Erbe und Auftrag
Zehn Jahre Union progressiver Juden in Deutschland
von Jan Mühlstein
Am Freitag, den 27. Juni 1997, kamen bei der Liberalen
Jüdischen Gemeinde München Beth Shalom Vertreter von zehn liberalen
jüdischen Gemeinden aus dem deutschsprachigen Raum zusammen, um durch
ihre Unterschrift unter die Satzung die Gründung der Union progressiver
Juden feierlich zu besiegeln. Für mich persönlich war an diesem
Schabbat, dem 23. Sivan 5757, der Samstag wichtiger: Im Morgengottesdienst
feierte meine älteste Tochter ihre Bat Mizwa. Zwischen beiden Ereignissen
gibt es allerdings enge Verbindungen. Schon die erste Verbindung war sowohl
praktischer als auch symbolischer Art: Beide Zeremonien waren in die feierliche
Amtseinführung von Rabbiner Walter Homolka eingebettet, der am 2.
Juni seine Ordination erhalten hatte und nun als Rabbiner unserer Gemeinde
begrüßt wurde. Die zweite Beziehung ist noch komplexer. Meinen
drei Kindern ein Gemeindeleben in der Tradition des liberalen Judentums
zu ermöglichen, war die Hauptmotivation für mich gewesen, als
ich einige Jahre zuvor mitgeholfen hatte, Beth Shalom zu gründen.
Und auch die anderen, die in den 90er Jahren in München oder zum
Beispiel in Wien, Hannover, Hameln, Köln und Kassel liberale Jüdische
Gemeinden aufgebaut haben, dachten dabei kaum an "Politik".
Wir wollten unser Judentum so leben, wie es einige von uns aus den Erzählungen
unserer Eltern und Großeltern kannten oder wie es andere aus den
Synagogen ihrer angelsächsischen Heimat gewohnt waren: die jüdische
Tradition auf die Zukunft ausgerichtet, den ethischen Grundsätzen
des Judentums verpflichtet, zu denen die Gleichberechtigung und die Gleichwertigkeit
aller Menschen zählen, auf Integration orientiert.
Für eine solche liberale jüdische Religiosität
gab es damals in den meisten jüdischen "Einheitsgemeinden"
in Deutschland aber keinen Platz, so dass wir eigene Gemeindestrukturen
aufbauen mussten. Die liberalen Gemeinden entstanden "von unten",
durch eigene Initiative ihrer Mitglieder und von ihrem - auch finanziellen
- Engagement getragen. Auch dies, neben der progressiven religiösen
Ausrichtung, machte sie für immer mehr Jüdinnen und Juden attraktiv.
Für diejenigen, denen die orthodox ausgerichteten "Einheitsgemeinden"
keine religiöse Heimat bieten konnten oder wollten, für diejenigen,
die einen neuen Zugang zum Judentum suchten, und nicht zuletzt für
Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion.
Die Geschichte des liberalen Judentums begann 1801 in
Deutschland mit Israel Jacobsons Knabenschule in Seesen. Die Suche nach
einer jüdischen Frömmigkeit im Einklang mit dem Lebensgefühl
jenseits aller Ghettomauern setzten Leopold Zunz und Abraham Geiger mit
der "Wissenschaft des Judentums", Zacharias Frankel mit der
"historisch-positiven Schule" sowie Samuel Holdheim mit seiner
Berliner Reformgemeinde fort. Das liberale und das mit ihm eng verwandte
konservative Judentum wurden zur prägenden und auch stärksten
Kraft der jüdischen Gemeinschaft und führten zu einer Blüte
der jüdischen Gelehrsamkeit, für die beispielhaft Hermann Cohen,
Ismar Elbogen und Leo Baeck stehen. Mit dem Mord an den europäischen
Juden durch die Nazis gingen in West- und Mitteleuropa auch das liberale
Judentum, seine Gemeinden und Institutionen unter. Diejenigen, die sich
noch durch Flucht retten konnten oder die Lager überlebt hatten,
trafen aber mit ihren Ideen des liberalen Judentums in ihrer neuen Heimat
auf blühende liberale Gemeinden, die sich unter dem Einfluß
Deutschlands überall gebildet hatten und zur bestimmenden Kraft geworden
waren. Dort, vor allem in Nord- und Lateinamerika, Großbritannien,
aber auch in Israel wuchs das Reformjudentum zu einer neuen Stärke
heran.
An die so erhaltene Tradition konnten die neuen liberalen
Gemeinden in Deutschland vor zehn Jahren wieder anknüpfen: als Basisbewegung
verbanden wir uns mit dem weltweiten liberalen Judentum, das nicht mehr
daran geglaubt hatte, es könne in Deutschland jemals wieder liberales
jüdisches Leben geben.
