Begegnung mit den Reform-Juden in den USA
von Andreas Schmutz
Boulder und Reb Zalman Schachter-Shalomi
Die Stadt Boulder in Colorado ist das Zentrum der "Jewish
Renewal Movement", einer kreativen jüdischen Erneuerungsbewegung,
die bis nach Europa ihre Ausstrahlung hat. Es fällt auf, dass eine
ganze Reihe junger Rabbinerinnen und Kantorinnen in dieser Bewegung aktiv
sind. Ebenso Jüdinnen und Juden, die entweder keine religiöse
Kindheit erlebt haben oder aber ein gebrochenes Verhältnis zu ihrer
religiösen Erziehung hatten. Das zentrale Anliegen dieser Bewegung
ist eine lebendige, weltoffene und kreative jüdische Spiritualität
im Alltag und im Gottesdienst. Eine wichtige Quelle dafür ist die
jüdische Mystik, die Kabbala.
In fast allen Biographien innerhalb dieser Erneuerungsbewegung
steht an prominenter Stelle der prägende Einfluss von Reb Zalman
Schachter- Shalomi. Reb Zalman ist in der mystischen Tradition des Lubavitscher
Chassidismus in Brooklyn gross geworden. Er pflegt seit vielen Jahren
einen intensiven Austausch mit christlichen, buddhistischen, islamischen
und hinduistischen Gesprächspartnern. Er hat die "Alliance for
Jewish Renewal" (Bündnis für jüdische Erneuerung)
gegründet, eine Bewegung, die dem traditionellen Judentum verpflichtet
ist, aber gleichzeitig experimentell arbeitet und neue Wege in Liturgie
und Lehre sucht. Es war ihm von Anfang an ein wichtiges Anliegen, dass
Frauen im Gemeindeleben die gleichen Möglichkeiten haben wie Männer
und dass die Bewegung nicht hierarchisch geleitet wird. In seinem "eco-kosher"
Konzept hat Zalman Schachter sehr früh die Erkenntnisse der Ökologie-Bewegung
aufgegriffen und für das Alltagsleben fruchtbar gemacht. Mit dem
ALEPH-Programm hat er einen eigenen Ausbildungsweg für Rabbiner/innen
und Kantor/innen aufgebaut.
Ich selber hatte in den 80er Jahren Gelegenheit, an der
Universität Bern ein Semester lang Vorlesungen von Reb Zalman zu
hören, und habe das als sehr anregend in Erinnerung. Entsprechend
groß war meine Neugier, zu erleben, was aus seinem Wirken in den
USA entstanden ist.
Die "Smicha" von Jalda Rebling
Ich kenne Jalda Rebling aus Berlin seit über 30 Jahren.
Aufgewachsen als Tochter von Lin Jaldati, der holländischen Sängerin,
die Auschwitz überlebt hat und nachher in der DDR als jiddische Sängerin
bekannt geworden ist, hat Jalda Rebling jüdische Kultur von klein
auf kennen gelernt. Für ihre Eltern war die Pflege der jiddischen
Kultur vor allem ein politisches Anliegen. Den Weg zu einer gelebten jüdischen
Spiritualität hat Jalda selber suchen müssen. Wichtige Impulse
dazu hat sie in den USA bei Reb Zalman Schachter bekommen. Dort hat sie
sich im Rahmen des ALEPH-Programms zur Kantorin ausbilden lassen. "Wenn
du dein Sabbatical schon in den USA machen willst, dann fang es doch in
Boulder an und komm am 7. Januar zu meiner Smicha, zu meiner Ordination
als Kantorin!" Damit war ein wichtiger Teil meines US-Aufenthalts
gesetzt. So war ich denn an der sehr bewegenden Smicha-Feier, an der vier
Frauen und ein Mann ordiniert worden sind, ein Teil von Jaldas "Familie".
Die Smicha-Feier war der Auftakt der jährlichen Konferenz
der Renewal-Bewegung. Aus verschiedenen Teilen der USA und auch aus andern
Kontinenten sind Frauen und Männer angereist, um sich auszutauschen
und um sich neu für ihre Arbeit inspirieren zu lassen.
Pardes Levavot
Pardes Levavot, eine der Gemeinden der Erneuerungsbewegung
in Boulder, wird durch das Rabbiner- Paar Victor und Nadya Gross geleitet.
