche Zeugnisse, auf dem dialogischen Prinzip des Nachfragens und Antwortens. Das kann im Falle von Boder ein drängendes Nachfragen, ein schematisches Befragen in den Interviews der Shoah-Foundation oder ein zurückhaltendes, den Gesprächsfluss aktivierendes Impulsfragen in den Gesprächen für das Potsdamer "Archiv der Erinnerungen" sein. Altersunterschied und die Differenz des sozialen, territorialen, politischen sowie kulturellen oder konfessionellen Hintergrunds können, sowohl offensichtlich wie auch unbewusst, bestimmende Faktoren des Gespräches sein.

Die Oral History macht damit auf den Adressatenbezug aufmerksam, der allen Zeugnissen eigen ist, doch selten ist er so personifiziert, wie in den oft zumindest hörbaren Fragestellern. Aber die Ton- und Filmdokumente geben den am eigentlichen Gespräch Unbeteiligten auch die Möglichkeit die Reaktionen und die Lenkung der Aussagen zu prüfen. In diesem Sinne erzeugt die Oral History tatsächlich authentische Zeitzeugnisse. Zeugnisse, die dann, besonders wenn sie aufbereitet und zugänglich sind, als wertvolle Quelle der Geschichtswissenschaft analysiert und kritisch bewertet werden können. Die Geschichte des Holocaust muss für die Zukunft nutzbar gemacht werden, sagt Abraham Kimmelmann in einer Zigarettenpause: Für die Zukunft des Einzelnen, der überlebt hat, und für die Gesellschaft, die sie zu verarbeiten hat.

Die von David Boder gesammelten "Voices of the Holocaust" sind unter http://voices.iit.edu/interview.html zugänglich. Informationen zum "Visual History Archive" sind unter www.vha.fu-berlin.de erhältlich. Das "Archiv der Erinnerung" kann im Haus der Wannsee-Konferenz eingesehen werden.

"Jüdische Zeitung", Juli 2007
www.j-zeit.de

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