Die organisatorische Anbindung an die "World Union
for Progressive Judaism" (Weltunion für progressives Judentum)
hat die deutsche Union progressiver Juden erfolgreich gemeistert: Die
deutsche liberale Bewegung ist inzwischen ein geachteter, aktiver Teil
dieser weltweit größten jüdischen religiösen Organisation,
die 1.200 jüdische Gemeinden mit 1,7 Millionen Mitgliedern in 42
Ländern umfasst. So gehören dem Exekutivkomitee, dem Führungsorgan
des liberalen Judentums auf der ganzen Welt, mit Rabbiner Professor Walter
Homolka und der Rabbinerstudentin Lea Mühlstein sogar zwei Repräsentanten
aus Deutschland an. Katarina Seidler aus Hannover ist Vizepräsidentin
der Europäischen Sektion der Weltunion, Rachel Dohme aus Hameln gehört
dem Europavorstand an.
Die ideelle Unterstützung der Weltunion gibt der
Union progressiver Juden in ihrer Tä-tig-keit als religiöse
Arbeitsgemeinschaft klare Gestalt und Form. Dazu zählen bis heute
Besuche von Rabbinern aus den USA, Groß-britannien, Israel und den
Niederlanden oder die Bereitstellung religiöser Texte, die unter
anderem die so wichtige Publikation des liberalen jüdischen Gebetbuches
"Seder HaTefilot" in Hebräisch und Deutsch ermöglichte.
Die Unterstützung von Persönlichkeiten aus der Weltunion, an
der Spitze der in Augsburg geborene US-Rabbiner Professor Walter Jacob,
ermöglichte 1999 die Gründung des Abraham Geiger Kollegs in
Potsdam, des ersten kontinentaleuropäischen Rabbinerseminars nach
der Schoa. Die Rabbinerordination seiner ersten drei Absolventen am 13.
und 14. September 2006 in Dresden war ein wahrhaft historisches Ereignis.
Zur Stärkung der Union progressiver Juden tragen ihre erfolgreiche
Jugendarbeit sowie die Aktivitäten von "Jung und Jüdisch",
der bundesweiten Vereinigung junger Erwachsener, entschieden bei. Für
die Anbindung an die progressive zionistische Bewegung sorgt die 2005
gegründete Organisation "Arzenu Deutschland".
Ihr klares Profil und die überzeugende Gemeindearbeit
verhalfen der Union progressiver Juden allmählich zur Anerkennung
in der Gesellschaft, der Politik und in der jüdischen Gemeinschaft,
wenn auch nach anfänglich heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen.
Die rechtliche Gleichstellung der Unionsgemeinden mit denen des Zentralrats
ist durch ein von der Synagogengemeinde Halle erstrittenes Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts gesichert, das auch vom Bundesverfassungsgericht
bestätigt wurde. Es billigt jüdischen Gemeinden, die der Union
progressiver Juden angehören und dadurch Anerkennung in der weltweiten
jüdischen Gemeinschaft genießen, eine Beteiligung an den Staatsverträgen
in den deutschen Bundesländern. Während in Hamburg der Mitte
Juni unterzeichnete Staatsvertrag diese Rechtslage berücksichtigt,
musste Gescher LaMassoret, die Jüdische liberale Gemeinde in Köln,
dazu erneut die Gerichte anrufen und bekam nun kürzlich Recht. Es
ist zu hoffen, dass der Zentralrat seinen Mitgliedern nun die klare Empfehlung
gibt, die Rechtslage nicht mehr zu ignorieren und alle Unionsgemeinden
in die Förderung der Länder-Staatsverträge einzubeziehen.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland selbst hat sich
zwischenzeitlich zu der Erkenntnis durchgerungen, dass eine (politische)
Einheit der jüdischen Gemeinschaft nur dann erreicht werden kann,
wenn ihre innere Pluralität akzeptiert wird. Im Herbst 2005 sind
Landesverbände aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein, deren Mitgliedsgemeinden
mehrheitlich auch der Union progressiver Juden angehören, in den
Zentralrat aufgenommen worden. Allerdings muss noch für acht der
inzwischen über 20 Mitgliedsgemeinden der Union progressiver Juden,
die keinem Landesverband angehören, eine Lösung gefunden werden,
um auch sie in den Zentralrat zu integrieren. Der Zentralrat gewährt
inzwischen eine finanzielle Unterstützung für die Jugendarbeit
der Union progressiver Juden und für das Abraham Geiger Kolleg. Diese
Förderung muss allerdings erweitert und verstetigt werden, denn mit
begrenzter Projektförderung allein können die Liberalen ihre
überregionalen Aufgaben nicht ausreichend wahrnehmen. Wir gehen aber
davon aus, dass diese offenen Fragen in vertrauensvollen Gesprächen
mit dem Zentralrat geklärt werden, bevor die Bundesregierung über
die Anpassung des Staatsvertrags zwischen der Bundesrepublik und dem Zentralrat
ab 2008 entscheidet.
