Namen für die Namenlosen
von Joachim F. Tornau

Der Holocaust liegt 60 Jahre zurück, und noch immer sind nicht alle von den Nationalsozialisten ermordeten Juden identifiziert. Mühsam hat die israelische Gedenkstätte Yad Vashem in den vergangenen Jahrzehnten die Namen von 3,2 Millionen Holocaust-Opfern zusammengetragen - zumeist über die Aussagen von Verwandten und Freunden. Jetzt macht man sich in Jerusalem Hoffnung, auch die drei Millionen noch namenlosen Opfer benennen zu können.

Möglich machen soll dies die Öffnung des NS-Archivs vom Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes (ISD) im hessischen Bad Arolsen. Kürzlich trafen in Yad Vashem die ersten 11,8 Millionen Dokumente aus dem weltweit größten Archiv über die Nazi-Verbrechen ein: Transportlisten, Krankheitsberichte und Totenbücher aus mehr als 50 Konzentrationslagern und Gefängnissen, aber auch Unterlagen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und der SS.

"Wahrscheinlich enthält die Sammlung Namen und Informationen über die sonst nicht bekannten Opfer", sagte Yad-Vashem-Sprecherin Estee Yaari der FR. "Unser Ziel ist, so viele Informationen über den Holocaust wie möglich zugänglich zu machen." Bis die Akten für die Anfragen von Überlebenden und Forschern genutzt werden können, wird aber noch einige Zeit vergehen: Für die digitalisierten Dokumente muss eine Suchtechnik entwickelt werden.

Zudem wurde der Beschluss zur Öffnung des Archivs von drei der elf Trägerstaaten - Italien, Frankreich und Griechenland - noch nicht ratifiziert. Die Beschlüsse werden für dieses Jahr erwartet, bis dahin bleiben die Akten für die Öffentlichkeit gesperrt.

Langer Kampf

Seit seiner Gründung während des Zweiten Weltkriegs beschränkt sich der ISD darauf, Überlebenden des Nazi-Terrors bei der Suche nach verschollenen Familienmitgliedern zu helfen und Bescheinigungen über ihre Leidenszeit in deutschen Lagern oder Unternehmen auszustellen - Voraussetzung für eine Entschädigung. Wer in den Hinterlassenschaften der Nazi-Bürokratie selbst auf Spurensuche gehen wollte, traf in Bad Arolsen auf taube Ohren. Erst nach zähem diplomatischem Ringen einigten sich die Mitgliedsstaaten des Internationalen Ausschusses, der die Arbeit des ISD kontrolliert, im Mai 2006 auf die Öffnung des Archivs. Die Akten sollten den Mitgliedsstaaten digitalisiert übergeben werden.

Neben Yad Vashem bekam darum jetzt auch das US Holocaust Memorial Museum in Washington die erste Dokumentenlieferung. Das Museum wolle Angehörigen von Holocaust-Opfern kostenlos Kopien der sie betreffenden Papiere zur Verfügung stellen, kündigte Direktorin Sara J. Bloomfield an.

ISD-Direktor Reto Meister ist überzeugt, dass sein Archiv auch Historikern neue Erkenntnisse ermöglicht, etwa über das Schicksal der "Displaced Persons" in der Nachkriegszeit - also ehemalige KZ-Häftlinge oder Zwangsarbeiter, die nach Kriegsende nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten. Denn das Archiv beherbergt auch die Unterlagen der International Refugees Organization (IRO), die nach 1945 die Lager für "Deplatzierte" in sechs Ländern betrieb.

Frankfurter Rundschau, 20.9.2007

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