Zuerst lerne ich Rabbi Nadya kennen. Sie ist in Israel aufgewachsen und
ist stark durch ihre Mutter geprägt worden, die wie eine Verkörperung
der jüdischen Mystik gewesen sei. "Das Tanzen mit Gott und die
Freude in Gott hat ganz selbstverständlich zu meiner Kindheit gehört.
Als ich dann aber in die USA gekommen bin, war es mit dem Tanzen zunächst
einmal vorbei." An diesem Abend leitet Nadya das wöchentliche
"Chanting and Meditation". Rhythmischer Gesang von einfachen
Versen aus der Tora, ausgewählt nach der Tora-Lesung des letzten
Shabbat (die Plagen in Ägypten). Der kurze Hinweis, dass nach der
jüdischen Mystik die 10 Plagen in Ägypten den 10 Sefirot, den
10 Energiezentren im Menschen und in der ganzen Schöpfung, zugeordnet
sind. Wenn eines der Energiezentren gestört ist, dann entstehen "Plagen",
"Brüche", auch in uns selber. Daher die Aufforderung: "Wo
ist jetzt in dir ein Bruch, eine Blockierung? Versuche den Tora-Vers,
der um Heilung bittet, von dieser Stelle im Körper aus zu singen."
In der darauf folgenden Woche kreisen die Chants und die Meditation um
das verhärtete Herz des Pharao. Aber auch um die verhärteten
Herzen heutiger Herrscher, und auch um das verhärtete Herz in uns
selber. Nach jedem Gesang folgt eine lange Stille und anschließend
eine Mitteilungsrunde, in der alle erzählen, was ihnen während
des Singens und in der anschließenden Stille wichtig geworden ist.
Für mich tut sich eine neue Welt auf. Ich ahne: In diesem Zugang
zur Bibel liegen Schätze verborgen.
Pardes Levavot hat für seine Gemeindetätigkeiten
Gastrecht in der Lutherischen Kirche "Sheper on the Hill". An
den Gottesdiensten und übrigen Veranstaltungen nehmen auch Nicht-Juden
teil. Etwas schelmisch sagt Rabbi Victor: "Bei der Auswahl der Kirchgemeinden
haben wir jeweils zwei Vorfragen: Wie halten Sie es mit gleichgeschlechtlicher
Liebe - zu uns gehören auch Lesben und Gays - und: wie halten Sie
es mit der Missionierung von Juden?"
Die Beziehung zur Kirchgemeinde geht weit über das
Gastrecht hinaus. Das Rabbiner-Paar und das Pfarrer-Paar pflegen gemeinsame
Bibellektüre und haben auch schon gemeinsame Gottesdienste gefeiert,
zu denen auch Muslime und andere Gläubige eingeladen worden sind.
Ich nehme in der gleichen Kirche am Samstag an der Shabbat-Feier von Pardes
Levavot und am Sonntag am Gottesdienst der Lutherischen Kirchgemeinde
teil. Beides lebendige Gottesdienste. Beide werden je von einer Frau und
einem Mann geleitet. Damit wird ein Grundanliegen der Erneuerungsbewegung
deutlich: die Welt ist in vieler Hinsicht aus dem Gleichgewicht geraten.
Wir müssen neue Balancen finden, zum Beispiel zwischen männlichen
und weiblichen Energien und Fähigkeiten.
Im Shabbatgottesdienst wird die warme und fröhliche
Liturgie vor allem durch Rabbi Nadya geleitet. Während die Gemeinde
im Kreis versammelt ist, holt sie die Torarolle aus dem Schrein, lässt
sie von Hand zu Hand durch die Gemeinde reichen, und singt anschließend
den Tora-Abschnitt in hebräischer und in englischer Sprache. Rabbi
Victor legt die Tora-Lesung aus. Die ganze Gemeinde kann sich an der Auslegung
beteiligen.
Abraham Josua Heschel
Aus Anlass des "Martin-Luther-King-Gedenktages"
wird am Samstagabend im jüdischen Kulturzentrum ein Film über
den jüdischen Gelehrten Abraham Josua Heschel gezeigt, der während
der Bürgerrechtsbewegung zusammen mit Martin Luther King marschiert
ist. Es ist ein Dokumentarfilm, hauptsächlich ein langes Interview
mit dem ganz jugendlich wirkenden alten Mann, aufgenommen einige Wochen
vor seinem Tod. Der Büchergelehrte ist durch die Arbeit mit den Propheten
zum Sozialaktivisten geworden und hat sich zusammen mit King in die Politik
eingemischt. Einige Sätze bleiben hängen: "Es war offenbar
Gottes Wille, dass es verschiedene Religionen gibt. Gott ist überall
zu finden. Man stelle sich die Art Gallery in New York vor, wenn man da
nur Bücher der gleichen Stilrichtung anschauen könnte."
