Der Schein trügt
Faktisch sinkt die Zahl der Mitglieder
von Pavel Polian
Kürzlich hat die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden
in Deutschland (ZWST) die "Mitgliederstatistik der einzelnen jüdischen
Gemeinden und Landesverbände in Deutschland" für das Jahr
2006 herausgegeben. Eigentlich ist das nichts Besonderes, sondern alljährliche
Routine. Ungewöhnlich ist diesmal allerdings, dass in der 17-jährigen
Geschichte der Immigration aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland
das Jahr 2006 das letzte Jahr mit einem Plus gewesen sein wird. Mehr noch:
Die Zahlen wären bereits jetzt im roten Bereich, gäbe es da
nicht ein Dutzend liberaler Gemeinden in Deutschland, die sich zu zwei
Landesverbänden in Schleswig-Holstein und Niedersachsen zusammengeschlossen
haben - Gemeinden, die noch gestern als "Feinde" des orthodox
gesinnten Zentralrats der Juden in Deutschland (ZJD) galten.
Das hat einen tiefen symbolischen Sinn, denn der Eintritt
der Liberalen unter das Dach des ZJD war das zentrale Ereignis des jüdischen
Gemeindelebens 2006. Damit wurde in diesem Land ein weiterer langjähriger
"innerjüdischer Krieg" beendet: Der Kampf der Union der
progressiven Juden um offizielle Anerkennung in ihrem Ursprungsland. Diese
Situation ist dabei allzu typisch für den Alleinvertretungsanspruch
des Zentralrats: Zuerst wird die Realität bedenkenlos ignoriert,
dann eine Niederlage kassiert oder die Zähmung hingenommen und schließlich
der gestrige Gegner für die heutigen propagandistischen Ziele vereinnahmt.
Ein weiteres Ereignis ist für diese Statistik weniger
von Bedeutung: Von der Einheitsgemeinde in Hannover trennten sich 150
Menschen und schlossen sich zu einer sefardisch-bucharischen Gemeinde
zusammen. Dies bedeutet, dass sich die Desintegrationsprozesse 2006 zwar
verlangsamt haben, aber nicht zum Stillstand gekommen sind.
Wenn man das bekannte Sprichwort umformuliert, dann könnte
man diese Jahresstatistik als einen Tropfen Freude im Wehmutsbecher bezeichnen.
Einerseits gibt es in den jüdischen Gemeinden in Deutschland 107.794
Mitglieder, das sind 177 mehr als im Jahre 2005. Andererseits, wenn da
nicht die jungen liberalen jüdischen Gemeinden wären - ein Teil
von deren Mitgliedern wurde möglicherweise bei der Gemeindestatistik
doppelt geführt - dann gäbe es mehr Abgänge als Zugänge
mit einem Minus von 1.740 Menschen. Seit 1991 war die Mitgliederstatistik
stets positiv: Die Zahl der Zugänge belief sich seit damals niemals
auf weniger als 2.000 Menschen pro Jahr.
Makel der Statistik
Die Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden beruht
auf drei Säulen: Der demografischen Entwicklung (natürliche
Bevölkerungsdynamik), der Migration (mechanische Bevölkerungsdynamik)
und der geistigen Dynamik (religiöse Anziehungskraft des Judentums).
Was die demografische Situation angeht, so gab es 2006 auf 205 Geburten
1.302 Sterbefälle. Bisher ist das die größte Minuszahl
mit 1.097 Menschen, seit die Immigration aus der ehemaligen UdSSR begonnen
hat. In den Jahren 1990 bis 2006 sind 13.518 Gemeindemitglieder gestorben
und wurden 2.277 geboren.
Die Migration, die unmittelbar mit dem Umzug der Gemeindemitglieder
zusammenhängt, besteht wiederum aus drei verschiedenen Teilen: Der
Einwanderung der Kontingentflüchtlinge (seit 2005: "jüdische
Immigranten") aus der ehemaligen Sowjetunion - dies ist die größte
und zahlenmäßig bedeutendste Migration der letzten 16 Jahre.
