Die Jerusalemfrage
von Shlomo Avineri

Bei den Bemühungen, eine israelisch-palästinensische Einigung zu erzielen, ist die Jerusalemfrage zweifelsohne die härteste Nuss, die es zu knacken gilt. Zu den Ideen, die im Vorfeld der Nahostkonferenz vom November wieder auftauchen, gehört der Vorschlag, das "heilige Becken" von Jerusalem von jeder israelischen oder palästinensischen Souveränität auszuklammern und die Kontrolle den Vertretern der drei monotheistischen Religionen zu überlassen. Die Souveränität werde, so heisst es, "in Gottes Hand" liegen.

Die Verzweiflung all jener, die eine Lösung für Jerusalem anstreben, erscheint verständlich, doch dieser Vorschlag ist weit davon entfernt, eine Antwort auf das Problem zu liefern. Der Hauptgrund für die Zweifel in dieser Hinsicht ist die Tatsache, dass das internationale System zumindest seit dem Westfälischen Frieden von 1648 auf dem Prinzip der territorialen Souveränität fusst. Dieser Grundsatz deponiert nicht nur die oberste Kompetenz über ein Territorium in die Hand einer einzigen Einheit - des herrschenden Staats -, sondern verleiht ihm auch die Verantwortung zur Durchsetzung dieser Kompetenz mit allen damit verbundenen Konsequenzen.

Es ist kein Zufall, dass kein territorialer oder internationaler Konflikt je dadurch gelöst worden ist, dass die Souveränität supranationalen Einheiten übergeben worden wäre, oder dadurch, dass die Sache nicht geklärt worden wäre. Überall, wo man derartige Versuche gestartet hat, sind sie misslungen. Es gibt keine bevölkerte Region ohne eine souveräne Autorität, beantwortet doch die Frage nach der Souveränität auch die Frage nach der Körperschaft, die berechtigt ist, Gewalt anzuwenden. Als Erstes müssen wir verstehen, dass "Gottes Souveränität" nicht in die Tat umgesetzt werden kann: Der Herr des Universums mag wohl der Souverän aller Geschöpfe sein, doch bisher ist es ihm nicht gelungen, irgendeine effiziente Militär- oder Polizeitruppe aufzustellen, die in der Lage gewesen wäre, seine Autorität auf Erden durchzusetzen. Zweitens verfügt keine der drei monotheistischen Religionen über ein einziges legitimiertes Gremium, das befugt wäre, im Namen aller Anhänger des Glaubensbekenntnisses zu sprechen. Es gibt keinen weltweit autorisierten christlichen Repräsentanten. Der Vatikan vertritt nur die Katholiken. Wir können nicht davon ausgehen, dass die verschiedenen orthodoxen Kirchen oder die Protestanten mit dem Vatikan als Vertreter des Christentums einverstanden wären, geschweige denn, dass sie gewillt wären, sich alle zu vereinigen. Wer sehen will, wie es "den Christen" gelingt, irgendetwas gemeinsam zu tun, der verfolge die Zustände in der Grabeskirche zu Jerusalem. Nur die Polizei (heute die israelische, früher die jordanische, britische und osmanische) konnte und kann Generation von Katholiken, Orthodoxen, Kopten und Äthiopiern davon abhalten, sich die Köpfe blutig zu schlagen. Gleiches gilt für den Islam: Zu einer Zeit, da sich in Irak Schiiten und Sunniten gegenseitig abschlachten und die Sunniten die heiligsten Moscheen der Schiiten in Karbala und Samarra in die Luft jagen und umgekehrt, kann man sich nur schwer eine panislamische Körperschaft vorstellen, welche die Verantwortung für alle übernehmen könnte. Selbstverständlich gibt es auch im Judentum kein internationales, von allen Teilen akzeptiertes Gremium. Logischerweise könnte das Oberrabbinat, eine israelische Einheit, auch nicht alle Juden repräsentieren. Hinzu kommt, dass radikale religiöse Gruppen, sowohl jüdische als auch muslimische, das Haupthindernis für einen Frieden sind. Wer die sensibelsten Stätten der Religionen in ihre Hand gibt, der provoziert nur Katastrophen.

Jede Lösung der Jerusalemfrage muss eindeutige Antworten auf Dutzende von praktischen Fragen offerieren, wie etwa, wer dafür verantwortlich zeichnet, dass jüdische Extremisten nicht auf den Tempelplatz eindringen, oder dafür, dass Muslime, die jüdische Betende an der Westmauer mit Steinen bewerfen, auseinandergetrieben werden. Für die heiligen Stätten von Jerusalem bedarf es einer kreativen Lösung. Dies wiederum bedingt, dass die Kontrolle in die Hände von jemandem gelegt wird, der imstande ist, Abkommen einzuhalten. Es gibt zahlreiche Varianten für eine gemeinsame israelisch-palästinensische Kontrolle (vielleicht kombiniert mit jordanischen und saudiarabischen Elementen). Die Sache hingegen religiösen Einheiten zu übertragen, ist kein Bestandteil der Lösung, sondern würde im Gegenteil das Problem nur noch verschärfen.

Shlomo Avineri ist Politologe und Historiker und ehemaliger Generaldirektor des israelischen Aussenministeriums.

aus: tachles, Das jüdische Wochenmagazin, 21. 9. 2007

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