"Religion ist nicht dazu da, dass der Mensch keine Probleme hat.
Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er Probleme hat und sich damit
herumschlägt." Dann die Frage des Interviewers: "Aber viele
Religionen bieten heute ein sorgenfreies Leben an." Darauf die kurze
Antwort: "In der Bibel ist es nicht so." Und dann vor allem
der Satz: "Beten ist nicht in erster Linie etwas von Gott erbitten.
Es ist Jubel, Lob, Preisen!" Dieser Satz begleitet mich viele Tage,
wenn ich im täglichen Bibelstudium in den Psalmen und in Paulusbriefen
immer auf die Aufforderung stoße, Gott zu loben und zu preisen.
Oft ausgerechnet in Psalmen, in denen es wenig Anlass zum Loben gibt,
zum Beispiel im Psalm 22, der mit den Worten anfängt: "Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen". Da wird Gott mit
den Worten angesprochen: "
der du thronst über den Lobgesängen
Israels."
Der Leib Christi
Im Sonntagsgottesdienst der Lutherischen Gemeinde, im
gleichen Kirchenraum, in dem ich am Tag davor dem Shabbat-Gottesdienst
beigewohnt habe, frage ich mich, worin eigentlich der Hauptunterschied
zwischen dem Judentum und dem christlichen Glauben besteht. Paulus weiß
sich zwar von Jesus gesandt, aber das Lob und der Preis und die Kraft
gehören immer Gott, der Jesus geschickt und aus dem Tod auferweckt
hat. Als gültige Antwort für diesen Morgen finde ich, dass der
Hauptunterschied im "Leib Christi" besteht. Die beiden Juden
Paulus und Petrus haben die überraschende Erfahrung gemacht, dass
Gottes Geist auch unter "Heiden" wirksam ist. Paulus versteht
die "Verstocktheit Israels" so, dass dadurch die Botschaft und
die Kraft, die dem jüdischen Volk geschenkt worden ist, auch zu den
Heiden kommen. Die neue Gemeinschaft, die dabei entsteht, ist der irdische
Leib des auferstandenen Christus, zu dem Juden und Heiden gehören.
Sehr bald wird sich dann aber die Frage stellen, wie sich dieser "Leib
Christi" zum "auserwählten Volk Israel" verhält.
Sind wir bereit, gemeinsam zu singen?
Diese Frage stellt Rabbi David Zaslow aus Oregon in seinem
Buch "Roots and Branches, A Sourcebook for Understanding the Jewish
Roots of Christianity, Replacement Theology and Anti Semitism" (Wurzeln
und Äste. Ein Quellenbuch zum Verständnis der jüdischen
Wurzeln des Christentums, der "Ersatztheologie" und des Antisemitismus).
Der Buchdeckel macht das Anliegen des Buches deutlich: Er zeigt eine Kreuzigungsdarstellung
von Marc Chagall. Neben dem ans Kreuz geschlagenen Jesus schwebt auf der
Höhe des rechten Armes eine geöffnete Torarolle.
"Roots and Branches" ist aus der intensiven
Lektüre des "Zweiten Testaments" (NT), der Geschichte und
der Bewegung des Jesus von Nazareth, des "Rabbi Jehoshua ben Joseph",
herausgewachsen. Der Autor fühlt sich von Rabbi Jehoschua sehr angesprochen.