Soweit so gut, aber hier taucht der erste Makel in der Statistik auf.
Laut Angaben der ZWST waren es 1.971 Menschen, die sich 2006 entschlossen
haben, aus den GUS-Staaten nach Deutschland umzuziehen. Die Statistik
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge besagt aber, dass
es im letzten Jahr lediglich 1.079 jüdische Immigranten aus der ehemaligen
UdSSR gab - die niedrigste Einwanderungsrate der letzten Jahre. Als wir
die Daten der einzelnen Gemeinden ausgewertet haben, sind wir zu dem Ergebnis
gekommen, dass die meisten der 1.971 Neuzugänge bereits aus dem Jahre
2005 stammen. Das sind Menschen, deren jüdische Abstammung die ZWST
ein ganzes Jahr lang geprüft und dann in die Statistik von 2006 aufgenommen
hatte. Somit haben wir es hier mit einer künstlich "verzögerten"
oder statistisch "hinausgeschobenen" Immigration zu tun. Diese
Zahl wurde zum zweiten Feigenblatt der "positiven" Bilanz der
jüdischen Immigrationsstatistik 2006.
Der zweite Teil bezieht sich auf die Migranten aus allen
restlichen Ländern außerhalb der GUS-Staaten. 2006 waren es
229 halachische Juden, die aus diesen Ländern nach Deutschland migriert
und Mitglieder der jüdischen Gemeinden geworden sind. Ausgewandert
dagegen sind 282 Menschen - eine Minusbilanz von 53 Gemeindemitgliedern.
Was aber die innere Migration angeht, die unmittelbar mit dem Gemeindewechsel
beim Umzug innerhalb des Landes zu tun haben soll, so haben wir es hier
mit ganz anderen Dimensionen zu tun: 701 Zugänge gegen 2.411 Abgänge.
Wir haben eine Differenz von 1.710 Menschen - dreimal soviel wie 2005.
Das ist kein Zufall.
Viele Austritte
Noch deutlicher wird es bei der dritten Statistikgröße
- dem Verhältnis von Eintritt und Austritt aus dem Judentum. 2006
sind 46 Menschen zum Judentum übergetreten, 2005 waren es 61 Eintritte.
Hier ist also keine besondere Dynamik zu sehen. Wenn wir uns aber die
Zahl der Austritte aus der jüdischen Konfession anschauen, dann sind
es 1.084 Renegaten, gegenüber lediglich 308 Menschen, die 2005 ausgetreten
waren. Hier haben wir es wiederum mit einem mehr als dreifachen Anstieg
zu tun! Später werden wir diese Zahlen noch auswerten, aber wir können
bereits jetzt schlussfolgern, dass wir es 2006 mit einem Rückgang
der jüdischen Bevölkerung zu tun haben. Beide Faktoren - der
Neuzugang der Liberalen und die "hinausgeschobene Immigration"
aus den GUS-Staaten - sind einmalig und haben die Statistik von 2006 lediglich
etwas aufgepeppt. Die Auswertung der reellen Zahlen lässt keinen
Zweifel, dass faktisch ein Rückgang der jüdischen Einwanderung
aus der ehemaligen UdSSR vorliegt.
Dieser Rückgang ist aber nicht flächendeckend,
sondern selektiv. Die Geografie der positiven Dynamik der jüdischen
Gemeinden, selbst wenn man zwölf neue liberale Gemeinden nicht berücksichtigt,
ist dabei ziemlich aussagekräftig: Es sind hauptsächlich südliche
und östliche Bundesländer (ohne Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt).
Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens: Neue Immigranten wurden
vorzugsweise dem Osten Deutschlands zugewiesen. Der zweite Grund ist die
besondere Anziehungskraft Baden-Württembergs und Bayerns. Die größte
Wachstumsrate wurde in Brandenburg erfasst (plus 13,8 Prozent), dann folgen
Württemberg (plus 9,8 Prozent), Thüringen (plus 8,9 Prozent),
Sachsen (plus 5,6 Prozent), Baden (plus 4,6 Prozent) sowie Bayern (plus
0,7 Prozent beziehungsweise plus 0,9 Prozent). So ist der größte
Zuwachs in den jüdischen Gemeinden von Baden-Baden und Emmendingen
zu verzeichnen, die einzige Gemeinde in der Region, die mehr Ab- als Zugänge
hat, ist Freiburg (23 Austritte; minus 3,1 Prozent). In Bayern haben sich
die großen Gemeinden von München, Nürnberg und Augsburg
weiterhin vergrößert. Ein geringfügiger Rückgang
wurde in der Würzburger und Bamberger Gemeinde verzeichnet. Der Zuwachs
der Mitgliederzahl der größten jüdischen Gemeinde des
Landes - der Jüdischen Gemeinde zu Berlin - hat sich verlangsamt,
wobei sie mit ihrer Attraktivität für die innerdeutsche Wanderung
konstant geblieben ist. Ein Rückgang der Mitgliederzahlen ist in
den nördlichen und westlichen Regionen Deutschlands zu verzeichnen:
Hamburg und Köln (minus 2,7 Prozent) sowie Westfalen (minus 1,4 Prozent).
In anderen Regionen sind keine bedeutenden Veränderungen der Mitgliederzahlen
zu verzeichnen, wobei auch dort die Entwicklung eher stagnierte. Die Daten
aus Dessau und Magdeburg sind eher unzuverlässig: Hier wurden entweder
nur Zugänge aus der ehemaligen UdSSR erfasst (in Dessau) oder nur
Abgänge (in Magdeburg). Es ist anzunehmen, dass die Statistik hier
nicht geführt wurde und bei den Erhebungen lediglich die Mitgliederlisten
verglichen wurden.
Sonderfall Hamburg
Ich habe oben mit Absicht die Hamburger Gemeinde außer
Acht gelassen, denn die Situation dort ist einmalig. Anfang 2006 gab es
dort noch 5.125 Gemeindemitglieder, ein paar Monate später 3.086,
das sind 2.039 Menschen weniger! In einem Jahr sank die Mitgliederzahl
in einer der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands
um 39,8 Prozent! Dieser fast 40-prozentige Abbau in Hamburg ist beinahe
die wichtigste Statistiksensation des Jahres.
Aber anstatt zu nörgeln, sollten wir die Situation
lieber analysieren. Die meisten Abgänge sind Übertritte in andere
Gemeinden (1.253 Mitglieder) beziehungsweise Austritte aus dem Judentum
(677 Mitglieder). Diese "anderen" Gemeinden sind anhand der
Statistik von 2006 nicht zu finden, aber sie tauchen in der Statistik
des Vorjahres auf. Genau in dem Jahr sonderte sich nach einem langjährigen
Kampf der Landesverband Schleswig-Holstein von der Hamburger Gemeinde
ab.
Mehr Sorgen sollten die Austritte aus dem Judentum bereiten:
Es waren 677 Menschen, die in nur einem Jahr die Hamburger Gemeinde verlassen
haben. Diese Zahl ist die eigentliche Sensation der Mitgliederstatistik.
Es könnte angenommen werden, dass es sich auch um Übertritte
der Liberalen aus Schleswig-Holstein und Hamburg handelt, die früher,
wenigstens zum Teil, bei der Hamburger Gemeinde aufgelistet waren. Aber
warum tauchen sie dann nicht in der Spalte der "Abgängen in
die anderen Gemeinden" auf? Ist denn der Übergang in eine liberale
Gemeinde für die ZWST gleichbedeutend mit dem Austritt aus dem Judentum?
Wenn man dieser Statistik folgt, dann kommen zwei Drittel der jüdischen
Renegaten aus Hamburg. Es gibt natürlich sowohl in Hamburg als auch
in ganz Deutschland echte Austrittler oder Konvertiten, die aufgrund ihrer
Einstellung in andere Religionen oder Sekten übergetreten sind. Hier
sind Missionar-Baptisten und die Organisation "Jews For Jesus"
besonders aktiv und erfolgreich.