Die Union progressiver Juden in Deutschland hat alle Gründe,
ihren zehnten Geburtstag mit Stolz und Freude am 12. Juli zusammen mit
Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble mit einer Festveranstaltung
im Centrum Judaicum in Berlin zu feiern, also unter der goldenen Kuppel,
die bis heute ein Symbol des liberalen deutschen Judentums ist. An diesem
Tag werden auch Rabbiner Henry G. Brandt, Ernst Ludwig Ehrlich und Landesrabbiner
William Wolff für ihre Verdienste um das liberale Judentum in Deutschland
mit dem Israel-Jacobson-Preis ausgezeichnet werden. Wir können auf
große Fortschritte zurückblicken. Die Aktiven in den Unionsgemeinden
und -gremien werden allerdings auch in den nächsten Jahren nicht
über Mangel an Arbeit und weiteren Herausforderungen klagen können.
Jan Mühlstein ist Vorsitzender der Union progressiver
Juden in Deutschland.
Überblick
Zehn Jahre Judentum im Aufbruch.
Die "Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich
und der Schweiz" (UPJ) wird im Juni 1997 als Arbeitsgemeinschaft
liberaler und konservativer jüdischer Gemeinden im deutschsprachigen
Raum unter dem Namen gegründet, um unter anderem die progressiven
Gemeinden und Chawurot im deutschen Sprachraum als religiöse Gemeinschaft
nach außen zu vertreten, die grundlegenden Lehren des Judentums
zu schützen und die Beschäftigung mit der jüdischen Tradition
im Einklang mit der Moderne zu fördern. Kurz danach, am 30. Oktober
1997, findet mit der "European Region Conference" der Weltunion
für Progressives Judentum im München die erste bedeutende Zusammenkunft
der WUPJ in Nachkriegsdeutschland statt. Der damalige Präsident des
Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, lehnt seine Teilnahme
an dieser Tagung ab. 1999 stellt Münchens Oberbürgermeister
Christian Ude die Verwurzelung des liberalen Judentums in der jüdischen
Tradition öffentlich in Abrede.
Am 27. Januar 2001 unterzeichnen die Bundesregierung und
der Zentralrat der Juden in Deutschland einen Staatsvertrag, der den Erhalt
und die Pflege des jüdischen Lebens in Deutschland regelt. Der Zentralrat
der Juden in Deutschland erhält damit jährlich drei Millionen
Euro zur Förderung seiner kulturellen und sozialen Arbeit. Die UPJ
bleibt davon ausgeschlossen. Am 28. Februar 2002 stellt das Bundesverwaltungsgericht
in Berlin diese Vertragsauslegung in Frage, indem es von einem "pluralen
Verständnis" des Begriffes "Jüdische Gemeinschaft"
ausgeht (BVerwG 7C7.01).
Am 10. Juli 2002 feiert die WUPJ den 75. Jahrestag ihrer
ersten internationalen Tagung, die 1928 in Berlin stattfand, zusammen
mit Bundesinnenminister Otto Schily im Jüdischen Gemeindehaus in
Berlin. Am 11. November 2004 entscheidet das Landesverwaltungsgericht
von Sachsen-Anhalt, dass die liberale Synagogengemeinde zu Halle berechtigt
ist, einen Anteil der Landesmittel zu Gunsten der jüdischen Gemeinschaft
in Sachsen-Anhalt zu erhalten. Im Mai 2005 besucht die WUPJ-Präsidentin
Ruth Cohen Deutschland, um politische Gespräche zu führen. Am
19. August 2005 trifft sie auf Vermittlung von Bundesinnenminister Schily
in Köln Zentralratspräsident Paul Spiegel. Am 20. November 2005
nimmt der Zentralrat der Juden in Deutschland zwei liberale Landesverbände
als Mitglieder auf. Am 19. März 2006 kommt die WUPJ-Führung
in Berlin mit der Spitze des Zentralrats zusammen, am 4. April 2006 mit
Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Am 20. März 2006 schließt das Land Sachsen-Anhalt
in seinen Staatsvertrag mit der jüdischen Gemeinschaft auch die liberale
Synagogengemeinde zu Halle ein und bereitet so den Weg für eine Überarbeitung
der Förderpolitik auch in anderen Bundesländern. Derzeit gehören
der "Union progressiver Juden in Deutschland" 20 liberale jüdische
Gemeinden, das Abraham Geiger Kolleg, die Vereinigung "Jung und Jüdisch
Deutschland" sowie der Bund progressiver Zionisten, "Arzenu
Deutschland" als Mitglieder an.
"Jüdische Zeitung", Juli 2007
www.j-zeit.de
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