Er liest das Evangelium ganz von seinen eigenen jüdischen Wurzeln
her - aber im Gespräch mit befreundeten Christen. Er zeigt auf, wie
tief das "Zweite Testament" im "Ersten Testament"
(AT) verwurzelt ist. Es gibt kaum einen Text oder ein Bild im Zweiten
Testament, das nicht eine "Wurzel" im Ersten Testament oder
eine Entsprechung in der rabbinischen Tradition hat. Bei David Zaslow
finde ich das Verständnis, dass der Jude Paulus es als seine Aufgabe
erkannt hat, Nicht-Juden zu dem Gott zu bringen, der sich in der Tora
dem Volk Israel offenbart hat. Für Zaslow ist die Botschaft von Jesus
die "Tora für die Nicht- Juden". Jesus steht für ihn
dabei nicht parallel zum Volk Israel, sondern parallel zur Tora. Er zeichnet
aber auch nach, wie sich in der Kirche schon früh das Verständnis
durchgesetzt hat, die Kirche sei das "neue" Volk Gottes, weil
Israel diesen Anspruch verspielt habe. In diesem theologischen Verständnis
sieht er die Wurzel für den Antisemitismus. Rabbi Zaslow spürt,
dass jetzt die Zeit gekommen ist, dass Christen und Juden Gott gemeinsam
loben, gemeinsam auf ihn hören und den Weg in die Zukunft suchen,
weil nur daraus die Kraft wachsen kann, die den Bruch heilen kann.
Die Welt braucht Heilung
Während der Smicha-Feier in Boulder habe ich im Gespräch
mit angereisten Frauen und Männern immer wieder den Satz gehört:
"Ich versuche, heilend zu arbeiten. Die Welt braucht Heilung."
Ich konnte mir darunter nicht viel vorstellen. Während der Lektüre
des Buches "The Receiving. Reclaiming Jewish Women's Wisdom"
von Tirzah Firestone, Rabbinerin und Psychotherapeutin in Boulder, fange
ich an zu verstehen, um was es geht.
In ihrem wunderbaren Buch erzählt Tirzah Firestone
die Geschichte von sieben jüdischen Frauen, die zwischen dem 1. und
dem 20. Jahrhundert gelebt haben. Im Gespräch mit diesen ganz unterschiedlichen
Frauen aus verschiedenen Jahrhunderten sucht die Autorin nach den verschütteten
Wurzeln weiblicher Spiritualität, in einer Religion, die während
2500 Jahren fast ausschließlich durch Männer geleitet und nach
außen verkörpert worden ist. Sie schreibt im Nachwort: "Meine
Beziehung zum Judentum war immer eine Hass- Liebe. Abwechselnd erlebte
ich meinen jüdischen Glauben als eine sprudelnde Quelle, die meine
Seele genährt hat, und dann fing mein Blut wieder an zu kochen, wenn
ich an die Grenzen einer von Männern bestimmten politischen Macht
gestoßen bin, und an ein elitäres Verständnis von Religion,
das bewirkt, dass alle jene sich daneben vorkommen, die nicht in den Rahmen
einer beschränkten und engen Definition von Heiligkeit' passen.
Bevor ich selber spirituelle Verantwortung übernehmen konnte, musste
ich mich mit einer Religion versöhnen, in der Frauen im rechtlichen
Sinn gar keine Mitglieder sind und in der das religiöse Wissen von
Frauen schlicht nicht vorgekommen ist." (Eigene Übersetzung)
Die sieben Frauen, deren Geschichte erzählt wird,
verkörpern verschiedene Fähigkeiten und verschiedene Zugänge
zum jüdischen Glauben. In faszinierender Weise benutzt Firestone
diese Geschichten, um die tiefe Weisheit der jüdischen Mystik zu
entfalten. Der ganze Lebensbaum der Kabbala ersteht vor unseren Augen,
mit den zehn Sephirot, den zehn unterschiedlichen Kräften, die im
Leben der einzelnen Menschen und der ganzen Welt wirksam sind. "Das
Wesen des jüdischen Glaubens besteht aus der Heirat und der Versöhnung
von gegensätzlichen Energien, im immer neuen Finden der Balance von
Gegensätzen." Die Autorin beschreibt die einzelnen Energien
und das Zusammenwirken der Energien. Es wird spürbar, was es bedeutet,
wenn Lebensrealitäten aus dem Gleichgewicht geraten sind. Beispiele
aus der psychotherapeutischen Praxis von Tirzah Firestone ergänzen
das Erzählmaterial der sieben Frauen. Die eigene Kreativität
der Leser/innen wird angeregt im Nachfragen, was im eigenen Leben, in
der Familie, in der Gemeinde, in der ganzen Welt zu kurz gekommen ist
und wie die gestörten Balancen wieder hergestellt werden können.
Andreas Schmutz, reformierter Pfarrer in der Schweiz,
hat im Rahmen eines Sabbaticals von Januar bis März dieses Jahres
in den USA unter anderem Kontakt mit der jüdischen Reformbewegung
gesucht. Im Folgenden beschreibt er seine Erfahrungen.
Junge Kirche 3/2007
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