Es gibt auch jene, die sich beim Austritt aus dem Judentum
nicht gegen die jüdische Religion und schon gar nicht gegen das jüdische
Volk, sondern gegen bestimmte Gemeinden mit bestimmten Vorständen
entschieden haben. Aufgrund all des Ärgers und all der Skandale,
mit denen sie im Laufe der Jahre in der Gemeinde konfrontiert wurden,
haben sich diese Menschen vom Gemeindeleben distanziert. Wenn noch persönliche
Kränkungen und ungerechte Behandlung seitens der Gemeinde hinzukommen,
dann sind Austritte vorprogrammiert. Es gibt unter Juden aber auch "besonders
vorsichtige" Menschen, die Angst haben, Briefe mit jüdischen
Symbolen zu bekommen.
Aber ich denke, der Hauptgrund der Abgänge ist der
wirtschaftliche Faktor. Es sind viele neue Mitglieder ausgetreten, die
früher bereit waren, die jüdische Gemeinde zu unterstützen,
als dies noch mit geringen Mitgliedsgebühren beziehungsweise Spenden
verbunden war. Sie waren bereit, die bescheidene Gemeindesteuer zu zahlen,
haben darin ihren finanziellen Tribut an das Judentum gesehen und gingen
davon aus, dass ihre passive Mitgliedschaft auch nicht mehr wert ist.
Sie sind aber nicht bereit, die reguläre Kirchensteuer zu bezahlen.
Dies wäre für sie sowohl psychologisch als auch wirtschaftlich
gesehen zuviel. Zumal sie eventuell auch für mehrere Jahre nachzahlen
müssten. Zum größten Teil sind diese Menschen nicht besonders
wohlhabend, oft arbeitslos und zudem nicht sonderlich religiös, für
sie sind diese Steuern oder das Kultusgeld zu hoch. Viele von ihnen haben
womöglich nicht gewusst, dass es rechtswidrig ist, Mitglied einer
konfessionellen Körperschaft des öffentlichen Rechtes zu sein
und keine Körperschaftssteuer zu zahlen.
Austritt als Lösung
Die einfachste Lösung des Problems ist hierbei der
Austritt aus dem Judentum, dem Übergang von der Säkularisierung
"de facto" zur Säkularisierung "de jure". Diejenigen,
die Kirchensteuer zahlen müssen, melden sich beim Umzug aus der jüdischen
Gemeinde ab, melden sich aber am neuen Wohnort nicht mehr an. Statistisch
gesehen, haben wir es hier mit einem Phänomen des "Dammbruchs"
zu tun, das in der Zukunft für den jüdischen Gemeindeaufbau
in Deutschland die gleichen negativen Auswirkungen haben wird, wie die
katastrophale Bilanz zwischen Geburten und Todesfällen. Es ist traurig,
aber auch symptomatisch, dass gerade Selbständige und wirtschaftlich
aktive Mitglieder die Gemeinden verlassen. Damit ergänzen sie die
Mehrheit der postsowjetischen Juden, die von Anfang an kein Willkommen
und keinen Zugang zu jüdischen Gemeinden gefunden haben und sowohl
vom Zentralrat als auch von der ZWST nie beachtet wurden und wohl auch
in Zukunft nicht beachtet werden werden.
Mit dem jüngsten Wirtschaftsaufschwung in Deutschland
ist zu erwarten, dass auch immer mehr Gemeindemitglieder, die zur Zeit
noch arbeitslos sind, wieder Jobs finden werden, was paradoxerweise die
Austrittswelle nur vorantreibt. Dieser und andere Trends wären dringend
zu erforschen, nur ist der Geist der Wissenschaft bei jüdischen Politikern
ein zu seltener Gast.
Pavel Polian, 1952 in Moskau geboren, ist Bevölkerungsgeograph,
Zeithistoriker und Philologe.
"Jüdische Zeitung", August 2007
www.j-zeit.de
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